Trainer kämpft um seinen Ruf Finsterste Dunkelheit umhüllt Julian Nagelsmann
26.11.2023, 07:32 Uhr
Julian Nagelsmann steht nach vier Länderspielen bereits in der Kritik.
(Foto: dpa)
Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft verabschiedet sich mit zwei schlechten Leistungen in eine lange Pause. Besonders für Bundestrainer Julian Nagelsmann ist das ganz bitter. Um ihn herum entbrennen wilde Diskussionen. Und er kann nichts dagegen tun.
Es werden lange, sehr lange Monate für den Bundestrainer Julian Nagelsmann. Und er kann nicht anders, als im Verteidigungsmodus zu verharren. Bis in den März hinein kann der 36-Jährige sich keine Argumente erarbeiten, die der frustrierten Fußball-Nation neue Hoffnung schenken. Erst dann geht es wieder auf den Platz, erst dann kann der Glaube an das Sommermärchen neu entfacht werden. Bis dahin werden ihm die Diskussionen um die Ohren fliegen. Ist er der richtige Mann? Überfordert er seine Mannschaft? Erreicht er sie noch?
Ja, tatsächlich. Auch dieses Kabinen-Thema geistert schon wieder umher. Wie es einst zum Ende seiner Zeit beim FC Bayern übergroß wurde. Der Trainer und die Kabine, das ist eine schöne neue journalistische Erzählung. Sie wird fast immer herangezogen, wenn es irgendwo kriselt. So nun weiter bei der Nationalmannschaft. Sie steckt so tief im Schacht, dass man längst den Überblick verloren hat, ob der tiefste Tiefpunkt erreicht ist. Ober ob sich die kumpelhafte Schicksalsgemeinschaft dem Tageslicht schon wieder genähert hat.
"Planlos, hilflos und ideenlos"
Kaum waren die erschreckend schwachen Spiele gegen die Türkei (2:3) und Österreich (0:2) abgearbeitet - sie hatten unter anderem Bayern-Patriarch Uli Hoeneß fassungs- und ratlos zurückgelassen - und sich der Fokus wieder auf die Bundesliga gerichtet, feuerten die Kritiker direkt wieder aus allen Rohren. Der daueraktive Chef der Bande, Dietmar Hamann, wetterte: "Im Moment stehen wir im Nirgendwo. Ich war am Dienstag in Wien und das war erschütternd. Erschreckend, wie planlos, hilflos und ideenlos die deutsche Mannschaft war." Schuld daran sei auch Nagelsmann. "Du kannst gegen eine gute österreichische Mannschaft nicht mit drei Verteidigern und sieben Offensiven spielen", befand Hamann. "Was mir Sorge macht, ist, dass der Bundestrainer sechs oder sieben Spiele vor der EM hatte und vier sind vorbei. Nach diesen vier Spielen weiß er weniger als zuvor. Sachen zu probieren, bringt nur etwas, wenn es funktioniert. Aktuell wissen wir nur, dass nichts funktioniert."
Im Oktober noch, da hatte man das Gefühl, dass es wieder hell werden könnte um dieses Team, dass seit der WM 2018 im Dunkel steht und sich nur manchmal kurz die Nässe vom Körper schütteln kann. Aber von einer längeren Trockenphase ist diese Mannschaft so weit entfernt wie die Nation Deutschland von kollektiver Zufriedenheit. Und so bekommt Nagelsmann dieses Schwarz und Weiß der Bewertung schneller zu spüren, als er seine taktische Herangehensweise mit dem links verteidigenden Halbzehner Kai Havertz erklären konnte.
Ein Referat, das kaum einer versteht
Wobei, was heißt hier eigentlich schnell? Nagelsmann verlor sich nach der Pleite gegen die Türkei in ein langes Referat, was er mit seinem Experiment eigentlich bezwecken wollte. Auf seinem Weg dorthin verlor er viele Zuhörer. Und ob es tatsächlich jemand ins Detail verstanden hat? Fraglich, aber auch egal. Wichtig ist ja nur, dass die Spieler kapieren, was der Trainer von ihnen will. Hat das geklappt? Man weiß es natürlich nicht. Aber aus der Mannschaft war zu hören, dass der Coach sie nicht überfordere. Mats Hummels sagte das etwa.
Diejenigen, die ganz nah am Team sind, berichten, dass sich die Nationalspieler mehr defensive Akteure auf dem Feld wünschen würden. Die Balance zwischen Feingeistern und "Workern", wie der Bundestrainer sie nannte, stimmte nicht. Auf dem Feld wurde das nur allzu offensichtlich. Seine Kritik an den Abwehrfähigkeiten ("Sind keine Verteidigungsmonster) kam intern nicht gut an, hieß es. Einige Spieler sollen sich wünschen, dass der Trainer seine komplexen Ideen zugunsten eines pragmatischeren Ansatzes verwirft.
Eine mögliche Überforderung der Mannschaft, das war als großes Risiko identifiziert worden, als die ersten Gerüchte aufgekommen waren, dass Nagelsmann der Nachfolger des immer ratloser wirkenden Hansi Flick geworden war. Der Coach war immer dann besonders gut, wenn er viel Zeit hatte, junge Mannschaften und junge Spieler zu entwickeln. In der täglichen Arbeit. Doch die hat er beim DFB nicht. Die Lehrgänge sind selten und kurz. Große Varianten einzuüben, ist kaum möglich. Nach der mäßigen Leistung gegen die Türkei und der desolaten gegen Österreich holte ihn diese Diskussion wieder ein. Er selbst wehrt sich nach Kräften dagegen. Spricht von einem einfachen Ansatz. Doch wie er sich und seinen Plan erklärt, wirkt gegenteilig, phasenweise abgehoben. Nicht nahbar, kaum verständlich.
Die Experimentierwut im deutschen Fußball war ein großes Thema in diesem Jahr. Zu groß für Flick, der flog im September. Mit Blick auf die Heim-EM sollte alles auf Hierarchie, Stabilität und Routinen ausgerichtet sein. Doch keine Spur davon. Auch Nagelsmann probiert und probiert. Dabei schien doch nach seiner Mut machenden Premieren-Reise mit der Nationalmannschaft in die USA mit den Spielen gegen die Amerikaner und Mexiko die Phase des Probierens vorbei und die Phase der Konsolidierung erreicht. Pustekuchen.
Die Last von Rudi Völlers Blitz-Comeback
Und als wäre die Hypothek nach diesem Länderspieljahr nicht groß genug, war da noch der Blitz-Auftritt von Rudi Völler als Ein-Spiel-Bundestrainer. Ausgerechnet gegen Frankreich gab es einen Sieg. Gegen dieses Ensemble, gespickt mit Weltklasse, das allerdings nicht reichlich motivierte wirkte. Aber egal, Haken dran. Es war ein Spiel, das die Gefühle weckte: Es geht doch. Einfach und leidenschaftlich ging es zur Sache. Fußball war plötzlich keine Wissenschaft, sondern ein mitreißendes Spiel. Und Völler ein Kandidat für mehr. Auch wenn er höflich ablehnte.
Für Nagelsmann ist das ein Brett, das er auf die Schulter genagelt bekam und nun mit sich herumschleppt. Für ihn geht es nicht nur um den Zustand der Nationalmannschaft, sondern auch um den eigenen Ruf. Über die Stationen 1899 Hoffenheim und RB Leipzig hatte er sich den Status erarbeitet, einer der spannendsten Trainer in Europa zu sein. Die Welt schien ihm offenzustehen. Sein Weg führte mit einer Rekordablöse zum FC Bayern. Fünf Jahre hätte er dort bleiben sollen. Die Klubbosse waren völlig vernarrt in die Idee, endlich wieder einen Mann für eine Ära verpflichtet zu haben. Der letzte war Josep Guardiola gewesen, ehe er sich freiwillig zurückzog.
Ob sich Geschichte wiederholt?
Doch die Zeit in München endete in einem Scheitern nach weniger als zwei Jahren. Sportlich war es solide, aber nicht brillant. Doch das wurde ihm weniger zum Verhängnis als die Stimmung im Klub, die nach der vergeigten WM in Katar immer unkontrollierbarer geworden war. Im Sommer zogen Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge die Notbremse. Mischten sich aus der Rente ins operative Geschäft ein und feuerten Oliver Kahn und Hasan Salihamidžić. Nagelsmann war da schon längst weg, von den nervösen Chefs vor die Tür gesetzt worden. Eine Entscheidung, die bei Rettungs-Rentnern bis heute nicht gut ankommt. Auch wenn man mit dessen Nachfolger Thomas Tuchel sehr gut leben kann, trotz eines sommerlichen Dissens in der Transferpolitik.
Nur droht ein zweites Projekt mit Nagelsmann nicht mit dem Ergebnis zu enden, das definiert worden war. In diesem Fall: ein zweites Sommermärchen. Noch ist Zeit, klar. Immer wieder wird nur das 1:4 gegen Italien 2006 ausgepackt. Jürgen Klinsmann und seine Mannschaft wurden in der Luft zerrissen, wenige Wochen vor der Heim-WM war alles schrecklich. Das führte sogar dazu, dass einige Bundestagsabgeordnete den Bundes-Jürgen vor den Sportschuss des Bundestags zitieren wollten. Es wurde anders. Ob sich Geschichte wiederholt?
Der Glaube daran, er glimmt nun noch auf kleiner Flamme. Der DFB-Elf winkt ein nächstes Desaster, der Gewöhnungseffekt tritt ein. Nagelsmann dagegen dürfte auf der Karriereleiter einige Stufen hinabpurzeln. Der einst aufregendste Trainer Europas wäre entzaubert. Bis März kann er nichts dagegen tun. Vielleicht sollte er sich bis dahin in einen dunklen Schacht verkriechen, dann kann er wenigstens nicht hineinfallen. Bis zum Frühling regiert die Finsternis.
Quelle: ntv.de