
Beim Spiel zwischen dem 1. FC Heidenheim und dem FC Chelsea treffen Welten aufeinander. Es kann nur einen Sieger geben. Den milliardenschweren Klub aus der Premier League. So kommt es auch. Einmal aber geht eine Tür auf. Dahinter zeigen sich 20 Jahre Fußballgeschichte.
Adrian Beck steckte den Ball durch auf Paul Wanner. Der vom FC Bayern ausgeliehene Jungstar des 1. FC Heidenheim steht frei vor Chelsea-Torhüter Filip Jörgensen. "Die glauben dran", schreit RTL-Kommentator Corni Küpper, auf der Tribüne der Voith-Arena bereiten sich alle auf den historischen Treffer vor. Der Ball wird im Netz zappeln. Auf der Tribüne werden Feuer brennen, die Menschen werden sich in den Armen liegen. Heidenheim 1 Chelsea 1.
Es wird ein weiterer Beweis dafür sein, welche Kraft der Fußball hat. Doch diesen Beweis wird es nie geben. "Oh Gott", ruft Küpper, Wanner schaut ungläubig und Co-Kommentator Patrick Helmes vergleicht Jörgensen mit Manuel Neuer. Auf der Tribüne zerbricht Heidenheim-Boss Holger Sanwald. "Es ist unfassbar", sagt er. Wenig später wird es auch der Zuschauer zu hören bekommen. Sanwald ist an diesem Donnerstag verkabelt. Seine Reaktionen werden fast live auf RTL+ ausgestrahlt. Sie dokumentieren das trotz des 0:2 (0:0) wohl größte Spiel der Heidenheimer Vereinsgeschichte. Danach wird kaum noch was kommen.
An diesem Tag sind sie Helden. An diesem Abend werden aus Kevin Müller, Patrick Mainka, Leonardo Scienza oder Mathias Honsak Namen, die auch in 30 Jahren jeder herunterbeten kann. Der zweimalige Champions-League-Sieger FC Chelsea ist zu Gast. Einer der größten und reichsten Vereine der Welt. Ein Klub, der die Welt des Fußballs für immer verändert hat.
Als aus No-Names Helden werden
Der 28. November ist unbestritten der größte Tag für diesen Verein von der Ostalb. Erst im Jahr 2023 steigen sie in dramatischen letzten Minuten erstmals in die Bundesliga auf, der schon feiernde Hamburger SV bleibt dafür Zweitligist. Dabei hatten sie schon gefeiert. Heidenheim ist ein sicherer Abstiegskandidat. Doch die Mannschaft des ewigen Trainers Frank Schmidt macht einfach weiter, ist aufmüpfig. Klar. Auch in Heidenheim gibt es Sponsoren, die mit ihrem Geld für Bundesliga-Fußball sorgen. Richtig eingesetzt kann dieses Kapital ausreichen, um einmal ins Oberhaus zu kommen, aber Europa? Niemals.
Es kommt anders. Das Team aus No-Names qualifiziert sich am Ende der Saison für die Playoffs der Conference League und Anfang dieser Saison auch für die Ligaphase. Ein einmaliges Abenteuer für den Klub, der im zweiten Bundesliga-Jahr ums Überleben im Oberhaus kämpfen muss, dabei jedoch jeden Moment genießt. Denn alles ist kostbar. Alles wird festgehalten. Für die Festschriften der Zukunft, von denen niemand weiß, in welcher Form sie erscheinen werden. Alles ist Gegenstand konstanter Veränderung und eigentlich hätte das hier nie passieren dürfen. So etwas gibt es nicht mehr.
Der letzte Sommer der Romantik
Die Underdog-Geschichten im europäischen Fußball sind längst alle erzählt. Es gibt sie nicht mehr. An den letzten Sieger der Champions League außerhalb der großen Ligen kann sich kaum jemand noch erinnern. In diesem Sommer jährte sich das 3:0 des FC Porto im Finale gegen den AS Monaco in der Arena AufSchalke zum 20. Mal. Der Triumph katapultierte in erster Linie den damals 41-jährigen Trainer José Mourinho in die Umlaufbahn des entstehenden Superfußballs. Der Portugiese entschied sich für die englische Premier League und für den FC Chelsea.
Der Sommer 2004 markierte auch mit dem Sieg Griechenlands bei der EM 2004 den letzten Höhepunkt der Fußball-Romantik. Noch einmal gab er das Versprechen, dass im Fußball, dieser Sportart, in der manchmal über 90 Minuten nichts passiert, jeder jeden schlagen kann. Es ist ein essenzielles Versprechen für den Fußball. Und der löst es sogar immer mal wieder ein.
Das Beispiel Leicester City, die im Jahr 2016 die Premier League gewannen, wird gerne hervorgekramt. Aber auch das ist beinahe zehn Jahre her. In diesen Zeitdimensionen wird mittlerweile gedacht. Der Fußball hat längst unüberwindbare Gräben zwischen den Superklubs und den anderen Klubs aufgeworfen.
Auf den Sommer der Romantik im Jahr 2004 folgte die Beschleunigung und absolute Enthemmung. Ausgelöst auch durch den Kauf des FC Chelsea durch den russischen Oligarchen Roman Abramowitsch im Jahr 2003. Der hatte sofort ungeheure Mengen seines Geldes auf den damals strauchelnden Traditionsklub nahe der Themse geworfen und war damit beispielgebend für die Möglichkeiten des Kapitals.
Oligarch zeigt, was mit dem Fußball möglich ist
Abramowitsch sonnte sich an der Stamford Bridge, dem zerbröckelnden Stadion des FC Chelsea, im Glanze des Fußballs. Sein Wirken war der Türöffner für all das, was danach kam. Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ging für den Oligarchen die Tür zum Fußball zu. Er war gezwungen, seinen Verein zu verkaufen. Als er ging und bei Chelsea ein Machtvakuum entstand, sangen die Anhänger der Blues seinen Namen.
Der Oligarch hatte ihnen Erfolge geschenkt, von denen sie sonst nie zu träumen gewagt hätten. Als er verkaufte, sollte das Geld, immerhin knapp drei Milliarden Euro, zugunsten der Opfer des Krieges in der Ukraine eingesetzt werden. Das ist über zwei Jahre her und alle paar Monate fragt jemand nach dem Verbleib der Abramowitsch-Milliarden.
Er war der Türöffner für das Kapital, das erst aus den USA und schon bald aus den Golfstaaten in den Fußball gespült wurde. Er war der Türöffner für Nasser Al-Khelaifi, dem Eigentümer von Paris Saint-Germain und er war der Türöffner für Mohammed bin Salman, dem aktuell wohl einflussreichsten Mann im Sport. Der Kronprinz des Königreichs Saudi-Arabien kauft nicht nur Vereine, er kauft Turniere und sammelt Sportarten wie andere Menschen ungelesene Spam-Mails in ihren Accounts.
Der Oligarch Abramowitsch ist längst Geschichte, das Kapital nicht. Heute wirft der US-Milliardär Todd Boehly mit Geld und fragwürdigen Konzepten um sich. An der Stamford Bridge geben sich Trainer und Spieler die Klinke in die Hand. Kein Mensch dürfte momentan jeden Kaderspieler des Klubs kennen, der in Heidenheim mit Jadon Sancho und Christopher Nkunku auch zwei ehemalige Bundesliga-Stars auflaufen lässt. Im vergangenen Sommer kaufte Chelsea Spieler für insgesamt 238,5 Millionen Euro und verkaufte Spieler für 198 Millionen Euro. Dazu kommen 15 aktuell verliehene Spieler. Wer blickt da noch durch? Das hatte vor 20 Jahren niemand kommen sehen.
Als auf Gelsenkirchen eine Welt zusammenbrach
Die Jahre vor dem Sommer 2004 stehen für eine Zeit im Fußball, in der vieles noch in Ordnung schien. In der Zeit zwischen 1992, dem Jahr der Gründung der Premier League und der Champions League, und Portos Sieg in Gelsenkirchen wurde all das vorbereitet. Der Fußball hübschte sich auf, das Bosman-Urteil passte ihm gut. Es verlagerte die Macht. Dann schlug das Kapital zu. Erbarmungslos. Doch die Kluft zwischen Arm und Reich war längst noch nicht so weit aufgegangen, die Machtverhältnisse noch nicht zementiert. Es war eine Zeit, in der ein Monster geschaffen wurde. Das würde irgendwann den Fußball auffressen. In seinen Jugendjahren probierte sich das Monster aus.
Es verbrachte die Zeit mit neonfarbenen Trikots, mit Vokuhila-Typen und TV-Formaten wie "ran" und "ranissimo", die den Fußball anders erzählten. Auf den Computern, den C64 oder den 386ern und 486ern, hetzten bei den Managerspielen der Zeit Pixel den Bällen hinterher. Bundesliga Manager Professional, Anstoß 2 und 3. Sie alle waren Vorboten für die kommende Komplexität des Fußballs.
Doch sie waren greifbar, wie auch der Schmerz der Fans des FC Schalke 04 nach der Vier-Minuten-Meisterschaft im Jahr 2001. Die letzten Momente des Gelsenkirchener Parkstadions sind auch deswegen Fußballgeschichte, weil niemand sie gleich weitertwitterte. Die, deren Fußball-Welt zusammenbrach, konnten ihre Tränen vergießen und niemand beobachte sie dabei mit hochauflösenden Handykameras. Es war die Zeit vor der Zeitenwende im Fußball.
Eine Zeitenwende, die auch in Deutschland, zahlreiche Klubs fortspülte. Weil die Moderne sich gegen sie stellte. Weil neue Vereine in die Bundesliga drängten und das Geld der Traditionsklubs sich immer schneller zwar nicht in Luft auflöste, aber in die Taschen von Spielern und Beratern wanderte. Die dafür wenig Gegenleistung erhielten und die es letztlich auch Vereinen wie Heidenheim ermöglichte, in die Bundesliga aufzusteigen.
Für Heidenheim geht es um den Klassenerhalt
Jetzt ist wieder so eine Zeit der Veränderung. Das neue Format der europäischen Wettbewerbe, die Klub-WM der FIFA, die Vergabe der WM 2034 an Saudi-Arabien. Die Uhr wird sich nicht wieder zurückdrehen lassen. Der deutsche Fußball und die Welt des Fußballs insgesamt befinden sich auf Sinnsuche. Weil alles immer verfügbar ist, weil alles immer zu sehen ist, braucht der Fußball neuen Input. Es geht jetzt auch darum, wie viel Nähe Vereine zulassen, wieviel Hauch von Authentizität sie dem Zuschauer vermitteln wollen.
An diesen Bruchstellen entstehen Dinge. Nicht alle werden bleiben. Der verkabelte Heidenheim-Boss Holger Sanwald, der in dieser 69. Minute innerlich zerbrach, "es ist unfassbar" sagte, wird bleiben. "Es ist was Neues, dahin geht der Trend, dass immer mehr Insights gewährt werden", sagte der 57-Jährige vor dem Spiel, "vielleicht können wir auch als kleiner Verein sagen, machen wir das doch mal und dann tun sich die anderen vielleicht auch leichter."
In dieser 69. Minute nun waren alle fassungslos. Paul Wanner hätte für einen Abend den Lauf der Geschichte verändern können. Das ist ihnen nicht gelungen. Weil im Tor von FC Chelsea der 22-jährige Däne Jörgensen nicht zu überwinden war. Der kam im vergangenen Sommer für 24,5 Millionen Euro aus Valencia. In der englischen Premier League hat er noch kein Spiel absolviert.
Jetzt geht die Kluft zwischen Heidenheim und Chelsea wieder auf. Während die Blues in England in dieser Saison endlich wieder unter die Top 4 kommen wollen, kämpft das Team von Trainer Schmidt um den Klassenerhalt in der Bundesliga. Seit einem 2:0 beim 1.FSV Mainz Ende September haben sie aus sechs Spielen nur noch einen Punkt geholt, in der Tabelle sind sie auf Rang 15 abgerutscht. Bis zur Winterpause heißen die Gegner Eintracht Frankfurt, Bayern München, VfB Stuttgart und endlich auch VfL Bochum. Den 28. November aber wird ihnen niemand mehr nehmen können.
Quelle: ntv.de