Fußball

Ein beispielloser Absturz Wie der FC Chelsea den Erfolg aus der Stadt jagte

Spielen heute statt für Chelsea bei Arsenal und Tottenham: Kai Havertz und Timo Werner.

Spielen heute statt für Chelsea bei Arsenal und Tottenham: Kai Havertz und Timo Werner.

(Foto: imago images/PA Images)

Der FC Chelsea wandelt sich in Rekordzeit vom König Europas zur grauen Maus. Und das trotz der Milliarden, die in den Klub investiert werden. Die neue Realität heißt Heidenheim. Schuld daran ist ein völlig planloser Besitzer - und die Missachtung eines Prinzips, das sie in München, Manchester und Madrid perfektioniert haben.

London ist in Aufruhr. Oasis sind zurück. Die stets am Rande des Größenwahns tänzelnde Rock-Band geht 2025 wieder auf Tour. Gleich sechs Stopps sind im legendären Wembley-Stadion angekündigt. Die halbe, ach was, die ganze Welt versucht an Karten zu kommen.

Auch 2021 ist Aufruhr in London, und auch am 29. Mai diesen für den FC Chelsea großen Jahres ist der Grund dafür eine Überraschung rund um eine Truppe aus Manchester. Im Champions League Finale schlägt der in der englischen Hauptstadt beheimatete Klub das deutlich favorisierte Manchester City. Zum ersten Mal seit dem für den FC Bayern so dramatischen "Finale Dahoam" im Jahr 2012 setzen sich die Blues wieder die Krone des europäischen Fußballs auf.

Stützen der Mannschaft wie Abwehrass Antonio Rüdiger, Mittelfeld-Stratege Jorginho oder der nimmermüde Abräumer N'Golo Kanté sind seinerzeit im besten Alter. Dazu kommt eine Hand voll spannender junger Spieler. Außenverteidiger Reece James (damals 21) verpasst in der kompletten Saison lediglich ein Spiel. Mason Mount (22) gilt als große Spielmacher-Hoffnung der Zukunft, Kai Havertz (22) entscheidet mit seinem 1:0 das CL-Finale gegen City. Neben dem Titel in der Königsklasse steht ein überaus respektabler dritter Platz in der Premier League in den Büchern. Und all das erreicht die Mannschaft, obwohl Trainer Thomas Tuchel erst im Januar 2021 sein Amt antritt. Die Perspektive des Vereins ist glänzend.

Where did it all go wrong?

Das wahrscheinlich wichtigste Privileg europäischer Top-Klubs ist es nicht, für viel Geld Leistungsträger aus anderen Vereinen anwerben zu können, sondern eigene gute Spieler nicht abgeben zu müssen. "Never change a winning team" ist für Brighton, den SC Freiburg, Ajax Amsterdam oder Stade Rennes leichter gesagt als getan. Den allermeisten Teams bleibt aufgrund wirtschaftlicher Realitäten keine andere Wahl, als begehrte Spieler eher früher als später an den Meistbietenden zu veräußern.

Die Macht des FC Bayern zeigt sich weniger darin, Thomas Müller zu finden, oder Manuel Neuer zu kaufen, sondern dadurch ebenjene Spieler, zwei der besten Fußballer Deutschlands, über ein Jahrzehnt an den Verein zu binden. Real Madrids Königsklassen-Triumphe der letzten Jahre sind mit dem immer gleichen Kern an Spielern entstanden. Manchester City gewinnt nach dem verlorenen Champions-League-Endspiel gegen Chelsea zwei Jahre später dann tatsächlich doch noch den Henkelpott, seit dem vergangenen Sommer sind sie zudem die einzige Mannschaft in der Geschichte der Premier League, die vier Meisterschaften in Serie feiern konnte. Aus der Startelf jener dramatischen Niederlage gegen die Blues stehen außer Raheem Sterling (heute FC Arsenal), Olexandr Zinchenko (FC Arsenal), David Silva (Karriereende) und Riyad Mahrez (Al-Ahli) noch alle Akteure im Kader der Citizens.

Nur James kann noch vom Erfolg erzählen

Wie vielleicht noch nie ein Team zuvor, hat der FC Chelsea dieses Privileg nicht nur nicht gut genutzt, er hat es sensationell verschwendet. 2024 spielt mit Reece James noch ein(!) Spieler aus dem Champions-League-Kader von 2021 an der Stamford Bridge - und das auch nur theoretisch, zurzeit ist der Außenverteidiger verletzt. In dem Wimmelbild, das der Kader des FC Chelsea mittlerweile ist, hat sich irgendwo auch Ben Chilwell noch versteckt, der ebenfalls unter den City-Bezwingern von 2021 war. Allerdings nur, weil der Klub keinen Abnehmer für ihn gefunden hat, eine sportliche Perspektive hat der Brite nicht.

Alle anderen der zahlreich vorhandenen Spieler kennen den glorreichen Königsklassen-Abend in Porto nur vom Hörensagen. Kai Havertz und Jorginho fordern jetzt in Diensten des FC Arsenal Manchester City heraus, Antonio Rüdiger hat die Königsklasse mit Real Madrid noch ein zweites Mal gewonnen. Chelsea-Eigengewächs Mason Mount ist bei Manchester United in der Versenkung verschwunden. Und N'Golo Kanté lässt die Karriere in Saudi-Arabien ausklingen.

"Die mächtigste Frau im Fußball"

Wo Top-Mannschaften europaweit mal mehr, mal weniger penibel einen Umbruch planen, hat Chelsea einfach abgerissen. Und zwar nicht so, wie junge Leute über ein erfolgreiches Konzert sprechen, sondern im ganz ursprünglichen "kaputt machen"-Sinn. Die Abrissbirne des FC Chelsea heißt Todd Boehly und kommt im Mai 2022 als Mitbesitzer in den Klub. Boehlys Erwerb des Londoner Vereins ist der eigentlich herbeigesehnte Abschluss eines komplizierten Verkaufs. Vorbesitzer Roman Abramowitsch, seit 2003 Besitzer von Chelsea, musste den Verein als wirtschaftspolitische Konsequenz aus dem russischen Überfall auf die Ukraine abgeben.

Mit Abramowitsch verlässt auch seine langjährige Assistentin, die in der Branche geschätzte Marina Granovskaia, den Klub. Schon 2014 nennt die "Times" sie "die mächtigste Frau im Fußball", im Dezember 2021 wird sie im Rahmen der Golden-Boy-Verleihung als beste Sportdirektorin im europäischen Fußball ausgezeichnet.

Superstars, die keine sind

Statt den Klub wieder in ruhigere Gefilde zu lenken, entfesselt Boehly das Chaos. In der ersten Saison unter Boehly gibt der Verein unvorstellbare 630 Millionen Euro aus. Durch Verkäufe wird gerade einmal ein Zehntel eingenommen. Die Top-Transfers Enzo Fernandez (121 Millionen Euro), Wesley Fofana (80,4) und Mykhalyo Mudryk (70) sind bis heute weit davon entfernt, ihre horrenden Ablösen wenigstens halbwegs zu rechtfertigen. Kalidou Koulibaly (41) wurde bereits wieder nach Saudi-Arabien verabschiedet, Raheem Sterling (56) am letzten Tag der diesjährigen Transferperiode hastig dem FC Arsenal untergeschoben: Eine Leihe ohne Leihgebühr, die Gunners tragen weniger als die Hälfte des Gehalts.

Als ein Jahr später, im Sommer 2023, Fan-Liebling und Mittelfeld-Motor N'Golo Kanté den Klub verlässt, verpflichten die Blues für insgesamt 170 Millionen Euro Moises Caicedo und Romeo Lavia als Nachfolger. Lavia absolviert bisher genau zwei Spiele für Chelsea. Caicedo spielt zwar meistens, war sein Geld jedoch auch nur sehr bedingt wert. Die Zugänge sind einfach zu teuer. Der Klub gibt Mondsummen aus, ohne dafür wirklich entscheidende Spieler zu bekommen. Vereinzelt kommt auch noch Pech dazu. Christopher Nkunku, der 2022/23 für RB Leipzig den Bundesliga-Verteidigern Knoten in die Beine spielt, ist für 60 Millionen Euro Ablöse beinahe ein Schnäppchen. Der Franzose verletzt sich jedoch schwer und muss nach seinem Transfer monatelang zusehen.

Maybe, you're gonna be the one that saves me

Cole Palmer sorgt beim FC Chelsea trotz aller Krisen für Euphorie.

Cole Palmer sorgt beim FC Chelsea trotz aller Krisen für Euphorie.

(Foto: IMAGO/Steinsiek.ch)

Der einzig richtig gute Transfer der Ära Boehly bis hierhin ist Cole Palmer. Der Brite hat mit 47 Millionen Euro Ablöse auch kein Kleingeld gekostet, schießt den FC Chelsea im vergangenen Jahr jedoch als einer der besten Spieler in der englischen Elite-Liga auf die internationalen Plätze und ist eine wichtige Identifikationsfigur. Sportlich verfügt er über ein fantastisches Auge für den Mitspieler, einen enorm guten Abschluss und eine gerade für seine Größe beachtliche Ballkontrolle. Teilweise entsteht der Eindruck, Palmer sei quasi allein mit der Rettung des FC Chelsea betraut. Gegen alle Wahnsinnigkeiten des neuen Eigentümers, die deutlich solider arbeitende Konkurrenz und die hohe Fluktuation an der Seitenlinie.

Denn so sprunghaft wie auf dem Feld geht es auch an der Seitenlinie zu. Kurz nach Übernahme des Klubs entlässt Todd Boehly Thomas Tuchel. Dann entlässt er Graham Potter. Dann entlässt er Frank Lampard, der der Vorgänger Tuchels war. Dann entlässt er Mauricio Pochettino, nach exakt 365 Tagen. In diesem Sommer übernimmt Enzo Maresca das Ruder des mächtig ramponierten Kahns. Wie optimistisch der Pep-Lehrling ob dieses exorbitanten Trainerverschleißes auf seine langfristige Zukunft in London blickt, behält er wohl besser für sich.

Historisch schlecht

Auf der drei Jahre andauernden Achterbahnfahrt durch Import und Export sammeln sich etliche Spieler an, die im Klub keine Perspektive mehr haben. Kepa Arrizabalaga, einst teuerster Torhüter der Welt, wird in diesem Sommer durch die Hintertür an Bournemouth verliehen. Romelu Lukaku spielt nun im dritten Jahr nacheinander für den dritten italienischen Klub, offiziell gehört er noch immer dem FC Chelsea.

Wenn mal jemand verkauft wird, dann meist zu gruseligen Konditionen. Timo Werner wird mit 33 Millionen Euro Transferminus 2023 zurück an RB Leipzig verscheuert, für Christian Pulisic bekommt der BVB einst 60 Millionen Euro, Chelsea bekommt 2023 noch 20. Der einjährige Aufenthalt Kalidou Koulibalys steht mit 20 Millionen Euro Transferverlust in den Büchern, für Mateo Kovacic bekommen die Blues von City rund 15 Millionen Euro weniger, als sie vier Jahre zuvor bezahlt hatten. Selbst Kai Havertz, der beim FC Arsenal zurzeit überragend in Form ist und Chelsea mit seinem Treffer im Finale zum Henkelpott schoss, geht für fünf Millionen Euro weniger, als Chelsea einst an Leverkusen überwiesen hatte.

Haalands Ablöse wäre knapp in Chelseas Top Ten

Bei der Rotation auf der Trainer-Position und Mannschaftskollegen, die bereits wieder verkauft oder verliehen worden sind, bevor sich der Rest des Teams den Namen merken kann, ist es wenig verwunderlich, dass der sportliche Erfolg auf der Strecke bleibt. 2021/22 wird Chelsea Klub-Weltmeister. Es bleibt bis heute der letzte Titel. Nicht nur das, 2022/23 wird der mit über 600 Millionen Euro "verstärkte" amtierende Champions-League-Sieger 12. in der Liga. Es ist die schlechteste Platzierung der Blues seit 1994.

In die neue Saison ist der FC Chelsea ausgerechnet gegen Manchester City gestartet. Es wirkt wie ein schmerzhafter Gruß aus vergangenen, glorreichen Tagen. City gewinnt das Spiel mit 2:0, Erling Haaland, der günstiger war als sieben der Chelsea-Transfers unter Boehly, und der aus London gekommene Kovacic schießen die Tore. Immerhin: danach folgen vier Punkte aus drei Spielen. In einigen Momenten macht die Mannschaft richtig Spaß, präsentiert sich dynamisch und stringent, vor allem im Konterspiel.

"Don't look back in anger"?

Dennoch, die sportliche Ambition des FC Chelsea ist schwer zu greifen. In den Titelkampf der Premier League einzugreifen ist illusorisch, der FC Arsenal und Manchester City sind Meilen entfernt. Im Champions-League-Endspiel 2025, das erneut in München stattfindet, den Coup aus 2012 zu wiederholen, ist sogar kategorisch ausgeschlossen. Conference League heißt die Realität, mit Teams wie Gent, dem FC Noah Erewan oder dem 1. FC Heidenheim, der in seiner derzeitigen Form eine nicht zu unterschätzende Herausforderung darstellt.

Der FC Chelsea hat sich vorerst aus dem Konzert der Großen verabschiedet. Der Weg zurück führt nur über Konstanz, auf wie auch neben dem Feld. Ob das gelingt? Bereits jetzt haben die Blues die ersten 52 Millionen Euro für den Transfersommer 2025 verplant, für zwei 18-jährige Südamerikaner. Kurz nach ihrer Ankunft wird Oasis in London spielen. Don't look back in anger" wird das ausverkaufte Wembley-Stadion grölen. Als Fan des FC Chelsea alles andere als einfach.

Quelle: ntv.de

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