Lewandowski, Kabine, Mentalität Wie Nagelsmann den FC Bayern fatal verlor
23.03.2023, 23:41 UhrDer FC Bayern beendet das Langzeitprojekt Julian Nagelsmann jäh und zu diesem Zeitpunkt der Saison völlig überraschend. Dabei hatten sich zuletzt immer mehr Argumente gefunden, um die Arbeit des jungen Trainers kritisch zu hinterfragen.
Warum der FC Bayern Julian Nagelsmann an diesem 23. März gefeuert hat? Man weiß es nicht, aber man ist sehr gespannt darauf, was die Bosse in den nächsten Stunden zu sagen haben. Wie sie ihre urplötzliche Abkehr vom bedingungslosen Vertrauen in diesen jungen Trainer begründen, der den Rekordmeister doch im Duell mit den alimentierten Riesen aus Frankreich, Spanien und England wieder mitten im Herzen Europas platzieren sollte. Als geheiligten Gegenentwurf: die Münchner Familie gegen das Geld der kühlen Investoren. Doch dieses Projekt ist nun krachend gescheitert. Über drei Jahre früher als ursprünglich geplant. Denn eigentlich sollte Nagelsmann, der im Sommer 2021 für eine Rekordablöse von RB Leipzig gekommen war, bis mindestens 2026 bleiben.
Auf den ersten Blick mag die Trennung von Nagelsmann absurd erscheinen: Im Frühling 2023 ist er mit seiner Mannschaft weiter in der Lage, die drei großen Titel zu gewinnen: die Meisterschaft (zum elften Mal in Folge), den DFB-Pokal, in dem er in der vergangenen Saison bereits in der zweiten Runde mit 0:5 in Mönchengladbach auf aberwitzige Weise gescheitert war, und die Champions League. Aber bei genauer Betrachtung finden sich seit Wochen immer mehr Argumente, um den dennoch überraschenden Rauswurf zu rechtfertigen. In der Liga läuft seit der Wiederaufnahme des Betriebs nach der WM kaum noch etwas zusammen - zumindest gemessen an den Maßstäben des FC Bayern. Zehn Punkte haben die Münchner auf die auferstandene Borussia aus Dortmund eingebüßt und am Wochenende auch noch die Tabellenführung an den großen Rivalen verloren. Nach einer 1:2-Pleite bei Bayer Leverkusen.
"So wenig Antrieb, so wenig Mentalität"
Es war eine Niederlage, die erstmals offenbarte, wie schlecht es um die Nerven beim Rekordmeister steht. Der Sportvorstand Hasan Salihamidžić richtete gnadenlos über das Team: "So wenig Antrieb, so wenig Mentalität, so wenig Zweikampfführung, so wenig Durchsetzungsvermögen habe ich selten erlebt", war ein krachendes Urteil. Ein anderes lautete: "Wir haben alles vermissen lassen. Haben uns von einer Mannschaft, die am Donnerstag (in der Europa League) noch gespielt hat, überrennen lassen." Da war plötzlich nicht nur Wut, da war Panik. Und womöglich war da auch bereits das Eingeständnis, dass der Traum von Nagelsmann und einer goldenen Ära in München kein Happy End finden würde. Zumal ausgerechnet mit Ex-BVB-Trainer Thomas Tuchel ein Mann zu haben war, dessen Qualitäten über jeden Zweifel erhaben sind (auch wenn er als Typ überall angeeckt ist, was ihn mehrere Jobs kostete). Und der im internationalen Trainerkarussell immer heißer gehandelt wurde.
Für den FC Bayern war die Lage klar: Solange Tuchel auf dem Markt ist - was angesichts der Gerüchte um gleich mehrere Top-Klubs immer weniger wahrscheinlich wurde -, gibt es einen Plan B für Nagelsmann. Auch wenn es den eigentlich nicht bräuchte, so hatten sie wiederholt betont. Von den Bossen an der Säbener Straße bis zum Schattenchef am Tegernsee. Noch Anfang des Monats hatte Uli Hoeneß den Medien zugerufen, dass sich das Thema Nagelsmann in sechs bis acht Wochen erledigt haben würde. Wie recht er hatte, es ging sogar deutlich schneller. Bittere Pointe: Er hatte es natürlich ganz anders gemeint. Nun ist Schluss, vor den großen Duellen in der Liga gegen den BVB (ausgerechnet das erste Spiel für Tuchel als Bayern-Coach), im DFB-Pokal mit dem wackeren Überraschungsteam SC Freiburg und vor allem in der Champions League (im Viertelfinale) gegen Manchester City, muss Nagelsmann gehen. Ein klares Indiz dafür, dass sie ihrem (Ex-) Trainer große Siege (trotz des bemerkenswerten Erfolgs zuletzt gegen ein allerdings auch geschwächtes Paris St. Germain) einfach nicht zutrauen. Nicht in der Gemengelage im Frühjahr 2023.
Nagelsmann hat in den vergangenen Wochen alles verloren, und auf eine fatale Weise die Kabine. Wie schon seine Vorgänger Niko Kovac und Carlo Ancelotti. Die Kabine, sie ist das Heiligtum einer jeden Fußballmannschaft. Hier entsteht alles: Taktik, Teamgeist, ein Flow. Hier entstand aber zuletzt offenkundig nichts mehr. Was letztlich zum Bruch geführt hat? Die Trennung von Torwarttrainer und Manuel-Neuer-Vertrautem Toni Tapalovic, dem der Chefcoach mangelnde Loyalität und ausgeplauderte Interna vorwarf? Die schleichende Demission des mächtigen und auf seine Weise unverzichtbaren Thomas Müller, über die eben auch Kovac bereits gestolpert war? Seine wütende "Pack"-Attacke gegen die Schiedsrichter in Mönchengladbach? Oder seine offenbar ständigen taktischen Änderungen gegen das Wohlgefühl der Mannschaft? Am Ende mündete alles in der Suche nach einem weiteren Maulwurf, der die Kabine unterjocht und den stets selbstbewussten, aber selten selbstkritischen Trainer fatal geschwächt hatte. Beim FC Bayern reüssierten zuletzt eben vor allem die Trainer, die Menschen für sich begeistern und hinter sich versammeln konnten. Jupp Heynckes, Hansi Flick, für die Triple-Trainer ging man durchs Feuer und kam bei vielen Titeln wieder raus.
Die Vorfälle aus diesem Jahr sind aber die Fortführung einer langen Reihe von Auseinandersetzungen oder auch Sonderbarkeiten, die die Münchner ihrem Cheftrainer durchgehen ließen. In der vergangenen Saison hat er sich mit Rekord-Torjäger Robert Lewandowski überworfen. Der Pole flüchtete nach einer unwürdigen Posse wütend zum FC Barcelona. Sein Nachfolger wurde Sadio Mané, ein ganz anderer Typ, eher ein Mann für den Flügel. Ein Weltklassespieler, ein Transfercoup, dessen Integration aber bis zu seiner schweren Verletzung kurz vor der WM nur mäßig gelang. Auch etwas, was auf Nagelsmann zurückfiel, zurückfallen musste. Und als der Start in die neue Saison (trotz des krachenden 5:1 bei der Eintracht) nicht gelang, als der Coach beharrlich auf eine echte "Neun" verzichtete, die dem FC Bayern immer gutgetan hatte, korrigierte er seine Taktik erst auf die Gebete der Bosse.
Bis zur Winterpause blieb es sportlich weitgehend störungsfrei, die Mannschaft spielte stark, Nagelsmann saß fest im Sattel. Und so nahmen die Chefs die abseitigen Sonderlichkeiten des 35-Jährigen einfach hin. Von seiner modischen Extravaganz über seine Beziehung bis zu seinen ungewöhnlichen Auftritten mit einem E-Skateboard auf dem Trainingsgelände oder als "Easy Rider" auf seiner Harley. Doch dann kam die WM-Pause, dann kam Neuers folgenschwerer Ski-Unfall.
Dann kam die Trennung von Tapalovic, das wütende Interview von Neuer, in dem Nagelsmann auch nicht gut wegkam, dessen Beziehung zum Anführer ohnehin als schwierig galt. Weil er unter anderem mehr mit Joshua Kimmich redete als eben mit dem Kapitän. Dass Neuer nach seiner Abrechnung gegen das Wissen des Klubs trotzdem nur sanft (weil mit Geld) vom FC Bayern abgestraft wurde, dürfte im Nachhinein auch ein Beleg dafür gewesen, dass man dem Trainer nicht alles durchgehen lassen wollte.
Zu viele Spieler nicht auf Top-Niveau
Nagelsmann war ein Typ, der immer wieder im Mittelpunkt stand, der um seinen Wert für die Schlagzeilen wusste. Aber manchmal war dieser Typ eben zu mächtig, zu sehr im Mittelpunkt. Vielleicht auch ein wenig zu unnahbar. Für die Medien, für die Fans, vielleicht auch für die Bosse und die Mannschaft. Sie hatten ihm alles geliefert, was er wollte. Wunschspieler, Video-Walls und Geheimplätze. Aber offenbar witterten sie in München, dass es eine einseitige, eine sehr teure Rechnung zu werden drohte (was sie nun durch die Abfindung definitiv werden wird). Die Mannschaft stolperte zuletzt zu oft, Spieler wie Serge Gnabry und Leroy Sané glänzten mit skurrilen Outfits oder Abwesenheit an Treffpunkten. Aber eben nicht auf dem Platz. Die Formschwächen seiner Stars bekam er nicht (mehr) in den Griff. Ebenso diskreditierte er den gehypten Winter-Neuzugang João Cancelo, dem er unterstellte, das aktuelle System nicht zu beherrschen.
Die Meisterschaft in München ist kein Nice-to-have, sie ist ein Must-have. Dass sie nun in Gefahr ist, war ein Problem für Nagelsmann. Und weil im Duell mit dem zuletzt enthemmt aufspielenden Manchester City die nächste Königsklassen-Watschn droht, nach der Nagelsmann angehefteten Blamage im vergangenen Jahr im Viertelfinale gegen den Dorfklub FC Villarreal, war die Panik offenbar groß. Der rote Knopf wurde gedrückt. Ein gutes Licht auf die Bosse des FC Bayern wirft die Art und Weise des K.o. nicht. Vor allem nicht, wenn der Coach, wie es heißt, tatsächlich aus den Medien von seinem Rauswurf erfahren haben soll. Ganz alle egal von welcher Seite das bevorstehende, krachende Ende an Journalisten und den italienischen Transferguru Fabrizio Romano, er hatte das Gerücht als Erster, mit Verweis auf exklusive Informationen, durchgestochen wurde.
Quelle: ntv.de