So viel Druck wie lange nicht Maulwürfe und Paranoia quälen den FC Bayern
23.03.2023, 19:11 Uhr
Julian Nagelsmann hat 2023 selten gute Laune.
(Foto: picture alliance/dpa)
Die Bundesliga steht vor einem gigantischen Rätsel. Der FC Bayern München ist nach 25 Spieltagen nicht Tabellenführer. Das hat es schon ewig nicht mehr gegeben. Vor dem Spitzenspiel gegen den BVB fragt sich die ganze Welt, wie konnte das nur passieren? Und was hat Thomas Müller damit zu tun?
Die Welt steht still. Schon 25 Spieltage sind in der Bundesliga gespielt. Bayern München ist nicht mehr auf Platz eins. Borussia Dortmund hat innerhalb kürzester Zeit gleich zehn Punkte aufgeholt und den Rekordmeister überholt. Der BVB hat plötzlich Mentalität. Der FC Bayern nur eine Krise. Maulwürfe unterhöhlen die Kabine, Trainer Julian Nagelsmann ist darüber sogar "paranoid" geworden, behaupten zumindest englischsprachige Medien und Thomas Müller spielt nicht mehr immer. Vor dem Gipfel in der Allianz-Arena am 1. April ist der Seriensieger der letzten Dekade angeschlagen. Gefährlich angeschlagen.
Alle wissen: In diesem Zustand kennen die Münchener nur eine Antwort: Attacke! Damit die Welt nicht mehr stillsteht und die Verhältnisse geradegerückt werden. Alles andere als ein Sieg gegen den Herausforderer würde die Meisterschaft gefährden und nicht einmal der wäre eine Garantie dafür.
Fünf Siege, drei Unentschieden, zwei Niederlagen in zehn Spielen. Der Verlust der Tabellenführung und überall Aufregung. Kein Wunder, dass Sportvorstand Hasan Salihamidžić am vergangenen Wochenende der Kragen platzte. "So wenig Antrieb, so wenig Mentalität, so wenig Zweikampfführung, so wenig Durchsetzungsvermögen habe ich selten erlebt", wütetet er nach dem 1:2 bei Bayer Leverkusen. Es war eine Niederlage, die gegen das Selbstverständnis des FC Bayern lief.
Achsenbruch noch lange nicht behoben
Dabei lag die Antwort auf der Hand. Wie schon bei der ersten Niederlage im Jahr 2023 hatte Trainer Julian Nagelsmann den ewigen Thomas Müller frühzeitig vom Feld genommen. Das Spiel kippte erst danach und nach der 1:0-Pausenführung. Mit Müller ging der letzte Spieler der ehemaligen Achsenmächte des FC Bayern vom Platz. Denn eins ist nach diesen 25 Spieltagen der Saison 2022/2023 klar: Der aktuelle Umbruch trifft den FC Bayern München härter als erwartet. Ohne Manuel Neuer, ohne Robert Lewandowski und immer häufiger auch ohne Müller geht ihnen mehr ab, als sich das jemals irgendwer hätte ausdenken können.
Der Umbruch trifft den Verein zudem in einer Situation des Kontrollverlusts. Auf dem Platz, aber eben auch daneben. Dort zeigen sie sich immer häufiger von ihrer glamourösen "FC Hollywood"-Seite. Neuers Skitour, Serge Gnabrys Gucci-Outfit, Benjamin Pavards Vertragswirrwarr, Leroy Sanés Rückfall und Joao Cancelos Rollensuche sind die gefährlichen Zutaten der in München aufgeführten Soap, die zu einer ersten Meisterschaft der Dortmunder seit 2012 führen kann.
Die Vorboten für das nun dargeboten Stück waren bereits beim letzten Aufeinandertreffen zwischen Bayern und dem BVB in der Allianz-Arena zu beobachten. Damals im späten April 2022 konnte der FCB die zehnte Meisterschaft in Serie gewinnen, doch statt grenzenloser oder zumindest routinierter Freude, präsentierte sich schon damals ein von internen Kämpfen angeschlagener Verein. Trainer Nagelsmann sprach von einem schwierigen ersten Jahr und Star-Stürmer Lewandowski spazierte wie einst Franz Beckenbauer gedankenverloren und einsam über den Platz.
Von Mentalitätsmonstern zu "Gucci-Gnabry"
Seinen Abschied hatte er da längst geplant. Im ersten Jahr unter dem vom RB Leipzig gekommenen Trainer war er zusehends unzufriedener geworden. Nagelsmann hatte ihm das alleinige Recht auf das Strafzentrum entzogen, ihn immer wieder sogar auf die 10 geschoben und dort sah der Rekordjäger sich nicht. Es war ein erster Riss. Einer, der die Bayern am Ende ohne etablierten Stürmer dastehen ließ.
Über acht Jahre hatte Lewandowski die Liga kleingehalten. In Kombination mit Thomas Müller, dem gigantischen Vorlagenkönig des deutschen Fußballs, war er von Rekord zu Rekord, von Meisterschaft zu Meisterschaft geeilt und hinten hielt Manuel Neuer die wenigen Bälle, die aufs Tor kamen. Um dieses Trio entwickelte sich ein neues Team. Aus den Mentalitätsmonstern Arjen Robben und Franck Ribery wurden auf den Flügeln über die Jahre die wankelmütigen Kingsley Coman, Serge Gnabry und auch Leroy Sané. Ein Trio, das an guten Tagen zu den besten der Welt gehört, doch sich immer wieder mit unerklärlichen Formschwankungen auseinandersetzten musste.
Aus Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Javi Martinez und Xabi Alonso wurde im Mittelfeld Leon Goretzka und Joshua Kimmich. Zwei Spieler mit Führungsanspruch und Zug zum Tor. Zwei Spieler, die ohne defensive Absicherung jedoch auch immer wieder zu einem Sicherheitsrisiko für die ohnehin stets wechselnde Abwehrformation wurden. Doch für die Meisterschaften reichte es und ja sogar auch für den Titel in der Champions League beim Pandemieturnier in Lissabon. Doch langsam begann der Umbruch.
Nagelsmann räumt auf, nicht jeder versteht es
Der trifft die Bayern nun mit Verzögerung und großer Wucht. Alles ging los Ende Dezember: Neuer, der weiterhin zu den weltbesten Torhütern zählt, nahm sich mit seiner Skitour selbst aus dem Spiel. Die Verletzung des Nationaltorhüters hat den Bayern große Unruhe beschert. Sie hat für Aktionismus in der Winterpause gesorgt. Mit Yann Sommer konnte Sportvorstand Salihamidzic zwar einen guten Keeper an die Säbener Straße lotsen. Aber der Schweizer ist kein Neuer. Zu dominant agierte der Kapitän in seiner Dekade im Tor des FC Bayern, zu prägend ist er auch für das Teamgefüge gewesen.

Manuel Neuer und Toni Tapalovic konnten im Oktober 2022 sogar noch lachen.
(Foto: picture alliance / Lackovic)
Dass dies nicht allen behagte, zeigten die Schockwellen, die sein Verlust auslöste und die von allen Seiten zu einer Neujustierung genutzt wurden. So musste Neuer-Intimus Toni Tapalovic gehen. Der Torwarttrainer und Nagelsmann hatten selten auf einer Wellenlänge gefunkt, nach der Trennung war von "Differenzen im Miteinander" die Rede. Wohl nicht die ganze Wahrheit.
Mächtig viel sichtbare Erde warf nur kurze Zeit später ein Maulwurf auf. Der hatte es sich unterhalb der Bayern-Kabine gemütlich gemacht, immer wieder Infos und sogar Pläne für ein Bundesliga-Spiel an das mächtige Boulevard-Blatt "Bild" durchstecken können. Ein "mehr als grenzwertiges Verhalten!", schimpfte Nagelsmann und gab auch noch der Presse einen mit: "Das hat mit Sportjournalismus nichts mehr zu tun."
Kaderbaustellen ohne Ende
Dann kam die Niederlage gegen Leverkusen und Salihamidžić gönnte seinen Bayern auch noch einen Schluck vom abgestandenen Mentalitätssaft. Mentalität hatte ausgerechnet der ewige Rivale und aktuelle Tabellenführer über all die Jahre, hatte Borussia Dortmund vermissen lassen. Der FCB, der Rekordmeister und Stern des Südens, hatte sie hingegen einfach. "Mia San Mia!" hieß es und die Bundesliga-Klubs zitterten schon beim Gedanken an diese gierigen, allesfressenden Titelmonster aus der Allianz-Arena. Die Bayern waren unbesiegbar, weil sie so gut waren und weil sie ihre Gegner verängstigten, einschüchterten und die besonders renitenten einfach überrollten. Weil ihre Achse eingespielt war und die Arbeiter parat standen.
Und das soll jetzt plötzlich vorbei sein? Natürlich nicht. Doch der Verlust der Achsenmächte auf der einen Seite und die immerwährenden Unruhen um reisende Spieler, Maulwürfe und Verspätungen haben in dieser Saison eine historische Tür geöffnet. Dazu kommt der dünnhäutige Nagelsmann, der neben den zahlreichen Baustellen neben dem Platz auch auf dem Spielfeld die eine oder andere Baustelle aufmacht. Neben einer fehlenden Absicherung für den Gestalter Kimmich, dessen Ballverluste schmerzhaft sein können und neben Müllers Rollen- sowie Sadio Manés Formsuche, fehlt es dem Team weiterhin an einem echten Rechtsverteidiger.
Winterneuzugang João Cancelo ist selten auf der Position zu finden. Seine Verpflichtung ist aktuell mehr Rätsel, als Verstärkung. Eine echte Rolle gibt es für ihn nicht. Nagelsmann schiebt ihn hin und her, doch nie auf die Position in der Verteidigung. In der neuen Dreierkette wird dort mal der französische Nationalspieler Benjamin Pavard und mal der Kroate Josip Stanisic aufgeboten. Letzterer macht seine Aufgabe im Ausscheidungsspiel gegen Paris Saint-Germain ausgesprochen gut. Der Verein hatte auf diese Auseinandersetzung monatelang hingefiebert, es zum absoluten Gigantengipfel des europäischen Fußballs auserkoren und doch nach dem Sieg nicht mehr auf Stanisic gesetzt.
Bayern kennt am 1. April nur eine Richtung
Auch für Lewandowski-Ersatz Eric Maxim Choupo-Moting war es der bislang letzte Auftritt für die Bayern. Der 34-Jährige fällt seitdem mit einer Rückenverletzung aus. Der wundersame Aufstieg des gebürtigen Hamburgers von Stoke City zum besten deutschen Klub ist vielfach beschrieben worden, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er kein neuer Lewandowski ist. Ursprünglich war er ohnehin nur als Ersatz geplant. Nagelsmann setzte auf Mané und Müller und ein Spiel ohne echten Neuner.
Erst nach etwas Druck gab der Trainer nach und setzte fortan auf den Benjamin Button der Bundesliga. Und Müller suchte seine Rolle, verletzte sich, spielte eine schwache WM und sucht weiter seine Rolle. Aus dem Pressinganführer der Bayern ist einer geworden, der zwischen Bank und Startelf pendelt, der aber in den entscheidenden Spielen der Unterschiedsspieler ist. Seine Leistung beim 3:0 gegen Union Berlin war der beste Beweis dafür. Auch gegen PSG stand er für 86 Minuten auf dem Platz.
Anders als erwartet, war es kein Gigantengipfel. Es war ein Spiel, bei dem zwei wankende Riesen aufeinandertrafen und einer stürzte, der andere sich gerade so auf den Beinen halten konnte. Über die wirkliche europäische Stärke der Bayern werden die Duelle mit Pep Guardiola Auskunft geben, über die wirkliche nationale das Spiel gegen Borussia Dortmund am 1. April.
Bislang ist noch nichts passiert. Aber die Tür ist offen. Und auf einmal ist sogar jemand da, der durchgehen könnte. Noch aber hat der FC Bayern genug Zeit, die Tür einfach wieder zu schließen. Sie haben den Bundesliga-Titel weiter in der eigenen Hand. Der BVB hingegen muss Grenzen sprengen. Anders als in den vergangenen Jahren hat er dafür aber das richtige Werkzeug. Null Punkte bei 6:33 Toren holte der BVB aus den acht Bundesliga-Spielen seit dem letzten Sieg in der Allianz-Arena am 12. April 2014. Schlechter kann es für Dortmund ohnehin nicht laufen. Für die Bayern schon. Deswegen werden sie angreifen.
Quelle: ntv.de