Virologe Stürmer im Interview "Die Notbremse ist nicht hart genug"
20.04.2021, 17:12 Uhr
Eine Ausgangssperre, wie sie in Baden-Würrtemberg nun bereits wieder gilt, soll auch in anderen Regionen Deutschlands gelten.
(Foto: imago images/Arnulf Hettrich)
Eine Ausgangssperre ab 22 Uhr, Schulschließungen bei einer Inzidenz von 165 - mit dieser Bundes-Notbremse will Deutschland die dritte Welle in den Griff bekommen. Für Virologe Stürmer kommt das Gesetz zu spät. Und er hält die Maßnahmen für zu lasch.
ntv: Laut der geplanten Bundes-Notbremse gehen Schulen ab einer Inzidenz von 165 in den Distanzunterricht. Was halten sie davon?

Der Virologe Martin Stürmer leitet ein Labor und ist Dozent an der Universität Frankfurt.
(Foto: Stürmer/privat/dpa/Archivbild)
Martin Stürmer: Man musste schon ein bisschen schmunzeln über die Zahlen, die jetzt in den Raum geworfen werden. Schon die Inzidenz von 200 für Schul- und Kindergartenschließung war relativ hoch. Weil wir aktuell ja sehen, dass relativ viel Infektionsgeschehen bei kleineren Kindern und in den Schulen stattfindet. Dementsprechend ist das Absenken der Grenze definitiv gut. Meiner Meinung nach geht das aber nicht weit genug. Ich bin dafür, die Schulen gerne so lange wie möglich offenzulassen, weil ich auch die Probleme sehe, die mit dem Fernbleiben von der Schule verbunden sind. Aber wir müssen auch dem Infektionsgeschehen Rechnung tragen, und das spielt sich jetzt vermehrt bei kleineren Kindern in den Familien ab.
Glauben Sie, dass uns die Notbremse, die Bundes-Notbremse, wie sie nun kommen soll, helfen wird?
Sie kommt definitiv zu spät. Wir sehen zwar jetzt, dass die Zahlen nicht mehr ganz so heftig steigen, wie in den vergangenen Wochen. Es scheinen doch einige Maßnahmen zu greifen. Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein: Je stärker sich das Virus vermehrt, desto mehr Mutation wird stattfinden. Spezifische Varianten kommen dann plötzlich nach vorne. Und dann kann doch mal was entstehen, was uns nicht ganz so gut gefällt. Wir müssen das Infektionsgeschehen deshalb so schnell wie möglich nach unten bringen. Einige Bundesländer haben damit schon vorgegriffen vor der Notbremse, andere diskutieren immer noch. Das ist die Tragik, die wir haben. Die Politik ist langsam, und die Notbremse ist auch nicht das, was wir uns als Virologen gewünscht haben. Da fehlt ein bisschen mehr Konsequenz, die Bremse ist nicht hart genug.
Hinzu kommt, dass wir es immer wieder mit neuen Mutanten zu tun haben. Nun ist von der sogenannten indischen Mutante die Rede. Was weiß man darüber bisher?
Diese sogenannte indische Variante B.1.617 hat vier Veränderungen im Spike-Protein, die jetzt relevant sind. Von denen ist eine bekannt auch aus den amerikanischen Varianten. Die zweite Veränderung ist bekannt aus Südafrika und Brasilien, aber in einer etwas modifizierten Version. Insofern wissen wir noch nicht genau, wie sich das tatsächlich auswirkt. Man könnte vermuten, dass sie sich ähnlich verhält wie die britische und südafrikanische Variante. Aber genau wissen wir das noch nicht und insofern müssen wir jetzt erstmal abwarten, wie sich die Variante wirklich verbreiten kann und vor allem welchen Einfluss die Impfstoffe auf diese Variante haben werden.
Sie sagen, die neue Variante hat Eigenschaften von anderen Mutanten. Wie muss man sich das vorstellen?
Evolution kann das Virus dahin bringen, dass es sich immer weiter optimiert und an die Situation anpasst. Die wichtigste Erkenntnis ist, dass es offenbar bestimmte Positionen gibt, an denen sich das Virus verändern kann, es aber nicht so viele Variationsmöglichkeiten gibt. Das stimmt mich optimistisch, dass wir keine Supermutante sehen müssen, die sich so stark verändert, dass der Impfstoff gar nicht mehr wirkt und wir uns alle reinfizieren können. Möglicherweise ist das Virus eben doch stark beschränkt in seiner Mutationsfähigkeit.
Der Frühling steht vor der Tür. In der ersten Welle hat der Frühling die Wende gebracht. Kann uns das Hoffnung für diesen Frühling geben?
Wir kommen aus einer ganz anderen Situation. Wir haben eine extreme Ausbreitung des Virus im ganzen Land. Wir haben extrem hohe Inzidenzen in den meisten Landkreisen. Wir haben eine neue beherrschende Variante, die sich deutlich effektiver verbreiten kann. Ich sehe hier ehrlich gesagt keine Möglichkeit, dass wir uns mit den aktuellen Maßnahmen auf so ein niedriges Niveau wie im vergangenen Frühjahr runterbewegen können.
Mit Martin Stürmer sprach Katrin Neumann
Quelle: ntv.de