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Farbenfroh statt grauExperte: Germanen sahen "abgefahren" aus

15.11.2025, 10:22 Uhr
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Graue Vorzeit? Von wegen: Germanen experimentierten mit Farben. Frauen trugen Kleider aus bunten Stoffen. (Foto: Roman Pawlowski)

Wilde Krieger in Fell und Leder prägen unser Bild der Germanen. Ein Archäologe widerspricht, denn diese Vorstellung ist über 80 Jahre alt und falsch. Die Realität sei weitaus bunter und fortschrittlicher als gedacht.

Herr Banghard, Sie haben sich in Ihrem neuen Buch vorgenommen, einen Gegenentwurf zum – wie Sie es nennen – "Mainstream-Germanenbild" zu schreiben. Warum brauchen wir ein neues Germanenbild?

Karl Banghard: Weil das Bild, das Filme und selbst manche Schulbücher von den Germanen zeichnen, mehr als 80 Jahre alt ist – also unglaublich muffig. Da werden immer die gleichen, längst überholten Grunderzählungen reproduziert.

Zum Beispiel?

Nehmen wir die Netflix-Serie "Barbaren". Da erzeugen die Macher zwar ganz passable, wissenschaftsnahe Bilder von den Römern, von den Germanen dagegen ganz und gar nicht. Deren Kleidung folgt der Schlamm-und-Leder-Logik, nach dem Motto: Völlig egal, was die anhaben, denn das sind ja Barbaren. Hauptsache dreckig, wild und irgendwie primitiv.

Wie sahen die Germanen denn wirklich aus?

Abgefahrener! Wir wissen zum Beispiel, dass manche Germanen-Frauen – heute würden wir sagen: aus der gehobenen Mittelschicht – Hochsteckfrisuren mit Fremdhaar und zusammengenähten Zöpfen trugen. Ihre Kleidung war nicht erdfarben, sondern quietschbunt. Warum sieht man so was denn nicht in Schulbüchern und Filmen? Auch haben die Germanen keineswegs in völlig kahlen Häusern gelebt. Die Wände waren mit Teppichen geschmückt, und natürlich gab es Möbel wie Hocker und Sitzbänke. Außerdem müssen die Germanen-Darstellungen dringend entschmuddelt werden: Die Menschen hockten gewiss nicht permanent im Dreck.

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Karl Banghard (Mitte) leitet das Archäologische Freilichtmuseum Oerlinghausen im Teutoburger Wald. (Foto: Roman Pawlowski)

Welche anderen hartnäckigen Germanen-Stereotypen sollten wir schleunigst vergessen?

Dass die Germanen eine völlig eigenständige Religion hatten, die getrennt von der römischen zu sehen ist. Wir wissen heute, dass Germanen in verschiedenen Regionen sogenannte Matronen als lokale Muttergottheiten anbeteten. Das war kein speziell germanisches Ding, es handelte sich um keltisch-römisch-germanisches Göttersharing. Auch werden immer mehr römische Götterstatuetten in germanischen Siedlungsgebieten gefunden, etwa von Merkur, Mars und Jupiter. Gut möglich, dass Germanen sogar römische Gottheiten anbeteten.

Und was ist mit dem Bild von den Germanen als besonders kriegerische Gruppen?

Natürlich handelte es sich bei den Germanen, wie bei den Römern, um eine militarisierte Gesellschaft. Man muss dazu sagen, dass der Kontakt mit den Römern zu einer weiteren Militarisierung der germanischen Welt geführt hat. Doch es ist wichtig, germanische Gesellschaften nicht ausschließlich unter kriegerischen Aspekten zu sehen: Aus römischen Quellen wissen wir, dass germanische Gruppen in Krisenzeiten Heerführer benannten, diese dann aber alsbald wieder zurückpfiffen, sodass sich niemand zu einem dauerhaft alleinherrschenden Kriegerkönig aufschwingen konnte.

Der römische Geschichtsschreiber Tacitus charakterisiert die Germanen als faul, betrügerisch und trinkfreudig. Was steckt hinter diesen Zuschreibungen?

Nun ja, der Vorwurf, "Betrüger" zu sein, gehört zum Standardrepertoire von Erzählungen über vermeintliche Barbaren: Bereits die alten Griechen bezeichneten Gruppen außerhalb ihres Kulturkreises ähnlich. Mit dem Verweis auf Alkohol ist möglicherweise schlicht gemeint, dass die Germanen andere Vorlieben für alkoholhaltige Getränke als die Römer hatten, nämlich für Met und Bier. Hinter der Zuschreibung "faul beim Ackerbau" könnte tatsächlich etwas mehr stecken. Hier moralisiert Tacitus.

Inwiefern?

Bei den Römern galt die Feldbestellung als Zeichen der Tugend. Die Archäobotanik zeigt tatsächlich, dass die Germanen weit weniger intensiv Ackerbau betrieben als die Römer. Nicht, weil sie das nicht konnten, sondern weil sie nicht wollten. Sie machten sich einfach nicht so viel Stress mit Gartenarbeit.

Aber die Germanen müssen sich ja trotzdem ernährt haben.

Klar, der Hauptkalorienlieferant war wie in allen Agrargesellschaften das Getreide. Die Landwirtschaft der Germanen war aber nicht so sehr auf Überschuss ausgerichtet wie die der Römer. In germanischen Speiseresten finden sich erstaunlich hohe Anteile von Wildpflanzen. Sie haben zum Beispiel Eicheln gesammelt, geschält und geröstet. Sättigende Wildpflanzen kamen als Nahrungsergänzung mit ins Getreide. Auch gibt es Hinweise darauf, dass die Germanen auf einem abgeernteten Feld zunächst Wildpflanzen hochkommen ließen, die als zweite Ernte abgesammelt wurden, statt die Fläche sofort neu zu bestellen. Mit Ackerbau haben sich die Germanen also nicht gerade einen abgebrochen, sondern sie haben auf eine Mischung aus Effizienz und Nachhaltigkeit gesetzt.

Warum nun hat das "Mainstream-Germanenbild" einen so festen Platz in der deutschen Gesellschaft, wenn es doch seit mindestens 80 Jahren überholt ist?

Der grundlegende Systemfehler ist, dass wir nach 1945 das fest in den Hinterköpfen eingebrannte Germanenbild durch ein Vakuum ersetzen wollten. Das lässt sich leicht nachvollziehen: Waren die Germanen im Nationalsozialismus omnipräsent, hat man sich sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR zunächst reichlich wenig um Frühgeschichte gekümmert. Das änderte sich aber ab den späten 1980er-Jahren, als die Germanen auch in den Schulen wieder stärker zum Thema wurden. Und da griff man einfach auf die alten, stillgelegten Bilder und Germanenvorstellungen zurück, die es schon früher gegeben hatte.

Das vollständige Interview lesen Sie bei GEO.de. Hören Sie zu dem Thema auch die Podcast-Serie von GEO: Germanen gegen Rom.

Quelle: ntv.de

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