Infarkte, Totgeburten, Krebs Fukushima und das jahrzehntelange Leid
10.03.2016, 15:06 Uhr
Zeichnungen krebskranker Kinder aus der Präfektur Fukushima: Vielfach wurde Schilddrüsenkrebs festgestellt. Die japanischen Behörden hatten es nach dem GAU versäumt, schützende Jodtabletten zu verteilen.
(Foto: imago/Kyodo News)
Auch fünf Jahre nach der AKW-Katastrophe in Fukushima kommen Menschen in ganz Japan mit damals freigesetzten Radionukliden in Kontakt - über Luft, Trinkwasser und Lebensmittel. Selbst kleinste Strahlenmengen bergen große Gefahren.
Krebs. Die so gefürchtete, in vielen Fällen unheilbare Krankheit drängt sich schnell in den Vordergrund, wenn es um gesundheitliche Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima geht. Dass Radioaktivität krebserregend sein kann, ist hinlänglich bekannt. Sie kann zum Beispiel Leukämien hervorrufen und Lymphome. Auch der weniger aggressive und mit guten Heilungschancen verbundene Schilddrüsenkrebs kann auf das Konto radioaktiver Strahlung gehen. Aber Krebs ist nur eine Folgeerscheinung von vielen. "Auch Herz- und Hirninfarkte, Diabetes, gutartige Schilddrüsenerkrankungen und Erbgutschäden nehmen in strahlenbelasteten Regionen zu", sagt Angelika Claußen, Europa-Vorsitzende des IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs).
Als es im Atomkraftwerk Fukushima im Jahr 2011 gleich dreimal zur Kernschmelze kam, wurde die Region im Umkreis von 50 Kilometern evakuiert. Lebensmittel wie Milch, Obst, Gemüse, Getreide, Rindfleisch und Leitungswasser mussten kontrolliert und vielfach als verseucht beurteilt werden. Die Küstenfischerei wurde verboten, da Fische und Meeresfrüchte in der Nähe des havarierten Kraftwerks stark erhöhte Cäsium-Werte aufwiesen.
Bis zu 66.000 zusätzliche Krebsfälle
Reichten diese Maßnahmen aus, um die Bevölkerung vor gesundheitlichen Schäden zu bewahren? Vor hochdosierter Strahlung wurde sie möglicherweise weitgehend geschützt. Doch wie der IPPNW betont, können auch geringste Mengen Radioaktivität zu Zellschäden, Mutationen des Erbguts und Krebs führen. "Schon bei kleinen Strahlendosen besteht ein signifikant erhöhtes Risiko für Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Fehlbildungen bei Neugeborenen", sagt Claußen. Die Radionuklide Cäsium-137 und Strontium-90 haben eine Halbwertszeit von 30 und 28 Jahren. Noch immer gelangen sie in die Atmosphäre, das Grundwasser und den Pazifik. Menschen in ganz Japan kamen und kommen daher mit den radioaktiven Isotopen in Kontakt, sei es über eingeatmete Luft, verstrahltes Trinkwasser oder kontaminierte Lebensmittel.
Auf der Grundlage von Zahlen der Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt der IPPNW, dass es in Japan in den kommenden Jahrzehnten bis zu etwa 66.000 zusätzliche Krebsfälle geben wird – hervorgerufen durch den GAU. Ob eine diagnostizierte Krebserkrankung tatsächlich mit der Atomkatastrophe in Zusammenhang steht, ist allerdings schwer festzustellen. "Eine Krebserkrankung trägt kein Herkunftssiegel, so dass ein individueller Krankheitsfall nie kausal auf ein bestimmtes Ereignis zurückgeführt werden kann", räumt der IPPNW ein. Dennoch sei es möglich, mit breit angelegten Studien die Zahl der zusätzlichen, strahlungsbedingten Krebserkrankungen aus dem "Hintergrundrauschen" der üblichen Krebsfälle hervorzuheben und nachzuweisen.
Immer mehr Schilddrüsenkrebs bei Kindern
Die medizinische Universität von Fukushima hat sich nach dem GAU auf die Überwachung von Schilddrüsenkrebs bei Kindern festgelegt – und damit auf eine Krebsart, die sich direkt mit dem Reaktorunfall in Verbindung bringen lässt. Sind Luft und Nahrung mit radioaktivem Jod belastet, tritt Schilddrüsenkrebs gehäuft auf. Noch dazu ist dieser Krebs bei Kindern normalerweise – und so war es auch in Japan vor der Atomkatastrophe – so gut wie nicht vorhanden. Für gewöhnlich findet sich unter 300.000 Kindern nur eines pro Jahr, bei dem eine bösartige Veränderung der Schilddrüse festgestellt wird. Innerhalb von fünf Jahren sind statistisch 5 von 300.000 Kindern betroffen. Bei den Untersuchungen nach dem GAU aber ist das Verhältnis ein deutlich anderes: Seit Oktober 2011 ist unter den rund 360.000 Kindern, die in der Präfektur Fukushima leben, in 115 Fällen Schilddrüsenkrebs nachgewiesen worden. Für den IPPNW ein klares Ergebnis. "Dieser Anstieg … lässt sich nicht mehr mit einem sogenannten 'Screening-Effekt' begründen", lautet das Fazit der Organisation.
Auf den Screening-Effekt berufen sich die Kritiker. Sie sagen: Wer viel sucht, der findet auch viel. Soll heißen: Es wurden viele kleine Tumore entdeckt, die sonst unerkannt geblieben wären und im Kindesalter nicht zu Problemen geführt hätten. Doch auch die Studienverantwortlichen in Fukushima halten es angesichts der Zahlen für sehr unwahrscheinlich, dass sie vom Screening-Effekt herrühren. Andere Folgeschäden als Schilddrüsenkrebs bei Kindern schloss die japanische Regierung dem IPPNW zufolge von vorne herein aus. Weitere Reihenuntersuchungen blieben aus.
Mädchen kommen häufiger tot zur Welt
Statistiken allerdings zeigen: Seit der Reaktor-Havarie gibt es mehr Totgeburten. Diese Folge hatte man auch schon in den vom Tschernobyl-GAU betroffenen Gebieten beobachtet. Wie Arbeiten von Hagen Scherb, Biomathematiker am Helmholtz Zentrum München, und seinen Kollegen zeigen, mehrten sich dort auch die Fälle von Down-Syndrom und Fehlbildungen. Und noch etwas bemerkten die Wissenschaftler: Seit dem Reaktorunfall in Tschernobyl werden europaweit weniger Mädchen geboren. Häufiger als Jungen entwickeln sie im Mutterleib schwere Fehlbildungen und kommen tot zur Welt. Den Forschern zufolge weist diese Entwicklung deutlich darauf hin, wie stark Niedrigstrahlung die menschlichen Erbanlagen beeinträchtigt. Auch in Fukushima könnte sich dieser Effekt in den nächsten Jahren zeigen.
Ausgestanden ist die Fukushima-Katastrophe noch lange nicht. Die Aufräumarbeiten in dem Kernkraftwerk dauern an. Noch immer gelangt kontaminiertes Wasser ins Meer. 2015 gab es ein Leck, daneben drückt immer wieder Grundwasser in die Reaktorruine, wird radioaktiv verseucht, muss gereinigt werden, gelangt aber auch ohne Aufbereitung in den Ozean. Eine Eiswand, die das Grundwasser vom AKW-Gelände fernhalten soll, ist bislang erst teilweise in Betrieb. Über das Meer sind radioaktive Nuklide inzwischen auch an der Westküste der USA angekommen.
Einer Anfang des Monats veröffentlichen Studie japanischer Forscher zufolge sind die Fische vor der Küste Fukushimas mittlerweile jedoch kaum noch verseucht. Auch wird immer wieder auf den die Radioaktivität verdünnenden Effekt des Meeres verwiesen. Der IPPNW merkt dazu an, dass die radioaktiven Partikel dennoch nicht verschwänden, sondern sich lediglich über ein größeres Gebiet verteilten. Das sei gefährlich, da es eben keine sichere Untergrenze für Radioaktivität gebe. "Sogar die kleinste Strahlendosis kann, mit Wasser oder Nahrung aufgenommen, Krankheiten verursachen", heißt es im IPPNW-Report.
Welche Langzeitfolgen der GAU hat, wird sich erst in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zeigen. Das Kapitel seiner gesundheitlichen Auswirkungen ist noch lange nicht abgeschlossen. Es hat gerade erst begonnen.
Programmhinweis
Die sehenswerte Fukushima-Reportage von Nadja Kriewald finden Sie auf TV NOW. Unser Auslandsreport zum Thema läuft am Fr um 15:15 Uhr, Sa um 07:30 Uhr und 18:30 Uhr sowie Sonntag 09:30 Uhr.
Quelle: ntv.de