"Ein bisschen ein iPhone-Moment" Gehirn-Schnittstelle lässt Gelähmten wieder gehen
24.05.2023, 18:11 Uhr
Mithilfe von Gehhilfen kann der 38-jährige Patient laut den Forschern nun in eingeschränktem Maße wieder laufen, Treppen steigen und sogar komplexes Gelände durchqueren.
(Foto: CHUV / Gilles Weber)
Forschern aus der Schweiz gelingt es offenbar, einem gelähmten Mann wieder das Laufen zu ermöglichen. Dahinter steckt eine kabellose Übertragung von Gehirndaten zu Nervenzellen im Rücken. Unabhängige Experten zeigen sich beeindruckt - warnen aber vor überzogenen Hoffnungen.
Ein langgehegter Traum der Medizin könnte nun wahr werden: Gelähmten wieder das Gehen zu ermöglichen. Ein Forschungsteam aus Lausanne in der Schweiz hat bei einem 38-jährigen Patienten erfolgreich eine Gehirn-Rückenmark-Schnittstelle implantiert, bekannt als Brain-Spine-Interface (BSI). Diese ermöglicht es ihm, ein natürlicheres Gefühl der Kontrolle über seine Beine wiederzuerlangen. Der Mann litt zuvor zehn Jahren an Tetraplegie, einer vollständigen Lähmung von Armen und Beinen.

Patient und Wissenschaftler trainieren das Laufen mithilfe der "digitalen Brücke" im Universitätsspital Lausanne.
(Foto: Jimmy Ravier)
Der Patient nahm an einer klinischen Studie teil und machte dank der neuen Technologie bemerkenswerte Fortschritte. Mithilfe von Gehhilfen kann er mittlerweile in eingeschränktem Maße wieder laufen, Treppen steigen und sogar komplexes Gelände durchqueren. Die Forscher berichteten auch über kleinere, aber entscheidende Verbesserungen in Bezug auf Sinneswahrnehmungen und motorische Fähigkeiten des Patienten, selbst wenn das System abgeschaltet wurde. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift "Nature" veröffentlicht.
Elektroden in der Schädeldecke
Das BSI ist der Kern der Neuentwicklung. Es besteht aus zwei, vollständig in den Körper implantierten Systemen. Beide kommunizieren kabellos über eine "digitale Brücke" miteinander. Im ersten Teil des Systems werden zwei Implantate in der Schädeldecke des Patienten angebracht, welche über jeweils 64 Elektroden die Gehirnaktivität messen. Diese Daten leiten sie an eine tragbare Recheneinheit weiter.
Dieser kleine Computer berechnet dann aufgrund der Gehirndaten die beabsichtigte Bewegung und übersetzt sie in Stimulierungsbefehle, welche in Echtzeit an das zweite Implantat weitergegeben werden. Das besteht aus einem elektrischen Pulsgeber und mehreren Elektroden im Rücken des Patienten, welches die für Bewegung zuständigen Nervenzellen im Rückenmark stimuliert und dadurch die Muskeln aktiviert.
In wenigen Minuten einsatzbereit
Die Wissenschaftler haben festgestellt, dass das BSI innerhalb weniger Minuten kalibriert werden kann und über einen Beobachtungszeitraum von einem Jahr zuverlässig funktioniert hat, sogar während der selbständigen Nutzung durch den Patienten zu Hause.
"Es ist erstmal ein großer Fortschritt für diese Technologie", kommentierte Rainer Abel, Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Querschnittsgelähmte am Klinikum Bayreuth, die Studie, an der er selbst nicht beteiligt war. "Es ist schon so ein bisschen ein iPhone-Moment - als das auf den Markt kam, habe ich zuerst gedacht: 'Wozu brauche ich GPS beim Telefonieren in einer Großstadt?'. Jetzt wissen wir es."
An ähnlichen Systemen wird bereits seit Längerem geforscht: Das Grundkonzept wurde 1948 von Norbert Wiener in einem Buch zur Kybernetik vorgeschlagen. "Inzwischen gibt es immer wieder spannende Demonstration solcher Anwendungen an Einzelpatienten", sagt Winfried Mayr, Professor im Ruhestand von der Medizinischen Universität Wien. Bereits existierenden Varianten von Schnittstellen zum Hirn - entweder durch überziehbare Hauben oder in den Kopf eingepflanzte Konstruktionen - seien schon wiederholt etwa zusammen mit Roboterarmen, Prothesen und Exoskeletten getestet worden, so Mayr.
"Bisher mussten Probanden an Farben denken"
Der "Schlüsselaspekt" des neuen Systems sei jedoch, dass das Ganze in Echtzeit funktioniere, so Abel: "Bisher mussten Probanden intensiv an irgendetwas denken, beispielsweise eine bestimmte Farbe, und sich darauf konzentrieren." Bei diesem System jedoch reiche die Vorstellung der Bewegung selbst aus. "Die Signalverarbeitung ist ausreichend schnell, dass sie für die komplexen Bewegungen beim Laufen verwendet werden kann."
Allerdings könne das System kein Feedback an das Gehirn geben, gibt Abel zu bedenken. Daher sei unklar, "wie weit Stehen und Gehen alltagstauglich ohne diese Rückmeldung erfolgreich ist". Außerdem bleibe abzuwarten, ob der Aufwand, wie Kraft, Vorbereitung und Ausdauer, den Rollstuhl im Alltag überflüssig machten. Abel verweist auf andere Herausforderungen: Etwa brauche es Patienten, die bereit seien, sich "Teile der Schädeldecke mit Implantaten ersetzen zu lassen".
Kann man bereits von einer "neuen Ära" in der Behandlung von motorischen Defiziten sprechen? Norbert Weidner, Ärztlicher Direktor der Klinik für Paraplegiologie am Universitätsklinikum Heidelberg, mahnt zu Zurückhaltung: "Wie so häufig in der Vergangenheit, erachte ich dieses Statement als zu gewagt, mit der Gefahr, dass falsche Hoffnungen bei Betroffenen geweckt werden." Die Effektgröße des zusätzlichen BSI sei bisher überschaubar. "Der wesentliche Nachweis der Übertragbarkeit auf andere Patienten lässt weiter auf sich warten."
Quelle: ntv.de