"Weinte vor Freude" Hirnimplantat-Patient spricht fast fehlerfrei mit KI-Stimme


Casey Harrell, als er zum ersten Mal seine "gesprochenen" Worte auf dem Bildschirm sieht.
(Foto: UC Davis Health)
Mithilfe eines Hirnimplantats kann ein ALS-gelähmter Mann mit seiner KI-Stimme wieder nahezu fließend sprechen. Außergewöhnlich ist speziell die Genauigkeit, mit der die Neuroprothese Signale übersetzt, die bisher einzigartig ist.
Neurochirurgen der Universität von Kalifornien in Davis haben ein neues Brain-Computer-Interface (Gehirn-Computer-Schnittstelle/BCI) entwickelt und erprobt, das Gehirnsignale mit einer Genauigkeit von bis zu 97 Prozent in Sprache übersetzen kann. Laut Pressemitteilung handelt es sich damit um das bisher präziseste System seiner Art. Eine Studie über diese Arbeit wurde im "New England Journal of Medicine" veröffentlicht.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler setzten im Juli 2023 dem 45-jährigen Casey Harrell das Hirnimplantat ein, der zu diesem Zeitpunkt seit fünf Jahren an amyotropher Lateralsklerose (ALS) litt. Dabei handelt es sich um eine heimtückische Krankheit, die die Nervenzellen zerstört, die die Bewegungen im Körper steuern.
Laut Aerzteblatt.de war die Sprechgeschwindigkeit des Patienten auf 6,8 Worte pro Minute gesunken. Für einen englischsprachigen Menschen sind 160 pro Minute normal. Harrell konnte sich nur noch verständigen, indem er mit einer gyroskopischen Maus, die seine Kopfbewegungen auf einen Cursor übertrug, auf dem Bildschirm langsam Worte tippte.
Elektroden statt Nervenzellen
Die Neurochirurgen platzierten vier sogenannte Arrays auf Harrells Hirnhaut. Mit insgesamt 256 Mikroelektroden fangen diese die motorischen Signale an die Muskulatur von Lippen, Kiefer, Zunge und Kehlkopf ab, die normalerweise über Nervenzellen weitergeleitet werden. Die Signale werden dann an einen Computer übertragen, der sie über eine Software übersetzt. Dies geschehe nahezu in Echtzeit, wodurch der Patient mit gewissen Pausen zwischen den Worten annähernd fließend sprechen könne, so Aerzteblatt.de.
Der Patient sei innerhalb kurzer Zeit in der Lage gewesen, das System nach der Aktivierung zu bedienen, schreiben die Forscher. Beim ersten Sprachdatentraining habe das BCI 30 Minuten benötigt, um eine Wortgenauigkeit von 99,6 Prozent bei einem Wortschatz von 50 Wörtern zu erreichen.
"Als wir das System zum ersten Mal ausprobierten, weinte er vor Freude, als die Wörter, die er zu sagen versuchte, korrekt auf dem Bildschirm erschienen", sagt Neurowissenschaftler Sergey Stavisky. Alle Anwesenden hätten geweint. In der zweiten Sitzung vergrößerte sich der potenzielle Wortschatz auf 125.000 Wörter, wobei das BCI mit nur zusätzlichen 1,4 Stunden Trainingsdaten eine Genauigkeit von 90,2 erreichte.
Bisher nicht gekannte Präzision
Ihre Arbeit zeige die präziseste Sprachneuroprothese, die bisher bekannt sei, sagt Staviskys Kollege David Brandman. "Zum jetzigen Zeitpunkt können wir das, was Casey zu sagen versucht, in 97 Prozent der Fälle korrekt entschlüsseln. Das ist besser als viele handelsübliche Smartphone-Anwendungen, die versuchen, die Stimme einer Person zu interpretieren." Die Technologie sei wegweisend, weil sie Menschen, die sprechen wollen, es aber nicht können, Hoffnung gebe, so Brandman. "Ich hoffe, dass Technologie wie dieses Sprach-BCI zukünftigen Patienten helfen wird, mit ihrer Familie und ihren Freunden zu sprechen.
Grundsätzlich neu ist die Technologie nicht, auch andere Patienten können durch Hirnimplantate wieder sprechen. Frühere Sprach-BCI-Systeme hätten aber häufig Wortfehler aufgewiesen, erklärt Brandon. "Das machte es für den Benutzer schwierig, durchgängig verstanden zu werden, und stellte ein Kommunikationshindernis dar. Unser Ziel war es, ein System zu entwickeln, das es dem Nutzer ermöglicht, immer dann verstanden zu werden, wenn er sprechen möchte."
Eigene Stimme durch KI
Ein besonderes Erlebnis für Harrell ist auch, seine eigene Stimme nutzen zu können. Denn das, was er sagt, wird nicht nur auf einem Bildschirm angezeigt. Die Wissenschaftler trainierten für die Sprachausgabe über PC-Lautsprecher ein KI-Modell mit einer Rede, die Harrells hielt, bevor er an ALS erkrankte.
Wie gut das funktioniert, kann man in einem Video der Universität sehen und hören. Die Stimme passe optimal, sagt Harrell. "Sie bringt Leute zum Weinen, die mich lange nicht gehört haben." Er hoffe, dass bald alle Menschen, die wie er seien, ebenso die Möglichkeit bekommen, ein solches Gerät nutzen zu können, das ihnen zu kommunizieren hilft.
Er sei immer noch in der Lage, Vollzeit für den Klimaschutz zu arbeiten, sagt Harrell. Und mit diesem Gerät könne er dies besser und effizienter tun. "Nicht kommunizieren zu können, ist so frustrierend und demoralisierend", erklärt Harrell. "Es ist, als wäre man gefangen." So etwas wie diese Technologie werde den betroffenen Menschen zurück ins Leben und in die Gesellschaft helfen.
Quelle: ntv.de