Durchbruch an deutscher Uni "N6 ist der stärkste nichtnukleare Sprengstoff"
03.08.2025, 10:39 Uhr Artikel anhören
Mit Hexastickstoff oder N6 könnten in Zukunft Raketen angetrieben werden, glauben die Forscher - ganz ohne Feuerschweif und schädliche Emissionen.
(Foto: picture alliance/dpa/XinHua)
Peter Schreiner, Professor für Organische Chemie an der Universität Gießen, ist es mit seinem internationalen Team erstmals gelungen, ein Molekül aus sechs Stickstoffatomen herzustellen, auch Hexastickstoff oder N6 genannt. Es handelt sich dabei um die energiereichste Substanz, die jemals gebildet wurde. Bei sehr niedrigen Temperaturen von minus 196 Grad wurde im Labor ein dünner Film in Reinform hergestellt. Die dazugehörige Studie erschien in der renommierten Fachzeitschrift "Nature".
ntv.de: Herr Schreiner, dass Sie und Ihr Team erstmals N6 im Labor herstellen konnten, hat für viel Aufsehen gesorgt. Bitte verraten Sie uns: Was genau unterscheidet die Substanz von echtem Stickstoff, den wir ja dauernd mit der Luft einatmen?
Peter Schreiner: Es unterscheidet sich in seinen Eigenschaften zunächst kaum von dem Stickstoff in der Luft. N6 ist ebenfalls farblos und ich gehe auch davon aus, dass es geruchlos und geschmacklos ist. Der einzige Unterschied ist, dass ich statt zwei Atomen im Stickstoff-Molekül, also N2, sechs in einer Kette habe.
Warum ist dieses Molekül aus sechs Stickstoff-Atomen so explosiv?
Stickstoff will nicht in dieser Kette sein, sondern er will lieber N2 sein. Das heißt, wir haben ihn gezwungen, N6 zu bilden und das passt ihm so gar nicht. Er will lieber wieder N2 werden und die ganze Energie, die reingesteckt wurde, wieder zurückgeben. Und das Schöne dabei ist, dass dabei kein Kohlendioxid entsteht, sondern nichts anderes als reinste Luft.

Peter Schreiner leitet das Institut für Organische Chemie an der Universität Gießen. Für seine Arbeit hat er bereits viele Preise gewonnen.
(Foto: David Ausserhofer)
Wie viel Energie steckt in N6?
Wir haben ausgerechnet, dass es etwa zweieinhalbmal so energiereich ist wie TNT. Es ist damit der stärkste nichtnukleare Sprengstoff.
Das klingt gefährlich - wie haben Sie sich im Labor geschützt?
Der beste Schutz sind kleine Mengen, also Nanogramm-Mengen. Falls damit etwas passiert, dann sind die Auswirkungen gering. Zweitens haben wir die Substanz sehr stark abgekühlt, damit auch die Reaktionsfähigkeit abnimmt. Und drittens arbeiten wir mit Vollschutz, also speziellen Brillen, Handschuhen, Kleidung, Helmen. Außerdem hat man zwischen sich und dem Apparat noch einen Explosionsschild. Das ist schon ziemlich sicher.
Haben Sie N6 auch kontrolliert zur Explosion gebracht?
Nein, wir dürfen im Labor nicht absichtlich Explosionen herbeiführen. Aber wir haben seit Kurzem eine Partnerschaft mit einem Labor in Dresden, mit Raketentreibstoffentwicklern. Dort gibt es ein Außenlabor, wo wir N6 erzeugen und Zündversuche machen können. Dann werden wir auch sehen, ob es als Treibstoff für eine Rakete eingesetzt werden kann.
Damit kommen wir zur Frage, wozu man N6 nutzen kann. Also als Raketentreibstoff?
Insbesondere dafür kommt es infrage. Die Hoffnung ist, dass wir eine stickstoffbetriebene Rakete bauen können, die praktisch nur Luft ausbläst. Also ganz anders als die Raketen von Elon Musk, die zum Beispiel mit einem Methan-Sauerstoff-Gemisch fliegen. Das ist extrem gefährlich und auch eine ziemliche Umweltbelastung, allen voran entsteht natürlich sehr viel Kohlendioxid.
Heutige Raketenstarts sehen immer spektakulär aus, weil viel Treibstoff verbrannt wird. Wie kann man sich im Gegensatz dazu den Start einer hypothetischen N6-Rakete vorstellen?
Man würde fast gar nichts sehen, vielleicht ein bisschen weißen, kondensierten Wasserdampf. Wie so eine Art Traube um die Rakete. Denn durch die starke Expansion kühlt sich das Gas nach außen schnell ab. Die Rakete hat auch keinen Schweif, wenn sie hochzischt. Es wird alles farblos sein - recht unspektakulär.
Wären mit N6 leistungsfähigere Raketen als heute denkbar?
Ja, das auf jeden Fall. Das ganze System ist einfacher und erzeugt mehr Schub, weil es eine riesige Volumenexpansion gibt. Denn bei N6 werden aus einem Molekül drei Moleküle. Bei den Treibstoffen Methan und Sauerstoff hingegen werden formal aus zwei Molekülen wieder nur zwei Moleküle, nämlich CO2 und Wasser. Da gibt es weniger Expansionsarbeit und somit weniger Schub.
Wann, glauben Sie, könnte das Realität werden?
Das bedarf noch sehr ernsthafter Forschung und viel Geld. Um das in eine Rakete reinzubringen, muss ingenieurmäßig vieles bedacht werden. Aber mit ausreichend Geld und wenn alle Ergebnisse positiv sind, könnte man vielleicht in drei bis fünf Jahren eine Testrakete bauen.
In den heutigen geopolitisch unsicheren Zeiten wäre auch eine militärische Nutzung naheliegend.
Was mich ein bisschen gewundert hat, muss ich zugeben, ist, dass ich bisher keinen Anruf von einem Forschungslabor der Bundeswehr bekommen habe. Das Potenzial, N6 in der einen oder anderen Weise auch für einen Verteidigungsauftrag zu nutzen, ist natürlich da.
Sie schreiben in Ihrer Studie auch von N6 als sauberem Energiespeicher - wie kann man sich das vorstellen?
Man kann dafür N6 selbst als Energiespeicher verwenden oder die Ausgangsmaterialien Silberazid oder Natriumazid und Chlor. Natriumazid wird im Tonnenmaßstab industriell hergestellt und wurde früher als Treibstoff in Airbags verwendet. Und Chlor ist auch eine Industriechemikalie. Führe ich beides zusammen, erzeuge ich im Prozess N6, das dann seine Energie abgeben kann. Am Ende entstehen nur Kochsalz und Stickstoff, also sauberer geht es nicht.
Bei Energiespeichern spielt auch der Wirkungsgrad eine Rolle, also wie viel der zugeführten Energie nach der Speicherung wieder genutzt werden kann. Bei Akkus ist der Wirkungsgrad hoch, bei Wasserstoff deutlich kleiner. Wie sieht es bei N6 aus?
Wie viel dann mit Blick auf den Wirkungsgrad rauskommt, das hängt von sehr vielen Faktoren ab, etwa, wie viel Energie in die Herstellung, Lagerung und Speicherung fließt. Das sind Dinge, die uns noch gar nicht bekannt sind. Ob das am Ende ein lohnendes Verfahren wird, ist derzeit vollkommen offen.
Auch andere Forschergruppen hatten sich schon länger daran versucht, N6 herzustellen. Sie und Ihr Team sind die Ersten, denen es gelungen ist. Was ist Ihr Geheimnis?
Wir hatten vorher schon ähnliche Chemie mit Phosphor gemacht. Phosphor zählt auch zur Stickstoffgruppe, in der alle Elemente ähnliche Eigenschaften aufweisen. Wir hatten über Phosphor einiges Neues gelernt und es ist uns auch einiges damit gelungen. Ich war daher von Anfang an sehr optimistisch, weil es naheliegend war, dass es auch mit Stickstoff funktioniert. Und es hat sofort geklappt. Aus chemischer Sicht ist es auch überhaupt nicht kompliziert, wenn man weiß, wie es geht. Es hatte bisher einfach keiner aus der berühmten Box heraus gedacht.
Ein Chemiker-Kollege, Karl Christe, hatte in einem Kommentar Ihre Entdeckung als nobelpreiswürdig bezeichnet. Bereiten Sie sich innerlich nun schon auf den Erhalt des Nobelpreises vor?
(lacht) Nein, ganz und gar nicht. Das bewerten ja immer andere und liegt vollkommen in den Sternen. Und im Regelfall dauert es auch viele Jahre, bis sich gezeigt hat, ob die Entdeckung wirklich etwas Nützliches hervorbringt.
Mit Peter Schreiner sprach Kai Stoppel
Quelle: ntv.de