Skelett in norwegischer Burg Rätsel um sagenumwobenen "Brunnenmann" gelüftet
28.10.2024, 13:35 Uhr Artikel anhören
Das Skelett, wie es 1938 gefunden wurde. Der Plan, die Überreste zu bergen, wurde durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen.
(Foto: Norwegian Institute for Cultural Heritage Research)
Die "Sverris Saga" ist eine der bekanntesten Geschichten in Norwegen. Darin geht es um Sverre Sigurdsson, der im 12. Jahrhundert Norwegen regierte, und um einen Mann im Brunnen. Archäologen können nun nach 800 Jahren den mysteriösen "Brunnenmann" identifizieren.
In Türmen gefangene Prinzessinnen, Ritter, die Drachen bekämpfen, und Könige, die Schätze suchen: Seit Jahrhunderten erzählen Sagen fantastische Ereignisse der Menschheitsgeschichte. Forscherinnen und Forscher aus Norwegen haben nun bewiesen, dass in der sogenannten "Sverris Saga" doch mehr Realität steckt als gedacht. Darüber berichten die Forschenden in einer neuen Studie in der Zeitschrift "iScience".
Vieles, was über die frühe Geschichte Norwegens bekannt ist, stammt aus der "Sverris Saga". Benannt ist die mittelalterliche Erzählung nach ihrer Hauptfigur, dem norwegischen König Sverre Sigurdsson. Die nach ihm benannte Sage erzählt von Sverres Aufstieg auf den norwegischen Thron im Jahr 1177, über die Bürgerkriege in seiner Amtszeit bis hin zum Tod des Königs im Jahr 1202. Wissenschaftler haben lange über die Glaubwürdigkeit der Sage als historisches Dokument diskutiert.
1197 sollen die Bagler, Feinde des Königs, in dessen Abwesenheit Sverresborg, die Burgfestung von König Sverre Sigurdsson, belagert haben. Die Bagler sollen der Sage zufolge die Burg geplündert und die Häuser niedergebrannt haben. Weiter sollen die Belagerer einen Mann kopfüber in den Brunnen der Burg geworfen haben, um das Wasser zu vergiften. Ein Forschungsteam konnte nun neue Details über die Identität jenes "Brunnenmannes" aus der Sage herausfinden.

Das beinahe vollständige Skelett des "Brunnenmanns".
(Foto: Norwegian Institute for Cultural Heritage Research)
800 Jahre im Brunnen
Bis zu einer Ausgrabung 1938 war der "Brunnenmann" nur eine Figur aus der Sage, deren Existenz nicht bestätigt war. Damals fanden Archäologen in einem verlassenen Brunnen der Burgruinen von Sverresborg außerhalb von Trondheim in mehr als sechs Metern Tiefe menschliche Überreste. Doch während der deutschen Besatzung Norwegens im Zweiten Weltkrieg kamen die Ausgrabungsarbeiten zum Erliegen und das mysteriöse Skelett aus dem Brunnen geriet in Vergessenheit.

Der verletzte Schädel des "Brunnenmannes".
(Foto: Norwegian Institute for Cultural Heritage Research/ Thomas Andersen)
Über 70 Jahre später gruben Archäologinnen und Archäologen wieder im Brunnen der norwegischen Burgruine. Bei Ausgrabungen 2014 und 2016 wurden weitere Überreste gefunden: darunter eine linke Hand, ein Lederschuh und nur wenige Meter vom Körper entfernt auch ein Schädel. Für ein vollständiges menschliches Skelett fehlten nur ein Fuß, ein Arm und ein Schulterblatt.
"Für mich sah er aus, als wäre er schwer verletzt worden, bevor er in den Brunnen geworfen wurde", sagte die Ausgrabungsleiterin Anna Petersen, Archäologin am Norwegischen Institut für Kulturdenkmalforschung, der "New York Times". "Auf der Rückseite seines Schädels befand sich eine frische Wunde, die möglicherweise durch einen Schlag auf den Kopf verursacht wurde."

Langer Prozess: Es hat mehr als 800 Jahre gedauert, um den "Brunnenmann" aus der Sage zu identifizieren.
(Foto: Norwegian Institute for Cultural Heritage Research/ Thomas Andersen)
Eine Radiokarbondatierung eines Rippenknochensplitters ergab, dass der Mensch, dem der Knochen gehörte, vor etwa 800 Jahren gelebt hat. Dieser Zeitraum stimmt mit der Sage überein. Ebenso analysierten die Forschenden die DNA der Backenzähne, die bei der Ausgrabung gefunden wurden: Die Zähne gehörten zu einem Mann im Alter von 30 bis 40 Jahren, der blaue Augen, helle Haut und blondes oder hellbraunes Haar hatte.
Existenz von sagenumwobener Figur geklärt
"Dies ist das erste Mal, dass die Überreste einer Person oder einer Figur, die in einer nordischen Sage beschrieben wird, eindeutig identifiziert wurden", sagte Michael David Martin der NYT. Er ist ein Evolutionsgenetiker des Museums der Norwegischen Universität für Wissenschaft und Technologie. "Es ist auch der älteste Fall, in dem wir die vollständige Genomsequenz einer bestimmten Person, die in einem mittelalterlichen Text erwähnt wird, rekonstruiert haben."
Auch der norwegische Historiker Tore Skeie sagte der NYT: "Erkenntnisse wie diese ermöglichen es, die Glaubwürdigkeit von 'Sverris Saga' und ähnlichen Texten auf neue Weise zu beurteilen." Zudem fand das Forschungsteam heraus, dass die Vorfahren des "Brunnenmannes" aus einer südnorwegischen Provinz stammten. Das könnte laut dem Team darauf hinweisen, dass die Bagler vielleicht einen ihrer eigenen Toten in den Brunnen geworfen haben.
Weiterhin unbeantwortet bleibt jedoch die Frage, wie genau der Mann in dem Brunnen gelandet ist. "Alles, was wir mit Sicherheit über diese anonyme Person sagen können, ist, dass sie ein Opfer von Brutalität war", sagte Petersen der NYT. "Ich denke, dass wir ihm zumindest eine Identität und eine Geschichte gegeben haben, die vorher niemand wirklich kannte."
Quelle: ntv.de, rwe