Wissen

"Tendenziell wird das mehr" So viele Neugeborene haben eine Hörstörung

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Seit 2009 ist das Universelle Neugeborenen-Hörscreening (UNHS) bundesweit Pflicht. Kinder werden kurz nach der Geburt auf mögliche Hörschaden untersucht.

Seit 2009 ist das Universelle Neugeborenen-Hörscreening (UNHS) bundesweit Pflicht. Kinder werden kurz nach der Geburt auf mögliche Hörschaden untersucht.

(Foto: IMAGO/BSIP)

Zwar hören viele Menschen mit zunehmendem Alter schlechter, aber manche kommen schon mit Hör-Beeinträchtigungen auf die Welt. Dafür gibt es verschiedene Ursachen - in der Mehrheit der Fälle spielen die Gene eine Rolle. Ob das eigene Kind betroffen ist, kann man mit einem einfachen Test feststellen.

Die Polizeiauto-Aufkleber machen deutlich, dass diese Hörhilfe nicht einem alten Mann gehört. Der Siebenjährige, der sie trägt, kam mit einer mittelgradigen Hörschädigung auf die Welt. Es folgte ein Hörsturz, die Beeinträchtigung wurde stärker. Inzwischen trägt der Junge auf beiden Seiten Cochlea-Implantate, die ihm mithilfe winziger elektrischer Impulse das Hören ermöglichen.

Etwa eins von 1000 Neugeborenen ist von Hörstörungen betroffen, wie die Leiterin der Phoniatrie und Pädaudiologie am Städtischen Klinikum Karlsruhe, Monika Tigges, erklärt. 50 bis 70 Prozent der Fälle seien genetisch verursacht. "Tendenziell wird das mehr." Meist sei das Innenohr betroffen, in dem sich sogenannte Haarzellen nicht richtig entwickelten. Diese bewegen sich eigentlich bei Schall und geben den Reiz an den Hörnerv weiter, wie die Professorin sagt. Funktioniere das nicht richtig, beeinträchtige dies das Hörvermögen.

Auffälligkeiten bei Neugeborenen-Hörscreening

OAE-Test (OAE: otoakustische Emissionen) bei einem Neugeborenen. Damit lassen sich Hörstörungen erkennen.

OAE-Test (OAE: otoakustische Emissionen) bei einem Neugeborenen. Damit lassen sich Hörstörungen erkennen.

(Foto: IMAGO/BSIP)

Feststellen kann man das oft schon mit einem einfachen Test, bei dem ein Gerät einen Ton in das Ohr abgibt und gewissermaßen das Echo misst. Das werde in der Regel noch in der Geburtsklinik gemacht, sagt Tigges. Hörstörungen früh zu erkennen ist der Ärztin zufolge vor allem deshalb wichtig, weil die ersten Jahre für die Sprachentwicklung entscheidend sind.

Die Einführung des Neugeborenen-Hörscreenings bezeichnen die Eltern des Siebenjährigen aus Karlsruhe als Meilenstein. In seinem Fall aber hatte die Mutter das Krankenhaus nach der Geburt schnell verlassen können, sodass die Untersuchung erst ein halbes Jahr später gemacht wurde. "Die Diagnose war erst mal ein Schock", sagt der Vater.

Es folgten - und folgen bis heute - regelmäßige Termine unter anderem beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt, beim Akustiker, bei einer sonderpädagogischen Beratungsstelle und bei Fachärzten in der Freiburger Uniklinik, wo alle paar Monate die Einstellungen der Cochlea-Implantate verfeinert werden. "Da müssen Mensch und Gerät trainieren", sagt der Vater.

Blätterrauschen stört

Bei der Technik werden die Nervenzellen des Hörnervs elektrisch stimuliert. Dafür wird ein Elektrodenträger in die Hörschnecke eingeführt, die laut Tigges im Grunde nach der Geburt kaum noch wächst. "Deswegen kann man die OP schon ab einem Jahr machen." Der äußere Teil der Hörprothese besteht aus einem Mikrofon und einem Prozessor, der die Schallinformationen in elektrische Impulse umwandelt.

Für Entfernungen und in lauterer Umgebung wie im Kindergarten oder in der Schule gibt es Mikrofone, die mit dem Implantat vernetzt sind, damit die Stimme der Eltern oder Lehrer auch durchdringt, wenn ein Bus vorbeifährt oder andere Kinder lärmen. "Wir sind glücklich, dass es diese technischen Möglichkeiten gibt", sagt der Vater.

Aber wo gesunde Menschen Hintergrundgeräusche spielend leicht ausblenden, kommt ein Soundprozessor an Grenzen. So wird selbst vermeintlich idyllisches Blätterrauschen zur Strapaze. "Für uns Eltern ist das schwierig nachzuvollziehen, wir kennen das als Normalhörende ja nicht." Auch sei die Technik nicht ganz wasserdicht. Und das Gehirn müsse sich erst an die neue Art zu hören gewöhnen. So habe der Sohn neu gelernt, zu orten, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt.

Viel reden

Auch für die Eltern bedeutet eine Hörbeeinträchtigung eine große Herausforderung, wie deutlich wird: Sie versuchen, beim Sprechen Blickkontakt zum Kind zu haben. Denn auch Mimik helfe dem Sohn beim Verstehen, sagt die Mutter. "Und er kann Lippenlesen."

Zudem heißt es: viel reden. "Gesunde Kinder müssen ein Wort 100 Mal hören, bis sie es sprechen können", erklärt sie. Mit Hörschädigung seien es 200 Mal. "Ich rede also doppelt so viel mit ihm." Gleiches gilt für den kleinen Bruder: Auch er kam mit Hörbeeinträchtigungen auf die Welt.

Mehr als 100 Gene können Hörstörungen verursachen

Hörminderungen auf beiden Ohren und ein frühes Auftreten sind laut Hanno Bolz vom Bioscientia-Verbund medizinischer Labore Indizien für genetisch bedingte Hörstörungen. Wenn zusätzlich eine familiäre Häufung hinzukomme, sei praktisch sicher von einer erblichen Ursache auszugehen. "Mehr als die Hälfte der Erkrankungen ist erblich bedingt", sagt Bolz. Das gelte auch bei Hörstörungen, die nicht schon bei der Geburt vorliegen, sondern sich erst in der Kindheit, Jugend- oder dem frühen Erwachsenenalter entwickeln.

Das Problem: Bei etwa 30 Prozent der Betroffenen sei die Hörstörung nur eines von mehreren Symptomen, die mit der Zeit zu erwarten sind. Bei den sogenannten syndromalen Erkrankungen können zum Beispiel auch Augen, Herz oder andere Organe betroffen sein, wie Bolz erklärt. Mehr als 100 Gene seien bekannt, die Hörstörungen verursachen können. "Da ist man aber noch nicht am Ende der Fahnenstange."

Dem Ganzen einen Namen geben

Ist eine genetische Ursache identifiziert, wisse man, ob weitere Symptome zu erwarten sind, welche Fachärzte gegebenenfalls hinzugezogen werden müssen und welche regelmäßigen Kontrolluntersuchungen nötig sind. Das mache die weitere Behandlung effizienter, ist Bolz überzeugt.

Mehr zum Thema

"Und vielen Eltern hilft es insbesondere bei Syndromen schon, dem oftmals komplexen klinischen Erscheinungsbild überhaupt mal einen Namen geben zu können", sagt er. "Oder zu wissen, dass sie in der Schwangerschaft nichts falsch gemacht haben."

Die Eltern der beiden Jungen aus Karlsruhe wollten ebenfalls wissen, wie es weitergeht, "ob da noch was zu erwarten ist". 100-prozentig sei das zwar nicht gelungen, sagt der Vater. Die bekannteren syndromalen Erkrankungen seien aber ausgeschlossen. Ihr ältester Sohn, der mit zweieinhalb Jahren gerade mal 20 Worte gesprochen habe, hat das weitgehend aufgeholt. "Er hat eine enorme Sprachfreude." Seit Kurzem geht er zur Schule.

Quelle: ntv.de, Marco Krefting, dpa

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen