
Wie viele kennst Du?
(Foto: imago images/photothek)
"Es waren keine engen Freunde, die Verlorenen, bis heute zumindest. Es waren Bekannte, Freunde von Freunden, wie Nicos' alter Mitbewohner Jonathan. Ein Barkeeper, der Typ aus dem Buchladen. Das waren, wie viele? Sechs? Sechs Leute, von denen er gehört hatte. Aber jetzt, eine neue Liste: Ein enger Freund." (Auszug aus "Die Optimisten")
Bücher über die Pest, Cholera oder die spanische Grippe verkaufen sich wieder gut. Können sie uns etwas über die Pandemie, die uns jetzt geißelt, sagen? Vielleicht. Vielleicht müssen wir aber auch nicht ganz so weit zurückgehen, denn in weitaus jüngerer Zeit hat auch ein "neuartiger Virus" ganze Freundeskreise ausgelöscht. Hat Angst und Schrecken verbreitet. Hoffnung auf eine Impfung, eine Heilung, ein Verschwinden genährt und ist doch geblieben. Bis heute. Moderierbarer, aber dennoch. Fast 40 Millionen Menschen leben aktuell weltweit mit einer HIV-Infektion.
In ihrem Buch "Die Optimisten" nimmt uns Rebecca Makkai mit ins Chicago der 1980er Jahre. Und zeigt, wie ein Virus Leben sprengt und seine Opfer, Überlebende und Angehörige, bis ins Jahr 2015 verfolgt. Die 1978 geborene Makkai stellt uns Yale, Fiona und ihre Freunde vor. Sie lässt uns teilhaben an ihrem Leben, an den gemeinsam verbrachten Jahren 1985, 1986, 1990, und sie lässt uns mit ihnen gemeinsam Angst haben. Lässt Fiona als Überlebende zurück. Eine Schwester und Freundin, die an zu vielen Sterbebetten saß und darüber ihre eigene Tochter vergessen hat.
Hätte man das Buch im Jahr 2015 gelesen, wäre es eine Erinnerung gewesen. Wir hätten beim Gedanken daran, was für ein Todesurteil HIV damals, am Anfang, noch war, geschaudert. Uns damit beruhigt, dass es jetzt wunderbare Medikamenten-Cocktails gibt, so man denn in einem Land mit einem funktionierenden Gesundheitssystem lebt. Wir hätten an die Filme "Philadelphia" und "Dallas Buyers Club" erinnert. An Rock Hudson, Freddy Mercury. Schlimm, schlimm. Wen der mitreißende Roman besonders bewegt hätte, hätte vielleicht auch ein wenig an die zahlreichen Aids-Einrichtungen gespendet.
Selber schuld
Jetzt lässt einen das Buch anders erschaudern. Die Angst, in Clubs zu gehen, die noch vor kurzem das Paradies waren und einen jetzt in die Hölle schicken könnten. Das Misstrauen anderen Menschen gegenüber. Die Tatsache, dass man mit jeder Begegnung auch alle Begegnungen, die ein Freund, ein Familienmitglied zuvor hatte, einkalkulieren muss. Das ist Alltag geworden. Weltweit.
Natürlich verbreitet sich HIV anders als Covid-19. Die gesellschaftlichen Mechanismen sind aber erstaunlich ähnlich. "Einige Individuen, einige davon unglücklicherweise in Machtpositionen, lieben es, Menschen für deren Krankheiten zu beschuldigen. Du hättest keinen Sex haben sollen, du hättest nicht an diesen Ort gehen sollen. Ich denke, sie machen das, um sich selbst sicherer zu fühlen, als ob ihnen dann nichts Schlimmes zustoßen könnte", sagte Makkai bei der US-Veröffentlichung ihres Buches 2018 in einem Interview und meinte damit die Trump-Regierung, die gerade das HIV/AIDS Advisory Council aufgelöst hatte. Heute können wir hier die Worte Vorerkrankungen, Übergewicht, Alter, Armut einsetzen.
Am Ende sehnt sich ein Freund Fionas, noch während er es erlebt, bereits zurück in die Zeit, als Gentrifizierung einem als großes Problem, vielleicht das größte Problem unserer Zeit, der letzten, guten Zeit, erschien. Es ist 2015, wir sind in Paris. Die Straßen sind voller Blaulicht. Der Terroranschlag in dem französischen Veranstaltungsort Bataclan wird so etwas wie eine Zeitenwende markieren. Danach werden der Brexit, ein neuer US-Präsident, die Erfolge populistischer Politiker auch in Europa, weitere Terroranschläge und schließlich die Corona-Pandemie vieles von dem infrage stellen, was wir 2015 für selbstverständlich hingenommen haben. Als wären die schlechten, alten 1980er-Jahre-Zeiten wieder da.
Quelle: ntv.de