
Berlin bei Nacht: Kaufhaus an der Leipziger Ecke Markgrafenstraße, 1931.
(Foto: imago/Arkivi)
"Jeder einmal in Berlin!" - diesen Slogan hatte das Fremdenamt in den 1920ern ausgegeben, um noch mehr Besucher in die Hauptstadt zu locken. Was sie dort erwartet an Zerstreuung und Vergnügen, und zwar für jedes Gelüst, steht im "Führer durch das lasterhafte Berlin".
Was heute "Be Berlin" ist, war ab den 1920er-Jahren "Jeder einmal in Berlin!" - diese Parole wurde damals vom Fremdenamt der deutschen Hauptstadt ausgegeben, in einer Zeit, als Tourismus noch Fremdenverkehr hieß. Der Slogan, lockend und fast diktatorisch zugleich, sollte noch mehr Besucher in die Stadt locken.
Der Autor Curt Moreck schrieb das passende Buch dazu: "Ein Führer durch das lasterhafte Berlin – Das deutsche Babylon 1931"; der Bebra-Verlag hat es jetzt neu aufgelegt. Moreck wandte sich mit seinem ungewöhnlichen Stadtführer vor allem an die damals jährlich mehr als 1,5 Millionen Berlin-Besucher - und nicht auf die üblichen Sehenswürdigkeiten wollte er sie aufmerksam machen, sondern auf die Orte "des Vergnügens und der Zerstreuung". Das reicht von Kaffeehaus und Kino über Rummel und Ballhaus bis zu den Stammlokalen der Schwulen, Lesben und Transvestiten. Denn, so der Autor: "Jede Stadt hat eine offizielle Seite und eine inoffizielle und es erübrigt sich zu sagen, dass die letztere die interessantere und für das Verständnis eines Stadtwesens aufschlussreichere ist."
Berlin sei eine Stadt der Gegensätze und es sei eine Lust, diese zu entdecken: "Wer mit Genuss reist, der muss beide Seiten einer Stadt kennenlernen, ... der darf nicht an der Oberfläche stehen bleiben, sondern muss sich in die Tiefen wagen. Sie sind das amüsantere Niveau des Lebens." Sein Buch schließlich solle wie ein Faden durch das Labyrinth des nächtlichen Berlins sein.
Die große, die kleine und die halbe Welt
Moreck war zwar selber nicht hier geboren, sondern 1888 in Köln, zudem lebte er lange in München und erst später in Berlin - das Buch klingt aber so, als ob er sich in der Hauptstadt und ihren diversen Etablissements sehr gut auskannte (oder zumindest tut er so, als ob). In den acht Kapiteln hangelt er sich an den Tageszeiten entlang durch die verschiedenen Genres an Vergnügungsstätten und durch die einzelnen Stadtteile, meist im Zentrum Berlins. Wo nimmt die "große, die kleine und die halbe Welt" ihren Nachmittagstee ein, was passiert in den Kaffeehäusern? Es geht um Fünfuhr-Frauen und Tête-à-Tête-Abende in Mokka-Dielen und um die Orte des Auftakts zum Nachtleben.
Den Anfang bildet jedoch das Kapitel "Von der City in den Westen - Friedrichstraße und Kurfürstendamm - Die Zentren des Amüsierbetriebs" - in dem Moreck der Friedrichstadt, dem Straßenzug zwischen Bahnhof Friedrichstraße und Leipziger Straße bescheinigt, sie sei verstaubt, die Amüsierbetriebe gestrig - "'Friedrichstraße' ist keine Wertmarke mehr". Immerhin hätten die Vergnügungen noch einen gewissen musealen Reiz und der "Wintergarten", damals noch Friedrich-, Ecke Dorotheenstraße (heute Potsdamer Straße) habe nichts von seinem Weltruhm verloren. Aber sonst: Ramschhandel und "zweifelhafte Bazareleganz". Ein vernichtendes Urteil - ganz anders hingegen die Gegend um Kurfürstendamm und Tauentzien. Modern, frisch, lebendig, jugendlich - "hier ist Berlins Boulevard". Und dann die vielen schönen Frauen! "Die Tauentziengirls von damals sind Mütter geworden, wenn sie vielleicht auch dank Bubikopf und Kosmetik so aussehen, als wären sie nur die älteren Schwestern ihrer Töchter."
"Die Gefilde der gewalttätigen Venus"
Wenn da nicht die zweifelhaften Nebenstraßen des Tauentzien wären, mit ihrer "unbürgerlichen Immoral" und "neuzeitlichen Libertinage", hier sind nämlich "die Gefilde der gewalttätigen Venus, hier ist die Promenade der edlen Ritterinnen vom Orden des Marquis de Sade" mit ihren hohen Stiefeln. Im Licht der Schaufenster des Kadewe bieten jene "Spezialistinnen" ihre besonderen Dienste an.
Und so geht es locker-flockig weiter durch Cafés mit Damentischen, mit Hornbrillen-Intellektuellen und Monokelmädchen; durch Mokka-Dielen, in denen zu billigem Mokka in Séparées geknutscht werden konnte. Es geht zu den großen Kinos, "meist imposante Räume mit behaglicher Atmosphäre", und den Restaurants zum Abendessen. Schon damals hieß es "Auf welche Art wollen Sie essen? Die Küchen aller Nationen" - ob russisch im "'Russenviertel', wo sich das emigrierte Russland mit dem sowjetischen friedlich begegnet", italienisch, ungarisch oder auch chinesisch. Denn "in der Kantstraße nächst dem Savignyplatz haben sich die chinesischen Restaurants angesiedelt, wo außer den gelben Studenten auch abendländische Besucher verkehren". Diese Konzentration an chinesischen Restaurants in dieser Gegend hat sich bis heute gehalten.
Berlin nicht lasterhafter als andere Städte
Auch die Konzentration der Clubs und Treffpunkte für Schwule und Lesben in Schöneberg, in der Gegend um den Nollendorfplatz und die Bülowstraße, findet sich nach wie vor. Diesem Teil des Nachtlebens, den Homosexuellen, den Transvestiten und denen, wo man gar nicht so recht weiß, widmet sich Moreck unter "Stammlokal des mannmännlichen Eros" und unter "Lesbische Lokale". Und er konstatiert, Berlin sei "sicher nicht lasterhafter als Paris oder London oder eine andere Stadt der Welt, nur ist man hier teils weniger verschämt, teils weniger heuchlerisch." Das kann man sicher auch heute noch so stehen lassen.

Nach dem großen Umbau: der Bahnhof Alexanderplatz 1933. Der Platz selbst liegt rechts hinter den "neuen Hochhäusern" Berolina- und Alexanderhaus.
(Foto: imago/Arkivi)
Auch sonst kann der aufmerksame Leser und Berlin-Kenner oder -Entdecker im Buch das eine oder andere entdecken, das immer noch, fast 90 Jahre später so oder so ähnlich existiert: Clärchens Ballhaus, Admiralspalast, Hotel Adlon, Lutter und Wegner ... Sehr vieles ist aber verschwunden oder hat sich gänzlich gewandelt, wie etwa die Gegend um den Alexanderplatz, zwischen dem Stettiner (heute Nordbahnhof) und dem Schlesischen Bahnhof (heute Ostbahnhof). Hier geht es damals eher schmuddlig zu, hier drängen sich billige Kaschemmen und rauchige Kneipen, hier kann man "einen Blick in die Unterwelt tun". Gleich neben dem Polizeipräsidium (in "Babylon Berlin" ein Zentrum des Geschehens), wie auch Moreck verwundert feststellt: "Hier ist im wahrsten Sinne die Schattenseite Berlins. Wer hier lebt, lebt im Dunkel. Merkwürdig, dass am Alexanderplatz, wo die Zwingburg der Gerechtigkeit, Berlins Scotland Yard, sich erhebt, auch die Verbrecherwelt sich konzentriert, gleichsam unter dem Protektorat der Polizei."
Gaunerzentrum Alexanderplatz
Doch der Alexanderplatz erlebte damals bereits einen großen Umbruch, wie auch von Alfred Döblin in seinem Roman "Berlin Alexanderplatz" 1929 beschrieben - das Berolina- und das Alexanderhaus wurden errichtet, der ganze Platz komplett umgestaltet. Die Gegend ist heute ungleich heller, schicker und teurer, vor allem was das ehemalige Scheunenviertel betrifft. Mit unzähligen Designermode-Geschäften, Cafés und Restaurants ist es fest in Touristen- und Hipsterhand. Die Kriminalitätsrate am Alexanderplatz ist jedoch immer noch hoch; als eine Konsequenz daraus wurde im Dezember 2017 dort eine neue Polizeiwache eingerichtet.
Mit dem "Führer durch das lasterhafte Berlin" kann der Leser also quasi auf eine Zeitreise zurück und wieder vor gehen. Manches ist sehr frisch formuliert und klingt modern und wie heute; an anderen Stellen fabuliert Moreck ziemlich drauflos und verwendet auch die eine oder andere Formulierung oder Vokabel, die heute nicht mehr geläufig ist. Hier schafft ein kleines Glossar von Namen und Begriffen am Ende des Buches Abhilfe. Zudem findet sich dort ein alphabetisch geordnetes Registers der erwähnten Orte samt Adresse. 40 Fotos aus den 1920er- und 1930er-Jahren, im Text verteilt, und Auszüge aus alten Stadtplänen lassen zusätzlich eintauchen in das Berlin jener Zeit.
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Quelle: ntv.de