"Nimmst du mich mal mit?" Katja Riemann über Mauern, Mut, Menschen
19.03.2024, 18:05 Uhr Artikel anhören
Es hat Katja Riemann überrascht, dass Gemeinschaften immer in Hierarchien denken, egal, ob in Not oder nicht.
(Foto: dpa)
Mag sein, dass es ein profaner Zufall war, warum dieses Buch entstand, aber Katja Riemann schreibt, als hätte sie nie etwas anders gemacht: So spannend, so wahrhaftig ist ihr neues Werk "Zeit der Zäune". Mit ntv.de sprach die Künstlerin über Zäune, Verlust und Zufälle.
ntv.de: Zeit der Zäune - ich bin ein Kind der Berliner Mauer-Zeit und dachte, dieses Thema wäre langsam mal erledigt. Sieht nicht so aus. Woran liegt es, dass der Mensch immer neue Zäune, immer höhere Mauern, baut?
Katja Riemann: Das ist eine gute Frage und ich habe keine Antwort. Ich kann nur vermuten: Seitdem der Mensch sesshaft ist, gibt es Abgrenzung, um sich und den Clan und die Tiere zu schützen. Wir finden heute noch in Altstädten Mauern samt Festungsgraben partiell vor. Man schützte sich vor dem Angriff, den Anderen, den Fremden, den Invasoren, die vielleicht einen Krieg bringen. Es ist wohl die Angst vor dem Verlust. Und je mehr man besitzt, desto mehr gibt es zu verlieren.
"Zäune, die wie große Metallgebisse in der Landschaft stehen und Schönheit und Lebendigkeit verschlingen. Und manchmal die Menschen fressen" schreiben Sie. Wir wissen das alles - und dennoch lassen wir immer wieder neue Zäune zu. Was stimmt mit den Menschen nicht?
Ich weiß nicht, ob es "die Menschen" sind oder nicht vielmehr Regierungen, in dessen Auftrag gezäunt wird. Die Abschreckung, die damit wohl einhergehen soll, ist ein Trugschluss. Man versucht ja heutzutage zumeist jene Personen durch Zäune abzuhalten, die aus Ländern kommen, in die die Zaunerrichter von heute geschichtlich hineingingen, um sie sich anzueignen.
Was hat Sie am meisten daran beeindruckt, wie Menschen mit der Situation umgehen, an einem vorübergehenden Ort zu leben?
Dass immer gestaltend gewirkt wird, dass der Mensch immer weiter macht, immer wieder von vorn beginnt, um etwas aufzubauen, zu überleben. Die pragmatischen Ideen, die entwickelt werden in Zeiten der Not, in Zeiten des Interims, nachdem man alles verloren hat.
Und was hat Sie am meisten überrascht, positiv wie negativ?
Die ungeheure Gastfreundschaft, die in anderen Kulturkreisen geradewegs internalisiert ist. Und der Humor, der immer verbindend wirkt. Es hat mich vielleicht nicht negativ überrascht, aber ich habe es doch deutlich bemerkt, dass alle Gemeinschaften in Hierarchien denken, Rassismus und Ausgrenzung und häusliche Gewalt ist überall zu finden. Not würde man denken, verbindet die Menschen, aber zumeist in ihrer Bezugsgruppe.
Sie sprechen nicht ÜBER die Leute, sie sprechen MIT ihnen. Ist die Kunst des Zuhörens verloren gegangen?
Das weiß ich nicht, ich weiß ja nicht, wie andere Menschen zuhören, das ist schwer zu verallgemeinern. Ist es eine Kunst? Sollte das Zuhören nicht in unserem Menschsein-Baukasten als Grundausstattung sowieso vorhanden sein? Manchmal muss man eine Frage stellen, damit man zuhören kann, das kann diffizil sein, wenn dir eine Person gegenübersteht, dessen Geschichte du nicht kennst, aber vermuten musst, dass sie viele Beschädigungen aufzuweisen hat.
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem sensiblen jungen Mann aus Mali, dem ich im Sprachunterricht in Melilla begegnete, und den ich nach seiner Zukunft fragte, weil ich dachte, das sei sicher. Er hat mir als Antwort aber von seiner Vergangenheit erzählt - das hat mich sehr beeindruckt und bewegt. Ich empfand es als Zeichen des Vertrauens mir gegenüber. Vielleicht hatte er bemerkt, dass ich zuhören wollte, keine Ahnung.
Was hat letztlich den Ausschlag für das Buch gegeben?
Das war sehr profan. Mein erstes Sachbuch war in der Pandemie ertrunken und mein Lektor sagte, wohl mehr aus Zuneigung zu mir und damit kein Frust aufkäme, dass ich direkt weiterschreiben solle. Und da habe ich ihm unwissend gepitcht, dass ich versuchen möchte, ein Buch über Geflüchtetenlager zu schreiben. Es wurde etwas anderes, aber ich bin losgezogen, um zu lernen und habe viel herausgefunden.
Die Menschen sind schon immer gewandert, und die Ankunft ist wohl das Schwerste, steht im Buch. Ist das so? Wenn man sich gefährliche Flüchtlingsrouten über das Meer zum Beispiel anschaut …
Ja, ich glaube, dass die Ankunft das Schwerste ist. Solange man im Interim, quasi auf der Wanderung ist, mit all den Herausforderungen und Gefährlichkeiten, und doch mit einem Ziel im Kopf, bewegt sich ja etwas, da kann dann immer noch was kommen. Die vermutlich unerwarteten Herausforderungen bei der Ankunft durch Sprache, andere Kultur, Ausgrenzung, Anfeindung, Administration und Verlorenheit, der Stillstand, der entsteht, wenn nicht erlaubt wird, sofort zu arbeiten, das ist äußerst belastend. So weiß ich es zumindest von meinen FreundInnen mit Fluchtgeschichte, weswegen viele Menschen in Depression verfallen. "I just want to work" oder "I want to learn" - ich will arbeiten, ich will lernen - das waren Sätze, die ich sehr oft hörte.
Sie fuhren allein an Orte, die sich die meisten Menschen nur im Fernsehen, wenn überhaupt, anschauen, die Interimsorte der Geflüchteten - hat es Überwindung gekostet, hinzusehen? Hineinzugehen? Auf die andere Seite des Zaunes? Sich vielleicht wie ein Voyeur zu fühlen?
Es gibt einen südafrikanischen Comedian, einen Freund des uns allen inzwischen bekannten Südafrikaners Trevor Noah, der die Daily Show einige Jahre hostete, der sagte in einer Show: "Do you white people know Gugulethu? You should. You put us there." Gugulethu ist ein Township, so wie auch Kayelitsha, wo ich war. Ich bin immer zu Organisationen, Projekten oder Personen gereist, jede Reise hatte ein konkretes Thema, und so waren immer ExpertInnen an meiner Seite, die mir unermüdlich die Situation und ihre Arbeit erläuterten. Das ist sinnvoll, denn man will sich ja nicht als Voyeur die Misere ansehen.
Das Buch ist Ihrer Tochter gewidmet - wie erklären Sie ihr, der erwachsenen Tochter, dass wir, die älteren Erwachsenen, ganz schön viel Schrott hinterlassen, ganz schön viele Katastrophen?
Es ist meiner Tochter gewidmet, weil unsere Kinder die Zukunft zu ihrer Gegenwart machen werden. Ich muss meiner Tochter aber nichts erklären, sie ist eine erwachsene, kluge Frau und Künstlerin, und die einzige Person, die mich wiederholte Male auf meinen Reisen begleitet hat, obwohl so viele Leute fragten: "Nimmst du mich mal mit?"
Der Brief an Ihre Mutter hat mich besonders berührt, die Geschichte von Amal, aber ganz besonders die Aussage, dass Ihre Mutter als Lehrerin mit den Kindern so lange gelernt hat, bis sie den Stoff verstanden haben. Als Mutter eines schulpflichtigen Kindes habe ich diesen Absatz dreimal gelesen. Danke dafür.
Vielen Dank. Ja, meine Mutter ist großartig, ich vermisse sie schrecklich.
Am Ende gibt es immer noch die Liebe. Inwiefern hilft Ihnen die Liebe?
Die Liebe hilft uns allen, würde ich denken. Manchmal muss man sich für sie entscheiden, irgendwie gerät sie uns oft aus dem Blickwinkel. Warum eigentlich?
Das ist ein Thema für das nächste Interview. Sind Sie besonders mutig? Zum Beispiel bei Ihrer Reise in den Irak?
Ich bin zuverlässig keine Abenteurerin, auch wenn Freundinnen das über mich sagen würden. Aber das bin ich nicht. Ich suche nicht die Gefahr, ich gehe auf Reisen, ohne Erwartungshaltung. Das Auswärtige Amt rät einem übrigens auf seiner Seite so ziemlich von allen Reisen ab. Mutig, glaube ich, ist man, wenn man etwas macht, obwohl man davor Muffe hat. Ich mache andauernd Sachen, vor denen ich Angst habe. Unter anderem, die Wohnung zu verlassen, um mal damit anzufangen.
Sie können schlecht nein sagen, habe ich gelesen. Wie äußert sich das üblicherweise in Ihrem Leben?
Genau so, wie es da steht (lacht). Ich sage: "Ja klar, kann ich machen." Und dann habe ich den Salat.
Was ist Ihre Hoffnung? Wird sich in den nächsten 20 Jahren etwas ändern?
Keine Ahnung. Jetzt wird erstmal überall gewählt und ich glaube, wir können den sogenannten Citoyen nicht aus seiner Verantwortung lassen, das ist ja der Kern einer Demokratie. Und wenn die BürgerInnen eines Landes so wählen, wie es jetzt den Anschein hat, nicht nur in Deutschland oder Europa, dann sagt uns das was. Es gibt aber eine Herausforderung, die uns alle verbindet, und das sind die planetarischen Grenzen. Ich hoffe - wenn ich überhaupt noch irgendetwas hoffe - dass wir uns darüber klar werden und ins Handeln kommen. Aber die Vorstellung der Dystopie und des eigenen Untergangs hinterlässt offensichtlich einen abenteuerlichen Grusel.
Sie müssen fliehen - was nehmen Sie mit? Ich habe mir die Frage schon 100 Mal gestellt, seit der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist und ich viele Geflüchtete nur mit einem Handgepäckkoffer und einer großen Handtasche gesehen habe ...
Sie erinnern sich vielleicht an den Text in meinem Buch, für den Menschen - nicht von mir - befragt wurden, was sie auf die Flucht mitgenommen haben. Da ist von Pass über Hausschlüssel (!), Zeugnisse bis zu Zitronen, Tasse und Datteln alles dabei. Ich muss zuverlässig meine Brille mitnehmen, weil ich so kurzsichtig bin.
Mit Katja Riemann sprach Sabine Oelmann
Quelle: ntv.de