Tiefer Blick in Russlands Seele Ganoven, Knast-Morde und der Ruf der sibirischen Steppe


Bei Oxana Wassjakina wird Russlands Steppe gleichzeitig zum Schreckens- und Sehnsuchtsort.
(Foto: picture alliance / Udo Bernhart)
Drogen, Gewalt und schlecht bezahlte harte Arbeit: Eine junge Russin erzählt die Geschichte ihres Vaters und mit ihr auch die "Geschichte der meisten russischen Männer seiner Generation". Untermalt ist alles von einem dunklen Rauschen - dem Klang der sibirischen Steppe.
Alles beginnt und endet in Russlands Steppe - in "einer Welt der ausgedehnten grauen Weite". In ihr fühlt sich der Vater von Oxana Wassjakinas Erzählerin zu Hause, er liebt die Steppe für ihre schiere Endlosigkeit. Als Trucker fährt er mutterseelenallein durch Taiga und Tundra, verdient mit viel harter Arbeit wenig Geld und vertreibt sich die einsamen Abende auf Parkplätzen und Standstreifen mit Wodka und melancholischen Ganovenliedern.
Denn das ist, wo er eigentlich herkommt: Geboren in Sibirien in den 1960er-Jahren, wächst er in einer Zeit auf, in der "das Wertesystem, das in den sowjetischen Straflagern entstanden war, die Grenzen des Lagers verließ und an die Stelle der geschwächten Regierung trat". Angefeuert von diesem anarchisch-kriminellen Spirit in der zerbrechenden Sowjetunion, fängt er bereits früh an, sich mit kleinen Gaunereien etwas dazuzuverdienen, aus denen später größere Coups werden.
Von seinen Streifzügen bringt er Videorekorder, Fernseher, Geldbündel und teure Pelzmützen für seine Frau mit, die das Spiel still mitspielt und nichts zu sagen wagt; auch aus Angst vor den brutalen Gewaltausbrüchen ihres Mannes, der im Wodka- und Heroinrausch die Kontrolle verliert. Für seine Tochter ist das Leben zwischen Diebesgut, Drogenspritzen und einem prügelnden Hausherrn Normalität. Sie kennt es nicht anders. Ebenso wenig kennt sie ihren Vater, der nachts durch die Straßen zieht und auch tagsüber meist nicht daheim ist.
An dieser Fremdheit soll sich nie etwas ändern. Irgendwann wird der Boden in seiner sibirischen Heimatstadt zu heiß für ihren Vater. Kumpanen landen im Gefängnis, manche von ihnen werden dort ermordet. Auch er kommt hinter Gitter und als er wieder auf freiem Fuß ist, entscheidet er sich, die Stadt - und mit ihr Frau und Kind - zu verlassen. Er kehrt der Kriminalität den Rücken und beginnt ein neues Leben als Fernfahrer; ein Leben auf den Straßen quer durch Russlands Steppe.
Drogen, Gewalt, schlecht bezahlte Arbeit
Zehn Jahre lang hat die Erzählerin keinen Kontakt zu ihrem Vater. Sie zieht in dieser Zeit nach Moskau, beginnt dort mit dem Literaturstudium, entdeckt und lebt ihre eigene Queerness. Von all dem bekommt ihr Vater nichts mit. Doch sie will die Lücke schließen und spürt ihn auf.

Die 1989 in Sibirien geborene Autorin und feministische Aktivistin Oxana Wassjakina ist in Russland immer wieder Anfeindungen ausgesetzt.
(Foto: Alisa Nikulina)
Als sie ihn nach so langer Zeit wiedersieht, ist er zwar erst 47 Jahre alt, doch er sieht bereits aus "wie ein siebzigjähriger Greis". Die spärlichen Haare sind grau, tiefe Furchen ziehen sich durch sein Gesicht, sein Mund ist fast zahnlos. Das Leben hat seine Spuren hinterlassen - Spuren, denen die Erzählerin nachgeht, um den eigenen Vater besser verstehen zu können.
Diese Annäherung an eine Lebensgeschichte, die von Entbehrungen, Sucht und Scham geprägt ist, beschreibt Wassjakina in ihrem zweiten Roman "Die Steppe" auf eine schonungslose und sehr direkte Weise, ist dabei aber nie voyeuristisch. Auch in der Beschreibung brutalster Szenen bleibt sie sachlich und hält sich nicht länger als nötig mit grausamen Details auf. Fast als wolle sie sagen: "Es ist ohnehin schon schlimm genug."
Und trotz des ungeschönten Blicks auf den Vater als Schläger und Gangster setzt sich aus Erinnerungen, Rückblenden und popkulturellen Referenzen kein einheitliches Bild zusammen. Wassjakina lässt Platz für Widersprüche und beleuchtet auch die Momente, in denen der Vater selbst zum Opfer wird.
"Ein langsames, düsteres Leben"
Denn als "Teil des großen Armee-, Gefängnis- und Fernfahrerkörpers" zeichnet Wassjakina diese Vaterfigur auch als Opfer struktureller Gewaltsysteme, von der in Russland viele Männer betroffen waren und sind: "In ihm hat sich die Geschichte der meisten russischen Männer seiner Generation materialisiert", schreibt die Autorin.
Diese strukturelle Gewalt zeigt sich unter anderem in der mangelnden medizinischen Versorgung, die der Vater erfährt. Durch seinen jahrelangen Heroin-Konsum hat er sich mit HIV infiziert; als die Krankheit ausbricht und sein Zustand sich verschlechtert, landet er in einem heruntergekommenen Krankenhausflügel für Aids-Kranke, mit "verklumpten Matratzen ... und durchgemoderten Wänden". Die Tochter will ihm zu verstehen geben, "dass der Zustand seines Krankenzimmers mit den russischen Soldaten im Donbass" zusammenhängt, dass auch das Zimmer, in dem "der Putz in großen Streifen von der Decke" hängt, Teil des russischen Gewaltapparates ist.
Doch all das will der Vater nicht hören. Die Erkenntnis, in diesem System, an das er immer geglaubt hatte, unter die Räder gekommen zu sein, ist wohl zu schmerzhaft. Der Erkrankung selbst begegnet er mit Fatalismus: "Für ihn war Aids eine gewöhnliche Macke, an der zu sterben ihm bestimmt war ... Diese Tatsache nahm er grimmig und mit Schwermut hin."
Die Steppe als Soundtrack
Eine gewisse Schwermut ist auch in Wassjakinas Ton wiederzufinden, der in der deutschen Übersetzung von Maria Rajer mal melancholisch, mal andächtig, aber immer bestimmt ist. Die Steppe dient hier nicht nur als Schauplatz, sondern auch als eine Art Soundtrack, der Wassjakinas Roman von der ersten bis zur letzten Seite untermalt.
"In der Steppe liegt alles offen, man ist wie nackt in ihr", schreibt Wassjakina und macht in diesem eindrucksvollen Buch genau das: Nichts bleibt verborgen, die hässlichen ebenso wenig wie die schönen und zarten Momente. Und sie bietet mit dem Nacktmachen der Figuren, mit dem schonungslosen Freilegen ihrer Biografien einen Erklärungsversuch für das massive Gewaltpotenzial, das in der russischen Gesellschaft herrscht.
Quelle: ntv.de