Raus aus der Verfeindungsfalle "Feindschaft führt in Blindheit und Wahn"
31.03.2024, 09:06 Uhr Artikel anhören
In der Ukraine führen Blindheit und Wahn zu zehntausendfachem Sterben und Leid.
(Foto: REUTERS)
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine, das weltweite Erstarken rechtspopulistischer Kräfte - überall werden Feindbilder entworfen, die letztlich Gewalt rechtfertigen sollen. Der Psychologe und Theologe Stefan Seidel setzt dagegen den Aufruf, sich zu "entfeinden".
ntv.de: Warum wird aus einer Meinungsverschiedenheit inzwischen immer gleich Feindschaft?
Stefan Seidel: Wir haben ein bisschen verlernt, gesellschaftlich oder auch in kleineren Bezügen mit Verschiedenartigkeit, Andersartigkeit, anderen Meinungen oder Positionen umzugehen. Auch in dem Sinn, dass Vermittlung, Dialog, Kompromiss möglich sind. Das ist unser Erleben in den letzten Jahren in sich verschärfendem Ausmaß. Dann wird sich schnell in die eigene Blase zurückgezogen und eine kategorische Abtrennung von dem anderen gemacht. Das ist schwierig und auch einer größeren Entwicklung geschuldet: dem Zeitgeist. Wir leben in Zeiten sich verschärfender Krisen, globaler und wirtschaftlicher Art, die sozusagen die Spielräume auch mental im Einzelnen einschränken.
Wie äußert sich das?
Da ist viel Angst im Spiel. Die Sorge um das eigene Existieren, die eigene Position, die eigene Identität. Dann switcht man eher in einen Kampfmodus als in einen tendenziell offeneren Austausch und Vermittlungsmodus. Die Angst, noch mehr vom Eigenen zu verlieren, ist zu groß. Und es gibt natürlich mehr Populisten, die gezielt dieses Instrument von Spaltung und Polarisierung einsetzen, weil daraus am leichtesten Stimmen und Stimmungen zu generieren sind, ohne unbedingt große eigene inhaltliche Konzepte zu bieten. Das vergiftet das Klima, die Gesellschaft und treibt den Keil ein Stück weit immer tiefer rein.
Was haben wir von Feindschaft?

Seidel appelliert in seinem Essay an die menschlichen Fähigkeiten, an einem friedlichen Leben zu arbeiten.
(Foto: Steffen Giersch)
Unmittelbar schafft Feindschaft erst mal auf einer vordergründigen Ebene Klarheit, gerade in unübersichtlichen, komplexen Situationen, die geprägt sind von Ungewissheit, Widersprüchlichkeit, Bedrohung. Man meint zu wissen, wo man selbst steht, wo der andere steht. Und das suggeriert Handlungsmöglichkeiten. Dann weiß ich ja, was ich zu machen habe. Also banal gesagt, wohin ich zu schießen habe oder wogegen ich zu kämpfen habe. Ich glaube, das entspricht auch einem Affekt, den man hat, wenn man zum Beispiel mit einer Position konfrontiert wird, die gar nicht die eigene ist. Oder wenn man mit Nachrichtenbildern von kolossaler Ungerechtigkeit oder schlimmer Verbrechen konfrontiert ist. Dann führt der Affekt Wut dazu, sich zu rüsten, zu wappnen und in den Kampfmodus zu gehen, in diesen Verfeindungsmodus.
Welche Folgen hat das?
Das Problem dabei ist, dass man sich nur auf einer vordergründigen Ebene beruhigt und vermeintlich Handlungsmöglichkeiten hat. Tendenziell wird man aber in eine Feindschaftsdynamik gezogen, die latent auf Eskalation angelegt ist. Das geht dann stufenweise bis hin in die Kriegseskalation, in der die Verfeindung so total wird, dass sie am Ende nur noch durch die Vernichtung des anderen gelöst werden kann. Oder aber durch die eigene verlustreiche Niederlage. Das verengt unglaublich die Spielräume, führt zu einer toxischen Dynamik von Zerstörung und Selbstzerstörung und spitzt alles auf eine absolute Lösung im Sinne von absolutem Sieg oder absoluter Niederlage zu, die man eigentlich nicht wollen kann. Das sehen wir jetzt auch an den großen Kriegsschauplätzen. Die haben einen enormen Preis an Menschenleben, an Verwüstungen, an Zerstörungen auf lange Zeit hin, aber auch an Selbstzerstörungen. Feindschaft führt in Blindheit und Wahn und kennt in sich sozusagen nur das Gesetz der Eskalation. Und das schlägt irgendwann zurück und hat einen enorm hohen Preis.
Sie argumentieren aus christlich-religiöser Überzeugung heraus, also mit den klassischen Bibelbildern, dass man die andere Wange hinhalten soll. Wie alltagstauglich, wie politiktauglich ist dieser Ansatz?
Dass das biblische Matthäusprinzip nicht geeignet für die Politik sei, ist fast reflexartig die Antwort darauf, wenn man versucht, die Bergpredigt Jesu ins Spiel zu bringen. Es scheint erst mal als das Utopischste vom Utopischen, wenn man in einer akuten Konfliktlage ist, dass man auf die Wange geschlagen wird und auch noch die andere hinhält. Das steigert sich ja sogar noch. Liebe deine Feinde. Steige aus dem Gewalt-Gegengewalt-Kreislauf aus und sei orientiert auf die Befriedung. Das klingt unmöglich, ist aber vom Prinzip her ein psychologisch wichtiger Schlüssel. An einer Stelle muss eine Unterbrechung der Eskalation geschehen. Vom Gegner kann ich das nicht erwarten, weil dessen Handeln nicht in meiner Hand liegt. Also muss ich selbst diesen Impuls eintragen, im Vertrauen und oft auch mit der Erfahrung, dass das etwas am Gesamtgeschehen ändert. Das ist eine christliche Sichtweise, die ich aber einbringen möchte, weil viele davon bereits abgeschnitten sind. Für mich hat sie eine hohe Evidenz und Wahrheit. Es gibt nicht nur Sicherheitspolitik, Verteidigungspolitik, Kriegspolitik, sondern in unserem Menschheitswissen, unserer Menschheitsweisheit, unseren Traditionen gibt es noch eine andere Kraft. Ich denke, man kann das übersetzen in die Bereiche von menschlicher oder politischer Vernunft, wo Wege gesucht werden, dieses Gewaltprinzip zu durchbrechen.
Sie beschreiben ein klassisches Kommunikationsdilemma von zwei Parteien, bei dem einer den ersten Schritt machen muss. Und Sie scheuen sich auch nicht, den Krieg Russlands gegen die Ukraine ins Gespräch zu bringen. Wie ist das denkbar mit einem Aggressor auf der einen Seite, mit einem diktatorischen Regime?
Auch das muss man in aller Klarheit benennen, um sich nicht ins Reich der Träumereien zu verabschieden. Es gibt einen Aggressor, es gibt einen fürchterlichen Angriffskrieg, der von einer Seite entfesselt wurde, es gibt fürchterliche Verbrechen. Es ist wichtig das zu benennen und gleichzeitig zu versuchen, nicht diesem unmittelbar naheliegenden Reflex des totalen Gegenschlags zu verfallen. Es ist eine Gemeinschaftsaufgabe, nach Instrumentarien und Institutionen zu suchen, die im Falle von schwerer Gewalt eines Staates gegen einen anderen oder sogar genozidalen Tendenzen Schutzmöglichkeiten schaffen. Wir haben es leider noch nicht geschafft, als Weltgemeinschaft ausreichend weit in diese Richtung zu gehen.
Aber da muss man sich doch wehren?
Natürlich wird es immer Selbstverteidigungssituationen geben und die sind auch berechtigt, aber wie geht es dann weiter? Wie kann ich aus der Verstrickung einen Ausweg finden, gerade wenn viel Leid zugefügt worden ist? Man könnte das sogar noch weiter denken - wie kann ich meinem Gegner und uns helfen, aus dieser Verstrickung herauszufinden? Dafür braucht es idealerweise vermittelnde Dritte, weshalb ich mir zum Beispiel gewünscht hätte, dass das starke Deutschland in der Mitte Europas auf eine entschlossene und starke Vermittlerrolle geschwenkt wäre. Doch jetzt sind wir stattdessen in eine Situation des Abnutzungskriegs gekommen, des Verschleißens und des Gefangenseins in Gewaltzirkeln, die die Todeszahlen in die Höhe schrauben und die Zerstörungsausmaße vorantreiben. Da spielt man auch nach den aufgenötigten Gesetzen des Bösen und gerät selbst in diese toxische Dynamik. Es wäre höchste Zeit und es wäre es allemal wert, etwas anderes zu probieren.
Ihr Buch heißt "Entfeindet Euch!", ist also eine Aufforderung, dass man das aktiv tun soll. Aber wie macht man das? Wie entfeindet man sich?
Der Titel ist ein Stück weit entlehnt von dem jüdischen Theologen Pinchas Lapide, der mit diesem Begriff das Programm der Bergpredigt Jesu beschrieben hat. Das sei das Programm einer Entscheidungsliebe, die darauf zielt, die Feindschaft zu überwinden und nicht den Feind. Es mutet einem also tatsächlich diese am Anfang übermenschlich scheinende Aufgabe zu, den anderen, gerade auch, wenn er einem Leid angetan hat, zu entfeinden, zu entdämonisieren, sich nicht auf dieses Gleis der Entmenschlichung und Vernichtung führen zu lassen. Das beginnt mit dem Senden von Signalen: Ich will nicht deine totale Vernichtung, ich will ein befriedetes Miteinander, auch Versöhnung. Das ist eine tägliche innere Arbeit, gerade auch, wenn man täglich mit schlimmen Nachrichten konfrontiert ist. Vom Religiösen her gesehen ist es die Dimension des Göttlichen, sich auf Gott als eine dritte Größe zu beziehen, die alle beide oder alle zusammen in den Händen hat. Und auch ein Stück darauf zu vertrauen, dass, wenn es die Zerstörungskräfte gibt, es auch Heilungskräfte, Versöhnung oder Lösungskräfte gibt. Dass das so ist, hat ja auch die Weltgeschichte gezeigt.
Aber was mache ich konkret?
Ganz praktisch gesehen hilft es, sich mit konkreten Menschen der anderen Seite in Beziehung zu setzen. Das Mittel gegen Krieg und Gewalt ist eigentlich Beziehung, so wie es Martin Buber beschrieben hat. Wir leben von der Beziehung Ich und Du, und zwar ganz grundlegend und elementar, aber auch bis in die höheren Ebenen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Wir müssen versuchen, diese Beziehungen aufrechtzuerhalten und zu leben, denn wenn wir die Beziehung zerstören, zerstören wir am Ende uns. Insofern geht es um elementare Selbsterhaltung. Wenn man seine Empathie nicht nur auf die eigene Gruppe lenkt, sondern auf alle, entwickelt man ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Das hilft, die Spaltung mental zu überwinden. Diese Werkzeuge und Konfliktlösungsstrategien aus der psychologischen Friedensforschung sind oft ein langer Weg. Sie bedürfen eines gewissen Wagnisses. Es gibt immer wieder diese bewegenden Beispiele gerade in heißen Konfliktgebieten wie im Nahen Osten, wo sich zum Beispiel israelische und palästinensische Eltern zusammengeschlossen haben, die jeweils Kinder in diesem Konflikt verloren haben. In der Initiative Parents Circle sagen trauernde Israelis und Palästinenser: Wir wollen hier und jetzt dieses sinnlose Blutvergießen zwischen unseren Völkern beenden, wir leben das jetzt und warten nicht auf einen fernen Friedensvertrag. Das ist zutiefst bewegend und gibt eine Ahnung davon, welche anderen Kräfte walten und wirken können, wenn man darauf setzt.
Mit Stefan Seidel sprach Solveig Bach
Quelle: ntv.de