Kino

Kenneth Branagh im Interview "Ein langer Weg, um zu mir zurückzufinden"

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Für "Belfast" auf der Suche nach der "emotionalen Wahrheit": Kenneth Branagh.

(Foto: imago images/ZUMA Wire)

Am liebsten verfilmt er Stücke von William Shakespeare, doch auch an Marvel-Streifen wie "Thor" (2011) oder Disney-Klassikern wie "Cinderella" (2015) hat er sich sich schon ausprobiert. Mit "Belfast" liefert Kenneth Branagh seinen bislang persönlichsten Film ab. In dem Schwarz-Weiß-Drama verarbeitet der gebürtige Belfaster seine Erinnerungen an den Nordirlandkonflikt und lässt seine Geschichte aus der Sicht eines Neunjährigen erzählen, dessen Leben an einem Tag Jahr 1969 plötzlich Kopf steht. Im ntv.de-Interview spricht Branagh über seine Kindheit, seine Liebe zu Van Morrison und wie er zu sich selbst zurückfand.

ntv.de: War "Belfast" eine Art Therapie gegen ein Trauma oder eine Hommage an Ihre Familie und diese Charaktere?

Kenneth Branagh: Ich habe versucht, es nicht zur zu einer persönlichen Therapie werden zu lassen. Ich weiß, was ich durchgemacht habe. Wenn Sicherheit, Glück und Familie für selbstverständlich gehalten werden und einem plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Aber in dem Film geht es auch darum, zu verstehen, was andere Menschen durchgemacht haben, mit denen ich mich identifiziere. Ich wollte die Besonderheiten meiner Erfahrung einbringen, aber wollte sie offenhalten, damit andere Menschen ihre eigenen Erfahrungen 50 Jahre später und durch die Augen eines Neunjährigen sehen können. Deswegen heißen die Charaktere auch Ma und Pa und Buddy - dein universeller Kumpel. Es sind Erinnerungen, die keinen Namen brauchen.

Es gibt eine - im besten Sinne - Naivität bei den herzlichen Beziehungen innerhalb der Familie. Liebevolle Eltern und Großeltern, die Bindung zwischen den Brüdern, eine sorgenfreie Straße ... Und auf der anderen Seite ist da die harte Realität dieser seltsamen Zeit. War das eine künstlerische Entscheidung?

Ich habe versucht, eine emotionale Wahrheit zu finden. Und die war, von Beginn an das Gefühl einer Gemeinschaft und eines Ortes, in der man sich nicht verirren kann, unvollkommen zum Ausdruck zu bringen. Darin sind die Iren wirklich gut, ihre gemeinschaftliche Art der Freude ist fast schon eine Selbstparodie. Man sagt ja, es braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen. Ob es einem gefällt oder nicht - manchmal mag man es nicht, weil es viel Tratsch gibt - aber im Wesentlichen, etwa bei der Kinderbetreuung, funktioniert es. Andererseits versucht Buddy - und ich versuche es seit 50 Jahren - eine Art Lösung dafür zu finden, wie man zu diesem Gefühl der Gewissheit zurückfindet. Für mich war es eine Reise mit verschiedenen Mitteln: Filme, Vorstellungskraft, Flucht, Verkleidung, Farbe ... Manchmal bringt es mich zum Lachen, wenn ich den Film sehe, weil ich mir denke: Das war ein langer Weg, um zu mir selbst zurückzufinden.

Der Soundtrack ist eine Mischung aus Jazz, "High Noon" und lokaler Musik. Wie kam es dazu?

Westernfilme hatten einen großen Einfluss früher. Es waren kindgerechte Filme im Fernsehen, wenn Mama und Papa unterwegs waren. Auch Musik, vor allem Country, waren sehr präsent. Vor allem war man stolz auf Van Morrison - einer von uns da draußen! 1967 veröffentlichte er "Astral Weeks", eine weltweite Sensation mit Songs aus Belfast - neue, moderne, psychedelische Songs wie "Madame George", unglaubliche Songs! Und er bezeichnete sich selbst als "Corner Boy", eines der Straßenkinder. So wurde er schließlich zum Mittelpunkt des Soundtracks. Aber auch die Sounds der Western und Dialoge wie "Suchst du Ärger?" mit diesen großen Persönlichkeiten, die auf diese übertriebene Weise ein wenig von unserer Situation artikulierten, wollte ich mit einbringen.

Wie haben Sie die Lieder von Van Morrison ausgewählt?

Sein Verständnis der Stadt ist irgendwie einfühlsam, seine Beziehung zu ihr so stark. Er singt darüber, wie er Belfast verlassen und die Welt bereist hat, das war eine außergewöhnliche Sache. Es war, als hätte er die Lieder für den Film geschrieben. Wenn ich also daran denke, wie ich als Junge vor der Haustür dieses Mädchens (Buddys Schulfreundin, Anm. der Red.) stehe, denke ich unweigerlich an "Bright Side of the Road". Manchmal hat Van Morrison selbst seine Meinung dazu geäußert, welches Lied wann gespielt werden sollte. In meiner ersten Version des Films waren 23 Lieder von ihm, das fand er selbst zu viel. (lacht)

Warum ist der Film Schwarz-Weiß?

Das Schwarz-Weiß verleiht dem Film dieses merkwürdige Gefühl, macht ihn irgendwie düsterer, authentischer, echter. Und dennoch sehen wir die Welt nicht so, deshalb hat es eine paradoxe, poetische Wirkung. Auch die Fotografie von Henri Cartier-Bresson war eine große Inspiration, ebenso wie der fantastische polnische Film "Eda". Ein großartiges Stück Filmproduktion, das vor allem visuell so fesselnd war.

Wonach haben Sie gesucht, als Sie Jude Hill als Buddy gecastet haben?

Nach jemandem, der sehr präsent sein kann. Wenn man ihn anguckt, sieht man das Leuchten in seinen Augen, das so überzeugend ist. Innerhalb einer Woche haben wir 300 Kinder gecastet. Aber er kann irisch tanzen, spielt Fußball und hat mehr Interessen, als nur Schauspieler zu sein. Und er ist sehr aufnahmefähig.

Sie haben einmal gesagt, man kann einen Jungen aus Belfast holen, aber nicht Belfast aus einem Jungen. Können Sie das erläutern?

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Freude und Trauer liegen nah beieinander: Ma und Pa tanzen ausgelassen während Opas Trauerfeier.

(Foto: imago images/Picturelux)

Ich denke, wir haben einen gewissen Galgenhumor, der in düsteren Zeiten als Bewältigungsmechanismus dient. Ein sehr nützliches Werkzeug. Denn sie leben sehr eng zusammen und haben eine Beziehung zum Tod, die Humor mit sich bringt. Sie genießen die Rituale der Trauer. Im Film sieht man eine Szene, in der mein Großvater mehrere Tage in einem offenen Sarg liegt, während sich die Nachbarn von ihm verabschieden. Mein Vater, der fünf Nächte im selben Raum geschlafen hat, hat mir erzählt, wie er Leute rausschmeißen musste, weil sie zu lange dort waren. Dann hieß es: "Ich weiß, du hast meinen Vater geliebt, aber du kannst nicht noch mehr Guinness trinken." (lacht) In einer anderen Szene, die aus dem Film geschnitten wurde, kehrt Buddy Jahre später nach Belfast zurück. Dreimal dürfen Sie raten, wer diesen Buddy spielt. (lacht) Und er trifft sich mit einer Nachbarin, die ihm sagt: "Mach dir keine Sorgen um deine Beziehung zu diesem Ort. Alles, woran du dich erinnern musst, ist, dich niemals selbst zu vergessen!"

Es wirkt, als sei der Film eine Liebeserklärung an die Arbeiterklasse des Landes und an ihre Kultur. Würden Sie sagen, dass Sie ein Arbeiterbewusstsein haben und dieses Gemeinschaftsgefühl vermissen, das vom Neoliberalismus zerschlagen wurde?

Da ist definitiv etwas dran. Wir hatten in den 1980er-Jahren eine Theatergruppe. Zu der Zeit habe ich für eine TV-Serie staatliche Fördermittel in Höhe von 25.000 Pfund bekommen - ich hatte noch nie von so viel Geld gehört, geschweige denn gesehen. Ich habe alles in das erste Theaterstück der Gruppe investiert. Und alles verloren. Obwohl wir total arm waren - Thatcher-Kinder eben - haben wir weitergemacht. Als wir weitere Sponsorengelder bekommen haben, wurde allen das gleiche Geld gezahlt, ich habe das Gleiche verdient wie die Inspizienten und die anderen Schauspieler. Uns war nicht einmal bewusst, dass wir darin politisch waren, es war das Gegenteil. Auch als wir nach West End (Unterhaltungszentrum in London, Anm. der Red.) gingen und unsere ersten Gewinne erzielten, wurde alles fair aufgeteilt. Ich war nie daran interessiert, ein Vermögen zu machen. Ein Irrglaube über mich - vielleicht auch aufgrund einer Reihe von Entscheidungen, die ich getroffen habe - ist, dass ich den Kontakt zu der Person, die ich damals war und in der ich mich so sicher fühlte, verloren habe. Also wollte ich nun zurück und ihn finden, denn er war immer da, er ist immer noch da!

Mit Kenneth Branagh sprach im Rahmen eines Gruppeninterviews Linn Penkert.

Quelle: ntv.de

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