SPD-Chefin Esken im Interview "Dürfen uns nicht in Depression hineinreden lassen"Es
05.08.2023, 06:58 Uhr Artikel anhören
"Ich halte das für ein Tal der Chancen, für eine Gelegenheit, sich auf unsere Stärken zu besinnen, die unsere Wirtschaft tragen", sagt Esken über die aktuelle Wirtschaftslage.
(Foto: picture alliance / Flashpic)
Die Bundesvorsitzende der SPD, Saskia Esken, mahnt im ausführlichen Interview mit ntv.de zur Zuversicht. Die Wirtschaftslage sei auch ein "Tal der Chancen". Esken plädiert für ein Paket an Wachstumsmaßnahmen, das über die Vorschläge von Finanzminister Christian Lindner deutlich hinausgeht. Um dieses zu finanzieren, müsse die Schuldenbremse reformiert und Vermögende stärker besteuert werden, sagt Esken. Mit der AfD geht die 61-jährige Bundestagsabgeordnete hart ins Gericht: "Ihr Ziel ist es, unsere Gesellschaft zu spalten und unsere Demokratie zerstören. Nach meiner Ansicht verfolgt sie damit verfassungsfeindliche Ziele", sagt Esken und zeigt sich offen für ein Parteiverbot.
Die schwache Wirtschaft treibt die Menschen um. Die Regierungsparteien verweisen auf Deutschlands Energieabhängigkeit, die Folgen des russischen Angriffskrieges und den Stillstand unter der Regierung Merkel. Kann eine bald zwei Jahre amtierende Regierung wirklich jede Verantwortung von sich weisen?
Das sind nun einmal die Realitäten. Die Abhängigkeit von Energieimporten spielt genauso eine Rolle wie andere Abhängigkeiten von globalen Lieferketten und Exportmärkten. Darauf haben wir schon in der Corona-Pandemie reagiert, als Unternehmen in Deutschland Kurzarbeit angemeldet hatten, noch bevor das Virus Deutschland erreicht hatte. Als starke Exportnation können wir nicht nur auf uns schauen. Wir plädieren dennoch für eine aktive Industriepolitik auch auf nationaler Ebene, die die Wirtschaft beim notwendigen Umbau und auf dem Weg durch die Krise unterstützt.
Das heißt Deutschland muss jetzt durch ein Tal der Tränen, weil es Zeit braucht, sich auf die veränderten Gegebenheiten einzustellen?
Ich halte das für ein Tal der Chancen, für eine Gelegenheit, sich auf unsere Stärken zu besinnen, die unsere Wirtschaft tragen. Wir haben in Deutschland kluge Köpfe und eine sehr innovative Wirtschaft. Ich erinnere an die Jahrtausendwende, als die deutsche Industrie auf den Impuls kluger politischer Vorgaben Maschinen und Anlagen entwickelt hat, die zur Reinhaltung von Luft und Wasser beitragen. Das hat uns weltweit Erfolg beschert. So ist es jetzt wieder: Wir haben die Chance, Produktionsanlagen zu bauen, die der Klimaneutralität genügen und damit in aller Welt den Weg hin zur Klimaneutralität unterstützen und gleichzeitig unsere Wirtschaft stärken.
Konjunktur feiern dafür derzeit die Ökonomen: Ihre Expertise ist gefragt, ihre Einschätzungen gehen aber auseinander. Wie ernsthaft ist die Krise aus Sicht der SPD-Vorsitzenden?
Es ist wichtig, dass wir die unterschiedlichen Stimmen hören, aber wir dürfen uns nicht in eine Depression hineinreden lassen, die die Investitionsbereitschaft und auch die Innovationsbereitschaft bremst. Der Veränderungsmut in der Wirtschaft hängt genauso wie in der Gesellschaft davon ab, ob wir zuversichtlich in die Zukunft blicken oder schwarzmalen. Wir müssen uns auf unsere Fähigkeiten und Stärken besinnen. In solch einer Situation darf aber auch die so genannte schwarze Null nicht die oberste Maxime sein. Die Wirtschaft braucht förderliche Rahmenbedingungen und sie muss die nötige Unterstützung bekommen.
Die FDP hält allerdings an der schwarzen Null fest. Wie bekommen Sie es hin, dass die drei Regierungsparteien die Suche nach Konzepten konstruktiv betreiben und nicht in einem öffentlichen Streit?
Auch wenn es bei einzelnen Themen nicht gut geklappt hat - insgesamt haben wir die Herausforderungen in den vergangenen beiden Jahren sehr gut bewältigt. Das wird uns auch weiterhin gelingen. Alle drei Koalitionspartner sind der Überzeugung, dass wir aktiv gestalten müssen. Wir werden uns auf einen guten Weg einigen.
Bundesfinanzminister Christian Lindner hat mit dem Wachstumschancengesetz ein 6,8 Milliarden Euro schweres Paket vorgelegt. Die Grünen erachten das als zu wenig und fordern eine Investitionsagenda. Was der SPD vorschwebt, ist noch eher unklar.
Schon bei der Jahresauftaktklausur der SPD ging es um eine Erneuerung der Infrastrukturpolitik, wie sie in den 70er Jahren zum Erfolg geführt hat. Zu einer leistungsstarken Infrastruktur gehören heute die Erneuerbaren Energien und Stromnetze, die Datennetze, der Verkehr und nicht zuletzt die soziale Infrastruktur mit Bildung, Betreuung, Gesundheit und Pflege. Das sind die Grundlagen dafür, dass unsere Gesellschaft funktioniert und dass die Wirtschaft brummt. Bürokratieabbau, Modernisierung und Digitalisierung des Staates sind wichtige Themen, wenn wir erfolgreich sein wollen.
Bildet der Haushalt 2024, der nach dem Sommer im Parlament verhandelt wird, diese Ambitionen der SPD ab?
Wir haben zur Bewältigung der Krisen in den vergangenen Jahren große Konjunkturpakete geschnürt. Eine solche Haushalts- und Ausgabenpolitik, die jetzt für die Investition in Infrastruktur ebenso wie für die Unterstützung der Wirtschaft notwendig wäre, können wir aber nicht fortführen, ohne die Schuldenbremse in Frage zu stellen. Oder wir verbessern die Einnahmesituation. Es gibt in Deutschland sehr hohe Vermögen und sehr hohe Einkommen, die einen höheren Beitrag leisten könnten, damit wir mehr investieren können in diesem Land.
Den Ruf nach einer höheren Belastung großer Einkommen und Vermögen hören wir aus der SPD-Spitze seit Monaten, nicht aber vom Kanzler. Wie steht Olaf Scholz zu dieser Forderung?
Schon als es darum ging, wie die SPD die Großen Koalition nach 2019 weiterentwickeln kann, haben Norbert Walter-Borjans und ich zusammen mit Olaf Scholz einen Leitantrag entwickelt, der klar sagte: Notwendigen Investitionen in die Infrastruktur darf Schäubles Schwarze Null nicht im Wege stehen. Das hat Olaf Scholz genauso mitgetragen wie unser Programm zur Bundestagswahl, das ebenfalls höhere Steuern für besonders große Einkommen und Vermögen fordert. Olaf Scholz' Haltung und Überzeugungen sind insofern klar. Eine Koalition folgt aber keinem Parteiprogramm, hier muss man Kompromisse finden. Dieser Realität muss man sich schon auch bewusst sein.
Zu den Grundhaltungen der FDP wiederum gehört, dass man den Staatshaushalt nicht immer weiter aufbläht und Unternehmen steuerlich entlasten sollte, um die Konjunktur anzukurbeln. Haben Sie Ideen, ihrem Koalitionspartner entgegenzukommen, damit der sich Ihren Forderungen öffnet?
Der Ansatz des Wachstumschancengesetzes des Bundesfinanzministers und FDP-Vorsitzenden, Innovation steuerlich zu fördern, ist ein guter und gangbarer Weg, doch das alleine wird nicht genügen und darf sich nicht nur auf die Industrie beziehen. Nehmen Sie die Wohnungs- und Bauwirtschaft, die ziemlich brachliegt. Bauministerin Klara Geywitz hat deshalb vorgeschlagen, auch hier Impulse durch eine verbesserte, degressive Abschreibung zu setzen. Ganz klar ist aber auch: Für den Übergang zur klimaneutralen Produktion brauchen wir einen Transformationsstrompreis. Dazu kommen unsere Investitionen in die Infrastruktur. Das alles muss zu einem Paket geschnürt werden.
Bis wann rechnen Sie mit einer Entscheidung über die Strompreisbremse?
Wir werden nach der Sommerpause zu einer Lösung kommen.
Die FDP weiß Ökonomen auf ihrer Seite, die gegen den Industriestrompreis argumentieren, weil damit keine Transformation vorangetrieben wird, sondern Unternehmen mit zu hohen Energiekosten subventioniert würden.
Wir sprechen lieber vom Transformationsstrompreis, weil es auch um nicht-industrielle Betriebe geht. Ich denke da an die Bäcker, die angesichts der Inflation der Strom- und Gaspreise in massive Schwierigkeiten geraten waren und die wir mit den Preisbremsen unterstützt haben. Die Unternehmen brauchen einen einigermaßen wettbewerbsfähigen Strompreis, während sie mit unserer Unterstützung ihre Produktionsmethoden auf erneuerbare Energien umstellen.
Geld fehlt an allen Ecken und Enden, gleichzeitig schüttet die Regierung es weiter nach dem Gießkannenprinzip aus. Sie hatten im Frühjahr gesagt, der Bund werde nicht Millionären die Wärmepumpe finanzieren. Bleibt es dabei oder müssen Sie hier der FDP nachgeben?
Das Problem ist weniger der Koalitionspartner als die Bürokratie. Wir haben nicht die notwendigen Daten über das Einkommen der Menschen und ihre Kontoverbindungen. Wir sind deshalb nicht in der Lage, gezielt vorzugehen. Weiterhin ist der einfachste Weg deshalb, die Leistungen der Steuerpflicht zu unterwerfen, wie wir es bei der Energiepreispauschale für Erwerbstätige gemacht haben. Der Finanzminister hat den Auftrag, die technischen Grundlagen für die Direktüberweisung öffentlicher Leistungen zu schaffen, auch um mit dem Klimageld die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung an die Bürgerinnen und Bürger zurückzuzahlen. Ich erwarte, dass hierzu in Kürze ein Vorschlag vom Bundesfinanzministerium kommt.
Den Auszahlungsmechanismus hat Christian Lindner kürzlich für Ende 2024 angekündigt. Das Klimageld kommt noch in der laufenden Legislaturperiode?
Wir haben das im Koalitionsvertrag vereinbart und ich erwarte da eine gewisse Vertragstreue.
Wie bewerten Sie als Digitalpolitikerin die Meldung, wonach im neuen Haushalt das Budget für die Digitalisierung der Behörden drastisch gekürzt wird?
Wenn es in der Summe weniger werden würde, wäre es natürlich fatal. Allerdings verfügen wir bei dem Thema über erhebliche Haushaltsreste, die nach Aussage des BMI noch zum Einsatz kommen können. Auf Bundesebene kommt dazu die teilweise Verlagerung der Aufgabe in die Fachressorts – so ist beispielsweise die Digitalisierung des Wohngeldantrags nun im Bauministerium angesiedelt und dort auch auskömmlich finanziert. Nicht zuletzt ist die Digitalisierung der Verwaltung ist eine Aufgabe, die Bund, Länder und Kommunen gemeinsam stemmen müssen. Wir haben im Rahmen der Konjunkturfördermittel sehr stark zukunftsgerichtet zusätzliches Geld gegeben. Aber es war von vornherein klar, dass wir uns als Bund nicht ewig so weiter aus dem Fenster lehnen können. Das heißt, dass hier auch die Länder ihre Aufgaben zu erfüllen haben.
Die schwierige Wirtschafts- und Haushaltslage geht Hand in Hand mit einem Dauerumfragehoch der AfD, die inzwischen konstant und deutlich vor der SPD auf Platz zwei rangiert. Welche politische Stimmungslage drückt sich in diesen Zustimmungswerten aus?
Das ist ja kein deutsches Phänomen - und übrigens auch keines, das auf den Osten unseres Landes beschränkt wäre. In ganz Europa und darüber hinaus fahren rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien beunruhigende Wahlergebnisse ein, werden an Regierungen beteiligt oder führen diese sogar an. Diese Entwicklung hat mit einer großen Verunsicherung der Bevölkerung angesichts der vielfältigen Krisen und großen Veränderungen zu tun. Diese Parteien bieten scheinbar einfache Lösungen an. Da beschwört man alte Zeiten, in denen wir angeblich weniger abhängig waren von anderen Ländern und wo wir noch weniger fremde Menschen hier hatten. Und da war angeblich alles besser. Das ist natürlich nicht der Fall: Ohne die EU, ohne unsere internationalen Partner und vor allem ohne die Millionen von Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland gekommen sind, um dieses Land mitaufzubauen, stünde Deutschland viel schlechter da. Nun sehen wir mit dem anstehenden Ruhestand der Boomer-Generation einen gewaltigen Mangel an Fach- und Arbeitskräften, den wir ohne Migration nicht lösen können. Wir sehen, dass Deutschland als Exportnation inmitten Europas mehr als je zuvor auf starke europäische und internationale Beziehungen angewiesen ist. Ein völkisch-nationaler Alleingang, wie ihn die AfD propagiert, wäre schlicht unser Untergang.
Was also tun?
Wir müssen immer wieder deutlich machen, dass die Scheinkonzepte von AfD und anderen rechtsradikalen Kräften in Europa keine Lösungen für irgendein aktuelles oder zukünftiges Problem darstellen. Auf dem Parteitag der AfD am vergangenen Wochenende wurden rechtsextremistische Verschwörungserzählungen wie zum Beispiel die vom "großen Austausch" und antisemitische Hetznarrative wie die von den "Globalisten" vorgetragen. Solche Reden bewirken aber keinen Widerspruch, sondern sie erhalten Applaus und Zustimmung auf den aussichtsreichen Plätzen der Europawahlliste. Jeder, der überlegt, die AfD zu wählen, muss wissen: Die AfD ist eine im Kern rechtsradikale Partei, die über ein Netzwerk zu rechtsextremistischen Bewegungen in ganz Europa und bis nach Russland verfügt. Ihr Ziel ist es, unsere Gesellschaft zu spalten und unsere Demokratie zerstören. Nach meiner Ansicht verfolgt sie damit verfassungsfeindliche Ziele und muss vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Und wenn sich der Verdacht bestätigt, dann muss diese Partei verboten werden.
Die Zeiten werden angesichts des Klimawandels und der demografischen Entwicklung in Deutschland absehbar eher schwieriger. Fahren die demokratischen Parteien gut mit dem alten Versprechen von Wohlstand und sozialem Aufstieg oder provoziert das am Ende nur Verdruss?
Ich rede aus meinem Menschenbild heraus mehr über Emanzipation als über Aufstieg. Unsere Bildungseinrichtungen und unsere Schutzrechte beispielsweise für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen Menschen so stärken, dass sie selbstbestimmte Entscheidungen treffen können. Verzichten zu können ist immer noch ein Privileg: Ich kann es mir leisten, kein Fleisch zu essen, ein eAuto zu fahren, lieber die Bahn zu nehmen als das Flugzeug. Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten und nicht wissen, wie sie am nächsten Tag die Mahlzeit für die Kinder bezahlen sollen, haben diese Möglichkeiten nicht. Wir können aber die vielen Veränderungen nutzen, um den Einzelnen und die Gesellschaft zu stärken. Das wäre ein qualitatives Wachstum. Wachstum muss ja nicht immer mehr Ressourcenverbrauch und mehr Konsum bedeuten.
Das ist eine komplexe Botschaft im Vergleich zu den AfD-Parolen. Müsste der Kanzler - der die Regierungskoalition bisher eher kooperativ geführt hat - stärker von vorne führen, weil zumindest er sich noch Gehör verschaffen kann?
Ein kooperativer Führungsstil steht nicht im Widerspruch dazu, Orientierung zu geben. Ich finde auch, dass das unserem Bundeskanzler immer wieder gelingt. Insbesondere im direkten Gespräch mit Bürgerinnen und Bürgern, das er sehr häufig sucht wie beispielsweise in seinen Bürgerdialog-Veranstaltungen ist er sehr offen, klar und direkt. Die Erzählung vom sich zurückhaltenden Kanzler halte ich für längst widerlegt. In seinem Führungsverständnis geht es nicht darum, auf den Tisch zu hauen. Es geht darum, Orientierung und Zuversicht zu geben. Und das macht Olaf Scholz.
Mit Saskia Esken sprach Sebastian Huld
Quelle: ntv.de