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Kanzler-Partei und die Ukraine Ein Brandbrief, der die SPD aufschrecken müsste

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Immer historisch, immer für den Frieden: SPD-Parteichef Klingbeil neben der Willy-Brandt-Statue in der Berliner Parteizentrale.

Immer historisch, immer für den Frieden: SPD-Parteichef Klingbeil neben der Willy-Brandt-Statue in der Berliner Parteizentrale.

(Foto: picture alliance/dpa)

Fünf Historiker, darunter Deutschlands bekanntester, schreiben der ihnen nahestehenden SPD einen Brief. Sie sind entsetzt über Einlassungen der Partei-Spitze zur Ukraine-Politik - und über den Umgang mit Kritikern. Scholz und seine SPD dürften sich davon eher nicht irritieren lassen.

Am Montag hat Olaf Scholz mal wieder Bestätigung von denen erhalten, auf die es ihm am meisten ankommt: "Ich ziehe meinen Hut vor Ihnen, meinen Respekt haben Sie", lobte ein Bürger beim Kanzlergespräch in Brandenburg an der Havel das Nein des Regierungschefs zur Lieferung des Marschflugkörpers Taurus an die Ukraine. Die Bevölkerungsmehrheit, das zeigen auch Umfragen im Auftrag von RTL und ntv, hat der Kanzler in der Taurus-Frage hinter sich. Dass bei rund 20 Publikumsfragen zufällig ausgewählter Wähler und Wählerinnen keine zur Ukrainepolitik des Bundeskanzlers dabei war, deutet ebenfalls in diese Richtung: Scholz' niemals vorpreschender Kurs zur Unterstützung der von Russland überfallenen Ukraine trifft die Stimmungslage in weiten Teilen der Bevölkerung. Die Wahrnehmung und Bewertung zahlreicher Experten hingegen steht dem diametral entgegen.

Am Dienstag wurde ein Brief von fünf renommierten, SPD-nahen Historikern an die Partei öffentlich, der den aktuellen Kurs von Kanzler und Partei im Umgang mit Russland scharf kritisiert. Scholz lasse die "nötige Klarheit und unzweideutige Solidarität vermissen", wenn es darum gehe, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren dürfe. In der Frage von Waffenlieferungen seien die von Kanzler, Fraktions- und Parteispitzen vorgetragenen Begründungen "immer wieder willkürlich, erratisch und nicht selten faktisch falsch". Und: "Wenn Kanzler und Parteispitze rote Linien nicht etwa für Russland, sondern ausschließlich für die deutsche Politik ziehen, schwächen sie die deutsche Sicherheitspolitik nachhaltig und spielen Russland in die Hände."

Vorwurf der "Realitätsverweigerung"

Die Einlassungen des Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich zu einem "Einfrieren" des Krieges seien "fatal", schreiben die Autoren. "Die Vorstellung, Risiken würden allein durch Zurückhaltung minimiert, ignoriert die Eskalationsgefahr, die entsteht, wenn Putin keine Grenzen gesetzt werden." Die Historiker werfen der Partei ferner eine fehlende Aufarbeitung der eigenen Irrungen und Verfehlungen im Umgang mit Russland vor.

"Besonders problematisch ist aus unserer Perspektive schließlich der Umgang mit den Aussagen von Expert*innen." Kanzleramt und Spitzenvertreter der Partei ignorierten, was Sicherheitspolitik-Experten, Osteuropa-Forscher und Völkerrechtler beizutragen haben. "Besonders erschreckend ist, dass inzwischen sogar ausgesprochen wissenschaftsfeindliche Aussagen und abwertende Äußerungen zu Expert*innen zu hören sind." Die SPD bereite so "einer gefährlichen Desinformationskultur den Boden". Die SPD betreibe "Realitätsverweigerung", wenn sie nicht begreife, dass man Putin nur mit Stärke beikommen könne.

Jan C. Behrends, Gabriele Lingelbach, Dirk Schumann, Heinrich-August Winkler und Martina Winkler sind allesamt Professoren und Professorinnen mit SPD-Parteibuch und großem Renommee. Behrends gehört auch dem Historikerforum der Partei an. Winkler zählt seit Jahrzehnten zu den bekanntesten Historikern der Bundesrepublik. Ihr Wort sollte Gewicht haben. Doch dass solch ein Brief Experten-Community und Kanzlerpartei wieder näher zusammenbringt, muss bezweifelt werden - auch weil die Autoren selbst hart austeilen.

Des einen Friedenspolitik war des anderen Interessenpolitik

Co-Parteichef Lars Klingbeil hat viel Mühe darauf verwendet, mit der früheren Russlandpolitik der Partei zu brechen und die SPD neu auszurichten. Der im Dezember vom Bundesparteitag verabschiedete Leitantrag zur Außen- und Sicherheitspolitik der SPD bezeichnet das Festhalten am "Wandel durch Handel"-Ansatz trotz eines immer aggressiver auftretenden Wladimir Putin als "Fehler". Deutschland müsse in Ost- und Mitteleuropa verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen. "Solange sich in Russland nichts fundamental ändert, wird die Sicherheit Europas vor Russland organisiert werden müssen." Der Vorwurf der Historiker, es fehle eine Aufarbeitung der Russlandpolitik, geht so gesehen fehl.

Richtig ist aber auch: SPD-Größen wie Mützenich lehnen es weiterhin entschieden ab, der SPD eine Mitverantwortung für den Krieg zuzuschreiben, nur weil sie seit den 90er Jahren versucht habe, Russland über politische Kooperation und wirtschaftliche Verflechtung einzuhegen. "Die Entspannungspolitik trägt nicht die Verantwortung für den Überfall russischer Streitkräfte auf die Ukraine", formulierte Mützenich im Januar 2023 und würde es so wohl auch wieder sagen.

Das Dilemma: Was des einen Sozialdemokraten europäische Friedenspolitik war, war des anderen schlichte Interessenpolitik. Die wirtschaftlichen Vorteile der Export- und Industrienation Deutschland waren für Deutschlands Umgang mit Russland über drei Jahrzehnte mindestens ebenso maßgeblich wie das persönliche Vorankommen einzelner Genossen wie Gerhard Schröder. Hinzu kommt die notorische Russlandromantik einer Partei, die in Teilen schon immer genauso skeptisch nach Westen wie nach Osten geblickt hat.

Mit "Besonnenheit" aus dem Umfragetief

Sich rückblickend Wunschdenken und nationalen Egoismus auf Kosten der einstigen europäischen Sowjetstaaten einzugestehen, fällt der nach ihrem Selbstverständnis friedensstiftenden SPD schwer. Die Partei der Bismarck-Bezwinger, Republik-Mitbegründer, Hitler-Gegner und Erfinder der Entspannungspolitik kann nicht auf der falschen Seite der Geschichte gestanden haben, weil das nicht sein darf. Mit dem gegenwärtig zu beobachtenden Re-Branding zur Partei, die vor allem Deutschlands Frieden wahrt, könnte die SPD die eigene Erzählung bis zur kommenden Bundestagswahl in die Neuzeit retten: Das Wort "Besonnenheit" ist inzwischen so fest im Standardwortschatz prominenter SPD-Politiker verankert, wie es im Bundestagswahlkampf 2021 der Begriff "Respekt" war.

Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass man im Kanzleramt und im Willy-Brandt-Haus die Chance wittert, Grünen und Union die Stimmen derjenigen abzujagen, die weitere deutsche Waffenlieferungen vor allem als Eskalationsrisiko betrachten. Entsprechend schwer fällt es, der Partei innenpolitische Motive abzusprechen, wenn Scholz behauptet, eine Taurus-Lieferung führe zwingend zu einer direkten deutschen Kriegsbeteiligung. Oder wenn Mützenich der Union sowie den Koalitionspartnern FDP und Grüne das Interesse an einer diplomatischen Lösung des Krieges abspricht. Auch Klingbeil blies am Dienstag in dieses Horn, als er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sagte, er verstehe nicht, "wie aktuell versucht wird, den Wunsch nach Frieden als etwas Anrüchiges darzustellen".

Scholz fühlt sich bestätigt

Der absehbare Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz kann sich schon einmal darauf einstellen, im Wahlkampf von der SPD als Risiko für Deutschlands Sicherheit gebrandmarkt zu werden. Der Kanzler dagegen: abwägend, pragmatisch, besonnen eben. Der zuletzt wieder steigende Umfragezuspruch für Scholz deutet darauf hin, dass das aufgehen könnte. Weil Scholz und seine Bundesregierung faktisch aber sehr viel für die Ukraine tun, sie mit Waffen, Geld und politisch unterstützen wie kaum ein anderes Land, bedeutet diese Strategie auch einen kommunikativen Spagat: Zeichnet die SPD das Eskalationsrisiko durch Waffenlieferungen zu groß, befeuert sie eher AfD und Wagenknecht-Partei. Auch der Kreml dürfte sich bestätigt sehen, dass es lohnt, dem Westen etwas mehr Atomangst einzujagen.

Hinzu kommt Scholz' Hang zum Auftrumpfen: Seine Einlassung, die Debatte in Deutschland sei "an Lächerlichkeit nicht zu überbieten", kündet vom Selbstvertrauen des Kanzlers, wieder einmal richtig gelegen zu haben. Weder Scholz noch andere SPD-Granden machen sich große Mühe, im öffentlichen Umgang mit Kritik zu differenzieren zwischen persönlichen Anwürfen einzelner Politiker von FDP und Union sowie sachlichen Einlassungen renommierter Experten. Das Schreiben der fünf SPD-nahen Historiker bezeugt den derart entstandenen Flurschaden. Der Verteidigungsexperte Carlo Masala von der Bundeswehruniversität München machte am Dienstag den Brief ohne weiteren Kommentar auf X öffentlich.

Ein prominenter Abweichler weniger

Ebenfalls am Dienstag wurde bekannt, dass ein Sozialdemokrat von all dem genug hat. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Michael Roth, will nach 27 Jahren im Bundestag nicht erneut kandidieren. Er führte zum einen private Gründe an, räumte zum anderen aber auch ein: "Im letzten Jahr habe ich gemerkt, dass ich mit unseren Sitzungen immer mehr fremdele, dass mich die Gremien stören, die Stimmung darin. Wenn die Tür zum Fraktionssaal aufging, hatte ich zuletzt den Eindruck, ich steige in einen Kühlschrank." Der seit Kriegsbeginn für eine entschiedenere Unterstützung der Ukraine mit Waffen werbende Hesse war im Dezember überraschend nicht in das Parteipräsidium gewählt worden.

"Manchmal fühlte ich mich wie ein Fremdkörper", sagte Roth dem "Stern". Zur Wahrheit gehöre, dass er öffentlich stark für seine Haltungen geworben, das Gespräch mit Kollegen aber vernachlässigt habe. "Insofern trage ich auch eine Mitverantwortung für die Entfremdung." Dennoch ist er nicht einverstanden mit dem Kurs seiner SPD. Partei und Fraktion hätten sich Scholz "faktisch untergeordnet", sagte Roth. "Es hängt alles am Kanzler. Das ist in Zeiten, in denen man es nicht allen recht machen kann, schlicht eine Überforderung. Politik ist Teamspiel, keine One-Man-Show."

Damit verlässt der prominenteste innerparteiliche Kritiker der eigenen Ukraine-Politik die Fraktion nach dieser Legislatur. Die maßgeblichen außenpolitischen SPD-Stimmen sind damit Scholz, Mützenich, Klingbeil - und Ralf Stegner, der zwar kein großes Gewicht mehr in der Partei haben mag, wegen seiner beständigen Rufe nach mehr Diplomatie aber häufig in ein Mikrofon sprechen darf. Wenig deutet also darauf hin, dass die briefschreibenden Historiker künftig mehr Freude an ihrer Partei haben. Zumal diese Entfremdung zwischen SPD und Wissenschaftsbetrieb nicht neu ist. Vor 14 Monaten hatte Politikwissenschaftler Masala wegen eines damaligen Mützenich-Rundumschlags gegen Scholz-Kritiker gedroht, für Veranstaltungen der Fraktion nicht mehr zur Verfügung zu stehen. Zitat Masala: "Übrig bleiben Eure Claqueure."

Quelle: ntv.de

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