Politik

"Ergebnis hat uns überrascht" Selbst Großeltern lassen ihre Enkel bei Zukunftsthemen im Stich

"Bestimmte Gruppen können von dem Problem freikaufen", sagt Silke Borgstedt.

"Bestimmte Gruppen können von dem Problem freikaufen", sagt Silke Borgstedt.

(Foto: picture alliance / PIC ONE)

Nach der Bundestagswahl bleibt von Deutschland eine schwarz-blaue Landkarte übrig. Doch Silke Borgstedt warnt vor vorschnellen Schlüssen: "Das ist kein Ost-West-Unterschied", sagt die Geschäftsführerin des Sinus-Instituts im "Klima-Labor" von ntv. "Orte wie Gelsenkirchen sind dem Osten näher, als man denkt." Der gemeinsame Nenner ist die Angst vor einer Zukunft, in der das Leben schlechter wird - gerade auch wegen der Energie- und Wärmewende. "Diese Menschen kann man aber nicht einfach als rückwärtsgewandte Nostalgiker abtun", ermahnt die Sozialforscherin Politik und Gesellschaft mit Blick auf die Sorgen der Deutschen. Denn ihr zufolge klafft beim Klimaschutz eine große Lücke: "Was wirklich fehlt, ist die Gerechtigkeitsdebatte", sagt Borgstedt. Überraschenderweise sind bei dieser Jahrhundertaufgabe nicht einmal Großeltern eine Hilfe: "So gern die Menschen ihre Enkel haben, das Ergebnis unserer Erhebungen ist eindeutig: Sie stimmen nicht für sie ab."

ntv.de: Mit ein bisschen Abstand, wer ist Sieger oder Verlierer der Bundestagswahl?

Silke Borgstedt: Unabhängig vom Ergebnis hat uns die Wahlbeteiligung positiv gestimmt, wir nehmen eine stärkere Politisierung wahr. Offenbar ist vielen Menschen nicht egal, wie es mit Deutschland weitergeht. Die jüngere, moderne Mitte der Gesellschaft bezeichne ich oft als "Kinder der Großen Koalition". Denen war fast egal, wer regiert, denn CDU oder SPD waren immer dabei. Also haben sie die einfach abwechselnd gewählt.

Silke Borgstedt und das Sinus-Institut untersuchen, was Menschen warum denken.

Silke Borgstedt und das Sinus-Institut untersuchen, was Menschen warum denken.

(Foto: Sinus Institut)

Jetzt wurde das ganze Farbspektrum gewählt.

Ja, anscheinend verlangen die Menschen eine Veränderung oder Richtungsentscheidung.

Erkennen Sie dieses Verlangen auch in den Wahlkampfthemen?

Der Wahlkampf war ernsthafter, aber monothematischer als 2021. Es gibt viele Themen, die den Menschen unter den Nägeln brennen. Seit der Corona-Pandemie erfassen wir in einem Sorgen-Ranking, welche Sorgen in welchen gesellschaftlichen Gruppen besonders ausgeprägt sind. Darin sind Themen nach oben gespült worden, die vor zehn Jahren keine große Rolle gespielt haben.

Zum Beispiel?

Die Verteuerung der Lebensverhältnisse oder das Wohnen werden erst seit 2021 und 2022 als große Sorge genannt. Zuletzt ist Migration überdurchschnittlich stark nach oben geschossen, auch medial. Das ist aus unserer Sicht aber eher ein Ventil-Thema.

Das heißt?

Es bietet Raum für imaginäre Lösungen: Irgendjemand muss für meine Probleme verantwortlich gemacht werden; irgendjemand muss schuld daran sein, dass alles so teuer geworden ist, die Mieten steigen oder man keine Wohnung mehr findet.

Im Sinne von: Ich finde keine Wohnung, weil dort Flüchtlinge leben?

Zum Beispiel. Das war früher kein großes Thema. Jetzt berührt es sogar Menschen, die gar nicht persönlich betroffen sind. Durch die Ventil-Funktion ergibt sich auch das spalterische Diskursklima: Bist Du jetzt für oder gegen Migration? Man hat das Gefühl, man muss sich auf eine Seite schlagen, obwohl die meisten Menschen sehr wohl zwischen dem Recht auf Asyl und Zuwanderung für den Fachkräftemangel unterscheiden können und ein so wichtiges Zukunftsthema differenziert besprechen möchten. Stattdessen wird alles als "zu viel Migration" abgetan.

Ihre Beschreibung erinnert an Klimaschutz, der polarisiert ähnlich. Wo steht der denn im Sorgen-Ranking?

Das stimmt, Klimaschutz wird auch häufig auf eine Ja-oder-nein-Frage verkürzt: Wollt ihr mehr oder weniger? In unserem Ranking ist er einige Plätze nach hinten gefallen, bei den Jüngeren allerdings nicht so weit, wie häufig dargestellt. Denen ist klar, dass man das Thema angehen muss, aber die benötigen zuerst auch eine Wohnung und müssen ihr Studium finanzieren.

Ist Klimaschutz ebenfalls ein Ventil-Thema, das für höhere Mieten oder Energiekosten verantwortlich gemacht wird, weil anders geheizt werden muss?

Klimaschutz hat eine andere Färbung als Migration, aber gerade von der Mitte der Gesellschaft wird er nicht als Grundlage gesehen, um ökonomisch erfolgreich zu sein. Es gab 2021 einen Kipppunkt, an dem große Teile der Bevölkerung dachten: Das kriegen wir hin. Jetzt sind sie enttäuscht von den Maßnahmen, weil das Leben deshalb noch teurer werden könnte. Es ist ein leidiges Thema, aber die Politik hat es etwa bei der Wärmepumpe nicht geschafft, den Menschen die Angst vor potenzieller Verteuerung der Lebensverhältnisse zu nehmen.

Gibt es diese Sorgen auch umgekehrt? Denn ohne Klimaschutz wird das Leben vermutlich teurer als mit. Im Sommer gibt es inzwischen regelmäßig Berichte über den niedrigen Pegel des Rheins, auf dem keine Waren mehr geliefert werden können. Die Preise für Kaffee und Kakao steigen massiv, weil es große Ernteausfälle gibt.

Beim Geld steht oft die Kurzfristigkeit im Fokus: Wenn man nicht weiß, wie man den nächsten Einkauf oder die nächste Miete bezahlt, ist die Bereitschaft, langfristige Effekte zu sehen, gering. Das sehen wir auch bei den Energiekosten: Wenn sie steigen, nimmt man doch lieber wieder das günstige Gas.

Wie passt es denn zusammen, dass viele Menschen ihre persönliche wirtschaftliche Lage als gut bewerten und die deutsche Lage gleichzeitig als schlecht?

Das sehen wir in unseren Erhebungen und in Langzeitbeobachtungen wie dem Eurobarometer auch: Für mich sieht es ganz gut aus, für Deutschland eher schlecht. Die persönliche Lebenszufriedenheit ist hoch, der Blick in die Zukunft eingetrübt. Also, jetzt geht es mir gut, in drei bis fünf Jahren vermutlich nicht mehr. Neu ist, dass die Lücke größer wird.

Sieht man dort auch die regionalen Unterschiede der Bundestagswahl? Sind Menschen in Ostdeutschland pessimistischer als in Westdeutschland?

Wir sind nach den Wahlen geprägt von dieser schwarz-blau eingefärbten Deutschlandkarte. Aber das ist kein Ost-West-Unterschied, sondern ein regionaler. Je stärker man in die Karte reinzoomt, desto mehr strukturelle Muster erkennt man. Gelsenkirchen oder Kaiserslautern sind dem Osten in der Hinsicht näher, als man denkt. Auch dort wird Wohlstandsverlust befürchtet, weil es Regionen mit traditioneller Industrie sind. Und unsere Erhebungen zeigen einen klaren Zusammenhang zwischen Pessimismus und AfD-Affinität: Wer glaubt, dass es in Zukunft schlechter läuft, macht sein Kreuz eher bei der AfD. Speziell beim Klimaschutz ist das Problem, dass die Veränderungen in die ferne Zukunft projiziert werden. Das wird - so die Hoffnung - eher die nächste oder sogar übernächste Generation treffen.

Der Appell, an Kinder und Enkelkinder zu denken, zündet bei einer Wahlentscheidung gar nicht?

Wir haben mal untersucht, ob ältere Menschen bereit wären, im Sinne ihrer Enkel abzustimmen, ihre Stimmen also zu verschenken. So gern die Menschen ihre Enkel haben, das Ergebnis war eindeutig: Nein, um Gottes willen! Meine Stimme möchte ich behalten! Das hat uns sehr überrascht.

Wo finde ich das "Klima-Labor"?

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Wie rechtfertigen die Menschen vor sich selbst, dass sie ihre Enkelkinder mit dem Klimawandel allein lassen?

So formuliert das natürlich niemand. Bei manchen heißt es dann, dass der Klimawandel bestimmt nicht so schlimm wird. Bei anderen setzt der Fluchtreflex ein und sie möchten ihr restliches Leben bestmöglich genießen: Ich habe mir das Recht erarbeitet, mein bisheriges Geschäftsmodell so lange zu nutzen, wie es geht. Die Gegenwartsorientierung vieler Menschen ist stark ausgeprägt, und wir müssen akzeptieren, dass es unterschiedliche Zukunftsvorstellungen gibt. Manche Gruppen wollen den Weg der Wissenschaft gehen, andere sind skeptisch, ob das der richtige Weg ist. Die kann man nicht einfach nur als schlecht Gelaunte oder rückwärtsgewandte Nostalgiker abtun, die den 90er Jahren hinterhertrauern, weil ihnen die Lust auf Zukunft fehlt. Denn die haben auch eine Version einer wünschenswerten Zukunft, und zwar - ganz provokativ - ohne alte Parteien, Staatsmedien und auch ohne Klimawandel. Die sagen: Schluss mit diesem Thema!

Und reagieren deshalb so gereizt, wenn es plötzlich heißt: Ihr müsst in Zukunft mit einer Wärmepumpe heizen.

Viele von diesen Menschen haben sogar längst eine, das ist ja das Absurde. Wir müssen lernen, mit dieser Haltung umzugehen. Die These, dass sie durch den Wandel überfordert wurden und man beim Klimaschutz zu schnell zu viel von ihnen verlangt hat, davon bin ich nicht überzeugt. Aber man muss die verschiedenen Perspektiven ernst nehmen und ein Verständnis dafür entwickeln, wo die Menschen stehen. Sonst ist das, als würde ich das Ergebnis einer Erhebung kommentieren mit: Die Leute denken falsch.

Der Wähler hat falsch gewählt?

Ja, das geht in dieselbe Richtung. Klimaschutz ist eine Mammutaufgabe, die man an vielen Stellen ökonomischer fassen muss. Es wird kaum bilanziert und kommuniziert, dass unser wirtschaftlicher Erfolg davon abhängt. Klimaschutz ist immer etwas Störendes. Dabei geht es doch darum: Mit welchen Ressourcen kann ich künftig wirtschaften? Wie kann ich permanente Störereignisse verhindern? Das hat an vielen Stellen mit Veränderung und Verzicht zu tun, aber die Rechnung ist banal: Habe ich lieber 60 Prozent von 100 oder 100 Prozent von null? Was beim Klimaschutz aber wirklich fehlt, ist die Gerechtigkeitsdebatte. Bestimmte Gruppen können sich qua Vermögen von dem Problem freikaufen oder es ignorieren, während andere Menschen die Investition irgendwie in ihren Nettolohn einpreisen sollen. Das Feedback aus vielen Erhebungen von Teilen der Mitte ist: Sie klingt nicht attraktiv, aber wenn ich muss, mache ich bei der sozial-ökologischen Transformation mit - ehrlich gesagt war sie bisher aber nur ökologisch und überhaupt nicht sozial.

Die berühmte Neiddebatte, wie es abschätzig immer heißt?

Vermögensungleichheit bezeichnen viele Menschen in unseren Erhebungen als wichtiges Thema, auch weit innerhalb wohlsituierter Gruppen, die bereits hohe Einkommen erwirtschaften. Das Problem ist überwiegend das Auseinanderklaffen von Einkommen und Vermögen: Bereits vorhandenes Vermögen kann man einfach vermehren; die Vermögensbildung dagegen gelingt großen Teilen der Gesellschaft nicht mehr. Die zweifeln daran, dass ihnen der soziale Aufstieg gelingt. Und wenn Klimaschutz dann auch noch bei Flugreisen beginnt, von denen die allermeisten verglichen mit einkommensstarken Milieus in ihrem Leben gar nicht so viele machen, ist nachvollziehbar, dass die Mitte frustriert ist.

Mit Silke Borgstedt sprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das komplette Gespräch können Sie sich im Podcast "Klima-Labor" anhören.

Klima-Labor von ntv

Was hilft wirklich gegen den Klimawandel? Funktioniert Klimaschutz auch ohne Job-Abbau und wütende Bevölkerung? Das "Klima-Labor" ist der ntv-Podcast, in dem Clara Pfeffer und Christian Herrmann Ideen, Lösungen und Behauptungen der unterschiedlichsten Akteure auf Herz und Nieren prüfen.

Ist Deutschland ein Strombettler? Rechnen wir uns die Energiewende schön? Vernichten erneuerbare Energien Arbeitsplätze oder schaffen sie welche? Warum wählen Städte wie Gartz die AfD - und gleichzeitig einen jungen Windkraft-Bürgermeister?

Das Klima-Labor von ntv: Jeden Donnerstag eine halbe Stunde, die informiert, Spaß macht und aufräumt. Bei ntv und überall, wo es Podcasts gibt: RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts, Spotify, RSS-Feed

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(Dieser Artikel wurde am Donnerstag, 13. März 2025 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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