Steiniger Weg aus Abhängigkeit Wie Europa sich aus Chinas Fesseln lösen will


Allein 2022 investierten deutsche Firmen nach Angaben der Deutschen Bundesbank die Rekordsumme von 11,5 Milliarden Euro in China.
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In Brüssel kursiert das Stichwort "De-Risking", wenn es um die Beziehungen zu Peking geht. Aber wie soll das Risiko im Umgang mit China reduziert werden? Von Lieferketten bis hin zu Rohstoffen – es mangelt nicht an Ideen für Gesetzesinitiativen. Allerdings gibt es noch offene Fragen.
Der EU-Jargon ist nicht für seine Alltagstauglichkeit bekannt. Auch das neue Stichwort "De-Risking", das nun in Brüssel kursiert, wenn es um den Umgang mit China geht, wirkt abstrakt. Im Grunde geht es darum, dass die Europäer versuchen, sich aus den Fesseln der wirtschaftlichen Abhängigkeit allmählich zu lösen, ohne gleich den kompletten Befreiungsschlag gegen Peking zu wagen. Den Begriff, den EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen prägte, wollen die Staats- und Regierungschefs auf dem kommenden EU-Gipfel Ende Juni in ihre Abschlusserklärung schreiben.
Die Frage nach der genauen Definition dürfte beim Treffen für Zündstoff sorgen, da nicht einmal Deutschland und Frankreich sich bislang auf eine gemeinsame Position einigen können. Während Bundeskanzler Olaf Scholz auf "kluges De-Risking" pocht, warnte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron davor, dass Europa in Bezug auf den Taiwan-Konflikt zum "Mitläufer" der USA werde. Derweil arbeiten die EU-Institutionen bereits mit Hochdruck an Gesetzen, die zu mehr Unabhängigkeit führen sollen.
René Repasi, SPD-Abgeordneter im Europäischen Parlament, sieht im geplanten EU-Lieferkettengesetz einen Hebel, um Risiken in den Handelsbeziehungen mit Peking zu reduzieren. "China ist für die EU ein wirtschaftlicher Rivale, nicht zuletzt, weil es sich durch die Umgehung von Umwelt- und Menschenrechtsstandards Vorteile verschafft. Dabei wird auch Zwangsarbeit zum Wettbewerbsvorteil", sagt Repasi im Gespräch mit ntv.de. Seit Jahren häufen sich Berichte über Zwangsarbeitslager für die muslimische Minderheit der Uiguren in der chinesischen Provinz Xinjiang. Auch deutsche Unternehmen wie VW investieren dort in Werke.
"Risikomanagement ist Telefonnummer des Bundeskanzlers"
Das Lieferkettengesetz soll sie dazu bringen, genauer hinzuschauen, unter welchen Bedingungen ihre Produkte hergestellt werden. Prüft ein Konzern seine Lieferketten nicht darauf, ob Umwelt- oder Menschenrechtsstandards eingehalten werden, drohen Geldbußen. Im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten hat Deutschland bereits ein Lieferkettengesetz, das seit Anfang des Jahres gilt. Laut aktueller Planungen soll die EU-Novelle aber noch einen Schritt weitergehen. Die Europäische Union will etwa Firmen mit mindestens 250 Mitarbeitern in die Pflicht nehmen, Deutschland lediglich diejenigen ab 1000 Beschäftigten.
Repasi hat viel Herzblut in den Entwurf der Richtlinie gesteckt, die am 1. Juni im Europäischen Parlament abgestimmt wird. Dabei stößt er jedoch auf Widerstand von Wirtschaftsverbänden. "Sie bemängeln, dass sie Umwelt- und Menschenrechtsstandards nicht nachprüfen können, da sie nicht nachverfolgen können, welche Bauteile ihrer Produkte aus China kommen", so Repasi. Dennoch gebe es Firmen, die den Gesetzentwurf unterstützten, sagt er. Entscheidend sei eine Unternehmenskultur, in der möglichst viele europäische Mitarbeiter über einen längeren Zeitraum nach China geschickt werden, um sich ein Bild von den Bedingungen vor Ort zu machen. Bei kurzen Besuchen bestehe die Gefahr, dass chinesische Partner "Vorzeigefabriken" vor Augen führten, so Repasi.
Auch die FDP-Politikerin Nicola Beer sieht Handlungsbedarf bei deutschen Firmen, wenn es um Investitionen in China geht. "Mittelständische Unternehmen betreiben in der Regel ein vernünftiges Risikomanagement und bilden Rücklagen. So könnten sie, falls China Taiwan überfällt, ihre Engagements in China abschreiben. Große Unternehmen tun dies sehr oft nicht", sagt die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments ntv.de. Allein 2022 investierten deutsche Firmen nach Angaben der Deutschen Bundesbank 11,5 Milliarden Euro in die Volksrepublik, mehr denn je. Angesichts solcher Summen mahnt Beer zu mehr Vorsicht. "Nicht akzeptabel ist, wenn große Unternehmen meinen, dass ausreichendes Risikomanagement die Telefonnummer des Bundeskanzlers sei", sagt sie.
Bislang baut kein EU-Mitgliedsstaat Seltene Erden ab
Als federführende Abgeordnete betreut Beer ein Vorhaben, das eine Grundlage für "De-Risking" bilden soll: das Gesetz über kritische Rohstoffe. Mitte März legte die Kommission einen entsprechenden Entwurf vor, der nun von den Parlamentariern diskutiert wird. Er steht in Zusammenhang mit dem Ziel, die Produktion grüner Technologien im heimischen Markt zu fördern. Das gelingt nur, falls Europa unabhängiger von Importen wichtiger Rohstoffe aus China wird. Die Kommission macht konkrete Vorgaben: Die EU soll 10 Prozent des jährlichen Bedarfs an Rohstoffen in den Mitgliedsstaaten abbauen, 40 Prozent innerhalb des Binnenmarkts verarbeiten und 15 Prozent recyceln. Höchstens 65 Prozent sollen aus einem einzigen Drittstaat importiert werden.
Die Ziele sind ambitioniert, da die EU bei der Umsetzung gleich vor mehreren Problemen steht. Bislang baut kein Mitgliedsstaat Seltene Erden, unverzichtbar für die Produktion grüner Technologien, ab. Für die Verarbeitung wie auch das Recycling fehlt teilweise das Know-how, zudem drohen Umweltschäden. Beer sieht eine Lösung in der Förderung von Forschung, wobei ihr Pilotprojekte Hoffnung geben. "Es gibt zum Beispiel die Idee, Batterien wie eine Art 'Baukasten' zu produzieren, damit man die einzelnen Inhaltsstoffe besser recyceln kann", sagt die FDP-Abgeordnete. Zugleich setzt sie auf Diversifizierung der Einfuhren, da die EU an Partnerschaften mit verschiedenen Ländern arbeitet. Dabei sollen Mitgliedstaaten "Rohstoffe gemeinsam einkaufen, etwa wie es bei Impfstoffen während der Covid-Pandemie geschah", so Beer.
Bis vor Kurzem war in der EU der Dreiklang "Partner, Konkurrent und Rivale" zu hören, wenn es um die Beziehungen zu Peking ging. Das von der Kommissionspräsidentin proklamierte "De-Risking" macht deutlich, dass nun die Rivalität im Fokus steht. Ob daraus schließlich eine wirtschaftliche Entkopplung wird, hat China laut Beer "selbst in der Hand". Die Volksrepublik und Europa könnten weiterhin Wirtschaftspartner sein, "wenn China sich an die regelbasierte Ordnung hält und bereit ist, faire Bedingungen zu bieten sowie sich an die Regeln der Welthandelsorganisation zu halten", fügt sie hinzu.
Brüssel diskutiert Sanktionen gegen chinesische Firmen
Im Zuge einer Entkopplung von Peking kann die EU auf ein Instrument zurückgreifen, das sie bereits gegen Moskau nach seiner Invasion in die Ukraine genutzt hat: Sanktionen. In Brüssel ist die Debatte bereits in vollem Gange. Ausgangspunkt ist der russische Angriffskrieg. Die EU wirft Unternehmen in China vor, an der Umgehung der Sanktionen gegen Russland beteiligt zu sein. Dafür gebe es "klare Beweise", sagte von der Leyen am Rande des G7-Gipfels in Japan. Dass die Unternehmen in China gemeldet seien, heiße allerdings nicht zwangsläufig, dass es sich ausschließlich um dort heimische Firmen handle.
Momentan beraten die Mitgliedsstaaten über das elfte Sanktionspaket, in dem diese Firmen mit Strafmaßnahmen belegt werden sollen. "Wir meinen es ernst, dass wir die Sanktionsumgehung unterbinden wollen", sagte von der Leyen. Falls die Kommissionspräsidentin ihren Willen gemeinsam mit den Mitgliedsstaaten in die Tat umsetzt, würde die EU erstmals Sekundärsanktionen erlassen. Peking reagiert pikiert auf die Pläne. Es droht den Europäern mit Gegenmaßnahmen. Sollten beide Parteien beginnen, sich mit Embargos zu überbieten, kann aus dem "De-Risking" schnell eine Entkopplung werden.
Quelle: ntv.de