Wieduwilts Woche

Von Berlin über Gaza nach Moskau Ohne Gewalt-Tabu ist alles nichts

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Räumung eines Protestcamps in Berlin: Was ist Meinungsfreiheit, was schon offener Gewaltaufruf?

Räumung eines Protestcamps in Berlin: Was ist Meinungsfreiheit, was schon offener Gewaltaufruf?

(Foto: picture alliance / Anadolu)

Wenn Politiker Plakate kleben, riskieren sie Prügel. Judenhass an deutschen Universitäten zu verbreiten, ist dagegen Meinungsfreiheit. Es gerät etwas aus dem Ruder. Dabei ist diese Entwicklung nicht zwangsläufig.

Ah, Freitag, Kolumnenzeit! Schön: Es gibt viele Themen, das Sommerloch ist fern. Zwei drängeln sich ganz nach vorn, sie haben eine innere Verbindung. Das eine ist Israel und das andere ist Gewalt.

Was würde eigentlich passieren, wenn ich jetzt eine harte, also so richtig eisenharte Anti-Israel-Kolumne schriebe? Ich könnte mir, beispielsweise, zum Einstieg einige Stellungnahmen des israelischen Finanzministers herausgreifen. Bezalel Smotrich scheint den Hass aus allen Poren zu versprühen, das ist prima für eine Kolumne.

Smotrich wollte den Gaza-Streifen mit Israelis wiederbesiedeln. Er sagte kürzlich so etwas hier: "Keine halben Sachen: Rafah, Dir El Balah, Nusseirat - totale Vernichtung. Die Erinnerung an Amalek unter dem Himmel auslöschen. Es gibt keinen Platz für dieses reine Böse, es gibt keine Heilung, es kann nicht existieren." Er bezog sich damit auf Orte im Gaza-Streifen.

Ist Eden Golan selbst schuld?

Da ließe sich jetzt noch einiges anderes finden. Dann könnte ich das noch zusammenrühren mit den Vorwürfen Nicaraguas und Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof, wo Aussagen wie diese als Beleg für einen angeblichen genozidalen Vernichtungsvorsatz Israels herangezogen werden. Auf keinen Fall sollte man diese Aussagen unnötig einordnen - ich könnte mir auch jeden Verweis darauf verkneifen, dass Israel im Gaza-Streifen ein Selbstverteidigungsrecht ausübt.

Und, wo wir dabei sind: Warum nicht noch die Politisierung des Eurovision Song Contest thematisieren? Ist die israelische Künstlerin Eden Golan nicht ein bisschen selbst schuld, wenn sie bei der Generalprobe in Malmö von propalistinensischen Aktivisten ausgebuht wird?

Schließlich könnte ich noch den offenen Brief einiger Professorinnen und Professoren unterstützen, der in dieser Woche für Furore sorgte. Sie unterstützen die Proteste an deutschen Universitäten, berufen sich auf Meinungsfreiheit und wenn ich mir richtig Mühe gebe, kann ich vielleicht im Sinne einer schneidigen Kolumne darüber hinwegsehen, dass sie mit keinem Wort auf die nach wie vor in der Gewalt von Terroristen vegetierenden Geiseln eingehen.

Was würde passieren? Nichts.

Material wäre also vorhanden! Und wissen Sie, verehrte Leserinnen, verehrte Leser, was dann passieren würde? Wenn ich so eine Kolumne veröffentlichen würde? Gar nichts.

Gut: fast nichts. Vielleicht würde mich aus dem Freundeskreis eine irritierte Mail erreichen. Manch ein Bekannter würde vielleicht mit mir brechen, andere mir wiederum auf die Schulter klopfen. Einige Dinge würden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aber nicht passieren: Mir würde niemand androhen, meine Familie umzubringen. Mir würde niemand ankündigen, mich abzustechen. Ich würde nicht als Hurensohn oder Rassist bezeichnet. Wenn ich am Samstag elegant gekleideten orthodoxen jüdischen Familien oder israelischen Studenten im Prenzlauer Berg begegnete, müsste ich nicht damit rechnen, dass sie mich verprügeln, auch nicht, wenn sie fünf Minuten vorher diese Kolumne gelesen hätten.

Das ist der feine Unterschied zwischen dem radikalen Anteil propalästinensischer und proisraelischen Aktivisten: Gewalt und die Bereitschaft, sie auszuüben. Gewalt ist der ganze und wichtige Grund, warum wir uns in Rechtsstaaten auf ein Gewaltmonopol geeinigt haben. Kurzformel: Gewalt durch den Staat ja, durch alle anderen nein.

Dieser Kompromiss erlebt gerade eine gewisse allgemein Aufweichung. Das betrifft zunächst das Thema Nahost. "Brennt Gaza brennt Berlin" schmierten Menschen an das Rathaus Tiergarten und setzten Räume des Gebäudes in Brand, um ihre feurige Botschaft zu unterstreichen. Auf Demonstrationen kokettieren propalästinensische Demonstranten mit der Endlösung und rufen: "There is only one solution: Intifada, revolution!"

"Wachsende Freiwildkultur"

In dieser Woche haben aber auch andere den Gewaltkompromiss aufgekündigt: Die Berliner Senatorin Franziska Giffey wurde in einer Bibliothek attackiert, Grüne beim Aufhängen von Plakaten bespuckt und bedrängt, ein SPD-Politiker bei derselben Tätigkeit - das wissen viele nicht: Plakate hängen diese Leute oft selbst auf und zahlen für die Pappen teils sogar privat - ins Krankenhaus geprügelt. Giffey sprach treffend von "wachsender Freiwildkultur". Die AfD wiederum nahm bei politisch motivierten Straftaten bis vor Kurzem einen Spitzenplatz ein: Und zwar als Opfer von Straftaten, das jedenfalls geht aus einer Antwort der Bundesregierung hervor. Inzwischen liegen hier die Grünen vorn.

Im internationalen Maßstab erleben wir am Überfall Russlands auf die Ukraine, wie ein Staat Gewalt als das Mittel der Wahl ansieht, um einen Nachbarn vom Anschluss an missliebige internationale Organisationen abzuhalten - an die NATO etwa oder die EU.

Eine Gesellschaft, die eine allmähliche Toleranz für Gewalt entwickelt, hört irgendwann auf, eine zu sein. Die Vorstellung, man könne sich eine Welt nach eigenen Maßstäben herbeiprügeln, -schießen und -morden, scheint Stück für Stück um sich zu greifen. Das gilt besonders dort, wo durch Gewalt das Heiligste der Demokratie angegriffen wird: bei den Wahlen.

Enttabuisierung

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Es greift etwas um sich, das bildungssprachlich Manichäismus genannt wird: Die Vorstellung, die Welt teile sich in Gut und Böse und man selbst sei im Besitz höherer Wahrheit und damit nicht mehr gebunden an das Gewaltverbot. Diese Weltsicht greift um sich. Seien es völkische Rechtsextreme, radikale Antifaschisten oder propalästinensische Aktivisten und Sympathisanten, denen die Gewaltaufrufe aus den eigenen Reihen nicht mehr aufzufallen scheinen - oder die sich daran nicht weiter stören. Liegt das jetzt auch schon wieder am Internet?

Die nun anlaufenden Strafrechtsdebatten zum Schutz von Politikern, Ehrenämtlern und dem Staat Israel sind Scheingefechte. Gewalt in ihren diversen Formen ist schon jetzt verboten. Keine Verschärfung der Paragrafen wird sich auf gewaltbereite Täter auswirken. Das kann nur eine schlagfertige Justiz. Der Staat muss daran erinnern, wer das Gewaltmonopol auch 2024 innehat - und zwar schnell.

Quelle: ntv.de

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