Wieduwilts Woche Schock-Studie aus Brüssel: Paragrafen kann man nicht essen


Ein Studie! Eine Studie! Ursula von der Leyen nimmt Draghis Schock-Bericht entgegen.
(Foto: picture alliance / Wiktor Dabkowski)
Ganz Deutschland zankt über Migration, dabei gerät ein anderes Thema in den Hintergrund: Wie werden wir endlich wieder wirtschaftlich erfolgreich?
In dieser Woche, in der sich in Berlin Ampel und Opposition eine wilde, fintenreiche Schlacht um Migration und Kanzleramt liefern, kommt 195 Kilometer weiter südlich eine Brücke namens Carola zu dem Schluss, sie könne das alles einfach nicht mehr, und stürzt teilweise ein.
Wie jedes Ereignis in angespannter Lage sind auch die Trümmer des Carola-Kollapses von Dresden nicht davor sicher, per Politkatapult auf den jeweiligen Gegner gefeuert zu werden. Die noch irgendwie lustigeren Lesarten machen den Ausgang der Sachsenwahl verantwortlich - wer ist da schließlich nicht ein bisschen zusammengebrochen? Ernstere Analysen versuchen die Debatte um die Schuldenbremse neu zu befeuern.
So sagt die Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge, das "Festhalten an der Schuldenbremse" habe quasi das Loslassen der Brücke bewirkt. Hunderte Milliarden Euro brauche man für die deutsche Infrastruktur, viel mehr also, als die Ampel derzeit ausgeben könnte. FDP-Verkehrsminister Volker Wissing dagegen sagte, Carola sei kommunal, also keine Bundesangelegenheit und habe folglich mit der Schuldenbremse überhaupt nichts zu tun. So weit, so festgefahren.
Die Schelte des Italieners
Ebenfalls in dieser Woche stürzte aber im Schatten des Ausländervertreibens noch etwas anderes ein, auch unter viel Verkehr und betonhart, aber keine Brücke: Der europäische Glaube an das Glück durch Vorschriften. Mario Draghi stellte in Brüssel seinen über Jahre verfassten, knapp 70 Seiten starken Report über die Wettbewerbsfähigkeit der EU vor.
In diesem Report steckte allerlei Zunder, der mittelbar durchaus etwas mit Verfall und Schulden zu tun hatte. Bestellt hatte ihn die Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Draghi sollte Investitionslücken aufzeigen und Draghi zeigte: 800 Milliarden Euro sollen nun die EU-Staaten gemeinsam investieren, "gemeinsam" ist hier das Reizwort. Draghis Worte haben in Brüssel Gewicht, er leitete in Zeiten, als das Bankensystem so marode war wie Brücken in Dresden, die Europäische Zentralbank und war zuletzt Ministerpräsident in Italien.
Der Ökonom Draghi räumte im Vorbeigehen auch relativ brutal mit einer verbreiteten EU-Fantasie auf, man könne allein durch besonders feingliedrige Paragrafenwerte und harte Regulierung irgendwie einen Wirtschaftsraum zum Glühen bringen. Stattdessen schreibt er, Regulierung stehe im Weg, gerade den Tech-Unternehmen.
So habe die EU "inzwischen rund 100 technologieorientierte Gesetze und über 270 Regulierungsbehörden, die in allen Mitgliedstaaten im Bereich der digitalen Netze tätig sind", schimpft er. Die Regulierungdichte überfordere die Kleinen und begünstige die Großen, ausländischen Konzerne - das ist übrigens in etwa wörtlich das, was selbige Konzerne und Wirtschaftsverbände gern selbst seit Jahrzehnten predigen.
Draghi attestierte der EU sogar eine gewisse Zweigesichtigkeit: "Wir behaupten, Innovationen zu fördern, aber wir fügen den europäischen Unternehmen weiterhin regulatorische Belastungen zu", sagte er. Die EU möge sich dort, wo es geht, zurücknehmen und bitte nur regeln, was auf EU-Ebene geregelt werden müsse.
Es ist also eine echte Schock-Studie, ausgerechnet aus Brüssel - Paragrafen kann man doch nicht essen!
Streber mit Blaupause
Das hat man so noch nicht gehört. Im Gegenteil: Parteiübergreifend sind Brüsseler Beamte wie Abgeordnete angetrieben von Paragrafenstolz. Je ausgefeilter, umfangreicher, wortreicher, abwägungsreicher und strenger eine Verordnung ist, je mehr Behörden, Beauftragte und Zuständige sie produziert, je mehr NGOs, Thinktanks und Professoren sie umkreisen und andicken, desto besser scheint sie zu werden. Stolz loben sich Politiker und Zuarbeiter für die nächtelange Arbeit an mammuthaften Papierbatzen mit über hundert Erwägungsgründen und Myriaden delegierter Rechtsakte.
Als die EU kürzlich eine hektisch zusammengenagelte KI-Verordnung verkündete, nannte die alte und neue Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU) dieses Bremsengestrüpp allen Ernstes "Blaupause". Der ganze Planet sollte von den Europäern abschreiben, so dachte man sich das wohl. Stattdessen platzte kürzlich bei der europäischen KI-Hoffnung Aleph Alpha der Traum, mit einem eigenen Sprachmodell gegen ChatGPT ins Rennen zu gehen. Aus die Maus.
So überschätzt die kleinen verlogenen Biester nach wie vor sind: KI-Produkte gehen nicht mehr weg und die wirtschaftliche Zukunft jedes Landes hängt wesentlich davon ab, wie gut es mit KI die eigene Produktivität steigern kann. Die bittere Wahrheit: In Deutschland lassen viele Unternehmen noch immer die Finger von den stärksten Anwendungen, weil stets die Datenschutzbeauftragten über ihnen kreisen. Bald verdunkelt sich der Himmel sogar noch weiter, denn dann kommen die KI-Beauftragten hinzu. Immerhin: Wenn es mit Technologie gar nicht mehr klappt, können wir wenigstens einen Laden für Bedenken und Einwände aufmachen.
Wann heißt es bei uns: "It’s the economy, stupid"?
Einstürzende Brücken und ökonomische Irrtümer führten bisher allerdings nicht dazu, dass wir über Wirtschaft sprechen, abgesehen von Scharmützeln über die Schuldenbremse. Warum auch, praktisch jede Umfrage zeigt, die Deutschen fürchten Migration wie nichts anderes. Also lieber endlos darüber reden und sei es, um die Rechtsextremen im Zaum zu halten -eine pseudo-edle Form der Fremdenfeindlichkeit.
Migrationsregulierung wird aber nicht das Problem mit den Rechtsextremen lösen. Ein konkretisiertes Versprechen, uns werde es irgendwann besser gehen, ist Kern jeder guten Anti-Populismus-Politik, nicht das Kopieren von Fremdenfeindlichkeit. Nicht das beruhigende Zurückweisen fremder Menschen, die das Pech haben, in der ethnischen Schnittfläche mehrerer Messermörder zu stehen, führt ins Glück - weder ökonomisch noch politisch.
Für den Bundestagswahlkampf kann man sich als Parteianhänger außerhalb des populistischen Spektrums nur wünschen, dass das Thema Migration bis 2025 abgeräumt ist - auf die eine oder andere Art. Derzeit erweckt Berlin nicht den Eindruck. Die CDU möchte sich das Thema Migration erhalten, schon, um es nicht den Rechtsextremen zu überlassen, und lässt Gespräche mit der Ampel scheitern. Die Ampel wiederum konnte sich nicht durchringen, wegen der Migration die Notlage nach EU-Recht zu erklären - es wäre politischer Bankrott und juristisch ein Ritt auf der Rasierklinge.
Über die Migration nicht die Wirtschaft vergessen
Damit wird das Thema erhalten bleiben. Gerade haben die Niederlande die Notlage erklärt, die sich die Union vom Kanzler wünscht, vielleicht folgen nun andere in der EU. Soweit zur "Gemeinsamkeit", die Draghi für ein konkurrenzfähiges Europa wünschte.
Wenn wir also auch im Jahr 2025 heftig über Migration streiten, werden wir es wohl vergessen haben, deshalb sei es hier festgehalten: Carola ist nicht zusammengebrochen, weil auf der Brücke zu viele Ukrainer, Afghanen und Syrer herumstanden.
Quelle: ntv.de