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Eingesperrt, gefoltert, getötet Sport-Glitzer darf saudischen Missbrauch nicht verstecken

Cristiano Ronaldo schaute den Boxkampf Usyk gegen Fury in Saudi-Arabien neben Turki al-Sheikh (rechts) und Anthony Joshua (links).

Cristiano Ronaldo schaute den Boxkampf Usyk gegen Fury in Saudi-Arabien neben Turki al-Sheikh (rechts) und Anthony Joshua (links).

(Foto: picture alliance / empics)

Vor einer Woche steigt in Riad eine bombastische Show um den Jahrhundert-Boxkampf - und keine 30 Autominuten entfernt wird eine Frauenrechtlerin eingesperrt und misshandelt. Saudi-Arabien versucht weiterhin, mit Sport-Glitzer die Weste weißzuwaschen, während im Land Grausamkeiten regieren.

Es glitzert mal wieder. Die Scheinwerfer strahlen grell, Riad präsentiert sich in pompösem Glanz. Am vergangenen Wochenende richten sich die Augen der Sport-Welt auf Saudi-Arabien, als Oleksandr Usyk sich zum unumstrittenen Schwergewichts-Box-Champion krönt, indem er im zum "Kampf des Jahrhunderts" ausgerufenen WM-Fight Tyson Fury die Nase blutig schlägt.

Fußball-Superstar Cristiano Ronaldo lässt es sich nicht nehmen, im blauen Ferrari vorzufahren und in der ersten Reihe neben dem britischen Boxer Anthony Joshua Platz zu nehmen. Auch Liverpool-Legende Steven Gerrard, heute Manager vom Saudi-Klub Al-Ettifaq, und der in der saudischen Liga kickende Neymar sind da. Ex-Weltmeister Wladimir Klitschko reist extra aus der Ukraine an.

Währenddessen sitzt die 29-jährige Manahel al-Otaibi hinter Gittern. In Einzelhaft im al-Malaz-Gefängnis in Riad mit einem gebrochenen Bein, nachdem sie in der Haft brutal zusammengeschlagen wurde, und ohne Zugang zu medizinischer Versorgung. Keine 30 Autominuten von der Kingdom Arena entfernt, dem Ort des bombastischen Box-Glitzerevents.

Al-Otaibi wird verschleppt und missbraucht

Al-Otaibi ist eine saudische Fitnesstrainerin und Frauenrecht-Aktivistin, die nur einen Monat vor dem WM-Kampf zu elf Jahren Haft verurteilt wird. Sie ist von November 2023 bis April 2024 inmitten eines verschärften Vorgehens der Herrscher des Landes gegen abweichende Meinungen im Internet "gewaltsam verschwunden", bis sie wieder Kontakt zu ihrer Familie aufnehmen und von den Misshandlungen berichten kann. Al-Otaibi steht zunächst wegen Verstoßes gegen das Gesetz zur Bekämpfung von Cyberkriminalität unter Anklage, weil sie sich in ihren Tweets für Frauenrechte einsetzt und auf Snapchat Fotos von sich im Einkaufszentrum ohne Abaya (ein traditionelles, locker sitzendes, langärmeliges Gewand) postet.

Dann wird sie in einem Geheimprozess am saudischen Sonderstrafgericht (SCC) - von dem Menschenrechtsgruppen behaupten, dass das Terrorismus-Tribunal zur Verfolgung friedlicher Dissidenten eingesetzt wird und dafür berüchtigt ist, dass es gegen die Normen für faire Verfahren verstößt und besonders harte Urteile verhängt - wegen "terroristischer Straftaten" zu elf Jahren Haft verurteilt.

"Manahel al-Otaibis Verurteilung und elfjährige Haftstrafe ist eine entsetzliche und grausame Ungerechtigkeit. Seit ihrer Verhaftung haben die saudischen Behörden sie unerbittlichen Misshandlungen ausgesetzt", sagt Ellen Wesemüller, Pressesprecherin bei Amnesty International in Deutschland, gegenüber ntv.de. "Nicht zuletzt mit dieser Verurteilung haben die saudischen Behörden die Verlogenheit ihrer viel gepriesenen Reformen im Bereich der Frauenrechte in den vergangenen Jahren entlarvt und ihr eisernes Bestreben demonstriert, friedliche Meinungsäußerungen zum Schweigen zu bringen."

Menschenrechtsgruppen haben al-Otaibis Freilassung mehrfach gefordert. Ohne Erfolg. Ihre Schwester Fawzia sieht sich 2022 mit ähnlichen Vorwürfen konfrontiert, flieht aber im selben Jahr aus dem Königreich, nachdem sie zum Verhör vorgeladen wird. Dutzende von Menschen, darunter viele Frauen, werden in den letzten zwei Jahren in Saudi-Arabien im Zusammenhang mit Posts in den sozialen Medien inhaftiert und sogar zum Tode verurteilt.

Saudische Vision 2030 und Sportswashing

"Im Juli 2023 verurteilte das Sonderstrafgericht für terroristische Straftaten den 54-jährigen pensionierten Lehrer Mohammad bin Nasser al-Ghamdi allein wegen seiner friedlichen Online-Aktivitäten auf X und Youtube zum Tode", erklärt Expertin Wesemüller. Vage Gesetze über Cyberkriminalität werden außerdem benutzt, um gegen Menschen vorzugehen, die verdächtigt werden, sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe zu haben.

Während Manahel al-Otaibi leidet, geht es in den weltweiten Box-Berichterstattungen fast ausnahmslos um den historischen Kampf, die riesige Show, die blutigen Nasen. Die Menschenrechtsverletzungen des Königreichs interessieren dabei nicht. Der Plan Saudi-Arabiens ging wieder einmal auf: Sport, sei es Boxen, Fußball, Golf oder Tennis, nutzen, um das eigene Image aufzupolieren und von der miserablen Menschenrechtsbilanz und von Verbrechen im Land abzulenken. Sportswashing nennt man das. "Man muss die Selbstdarstellung Saudi-Arabiens als das verstehen, was sie ist: Marketing in eigener Sache, keine wahrheitsgetreue Beschreibung der Wirklichkeit", sagt Wesemüller.

Im Boxen haben die saudischen Offiziellen ein Werkzeug gefunden, bei dem das Geld noch lauter spricht als in den meisten anderen Sportarten und Boxer und Promoter nehmen die hohen Gagen (in der Regel mindestens das Doppelte im Vergleich zu Kämpfen im Rest der Welt) gerne an. Organisiert wird der "Jahrhundertkampf" von der General Entertainment Authority (GEA) der saudischen Regierung. Treibende Kraft hinter der GEA ist Turki al-Sheikh. Er ist ein Berater des königlichen Hofes - und sitzt in der ersten Reihe beim Glitzer-Fight gleich neben Ronaldo, den er mit einer herzlichen Umarmung begrüßt.

Al-Sheikh ist seit 2016 mit der Erschließung des Sport- und Unterhaltungssektors als Teil eines ehrgeizigen Programms zur wirtschaftlichen Diversifizierung und sozialen Liberalisierung unter der Leitung von Kronprinz Mohammed bin Salman beauftragt. Der 38-jährige "MBS" ist als faktischer Herrscher einer der mächtigsten Männer auf dem Planeten und seit 2022 auch Premierminister des Landes. Er gilt als gerissen, machtgierig, unerbittlich - und clever. Bereits 2011 werkelte MBS, der als Kind das Strategie-Computerspiel "Age of Empires" und Geschichten von Alexander dem Großen geliebt hat, mit Beratern aus den Bereichen der Ökonomie und des Rechts an seinen eigenen Strategien, woraus später die Vision 2030 entstand: Der Plan, Saudi-Arabien dem Westen gegenüber zu öffnen und zu modernisieren und die Wirtschaft innerhalb von nur zwei Dekaden unabhängig vom Öl zu machen.

"Mörsergeschosse gegen Menschen eingesetzt"

Während Events wie der Boxkampf am vergangenen Wochenende den Himmel über Saudi-Arabien grell erleuchten, kritisieren Human Rights Watch, Amnesty International und andere Organisationen die absolute Monarchie für eine Reihe von massiven Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen. Darunter etwa die Kriegsverbrechen im Jemen, die Ermordung äthiopischer Asylsuchender an den Landesgrenzen (sind diese Morde im Rahmen einer saudischen Regierungspolitik begangen worden, wären sie ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit), die harsche Unterdrückung der freien und friedlichen Meinungsäußerung, die Inhaftierung von Dissidenten und Frauenrechtlern, die Ermordung des Journalisten Jamal Kashoggi im Jahr 2018.

Zu den getöteten Äthiopiern - die umgebracht werden, während Ronaldo, Neymar und Co. ihre Mega-Verträge in der saudischen Liga unterschreiben, die Golf-Welt praktisch vom Königreich aufgekauft wird und gleich mehrere riesige Box-Spektakel im Land stattfinden - sagt Wesemüller von Amnesty: "Human Rights Watch dokumentierte, dass der Grenzschutz unter anderem Mörsergeschosse gegen die Menschen einsetzte und einige von ihnen aus nächster Nähe erschoss, darunter auch Minderjährige. Dem Bericht zufolge wurden von März 2022 bis Juni 2023 an der Grenze zum Jemen Hunderte, wenn nicht Tausende äthiopische Migrantinnen und Migranten und Asylsuchende getötet."

Auch die zügellose Vollstreckung der Todesstrafe (unter anderem findet 2022 eine Hinrichtung von 81 Menschen an einem einzigen Tag statt), selbst bei für gewaltlose Straftaten Inhaftierten, steht in der Kritik. "Mit 172 Hinrichtungen 2023 führt Saudi-Arabien mit China und Iran auch die Liste der Länder an, die am meisten Todesurteile vollstreckt haben", sagt Wesemüller. "Gerichte haben die Todesurteile nach grob unfairen Verfahren verhängt, auch gegen Personen, die zum Zeitpunkt der mutmaßlichen Tat noch minderjährig waren - obwohl das Land zugesagt hatte, die Strafe für Minderjährige abzuschaffen."

"Die Reformversprechen Saudi-Arabiens sind eine Lüge"

Glitzernde Veranstaltungen wie der Kampf Fury gegen Usyk sollen von diesen Taten ablenken und Saudi-Arabien als "Sportzentrum" aufwerten. Die Herrscher des Königreichs hoffen außerdem, dass die Ausrichtung von Großveranstaltungen die solventen Saudis dazu ermutigt, einen größeren Teil ihres Einkommens im eigenen Land auszugeben. Die 20 Prozent der 32,2 Millionen saudischen Bürgerinnen und Bürger, die in Armut leben - viele von ihnen sind Frauen oder Mitglieder von Haushalten, die von Frauen geführt werden -, können an den schillernden Fußball- oder Box-Events ohnehin nicht teilhaben.

Weiterhin soll das Königreich zu einem weltweiten Touristenziel gemacht werden, eine weitere Einnahmequelle für die Herrscher. Und auch dieser Plan funktioniert. Offizielle Stellen weisen Anschuldigungen der Menschenrechtsorganisationen zurück, doch im September 2023 äußert sich MBS erstmals zu den Sportswashing-Vorwürfen. In einem in Saudi-Arabien aufgezeichneten, englischsprachigen Interview mit US-Sender Fox News sagt er, dass ihm die Vorwürfe gegen sein Land "egal" seien: "Wenn Sportswashing mein Bruttoinlandsprodukt um ein Prozent erhöht, dann werde ich weiter Sportswashing betreiben." Ein Teil der wirtschaftlichen Diversifizierung sei der Tourismus, erklärt der Kronprinz weiter: "Und wenn man den Tourismus entwickeln will, ist ein Teil davon die Kultur, ein Teil davon ist der Sportsektor."

Offiziell ist Teil der Vision 2030 auch, dass das Land sich öffnet und Frauen mehr Rechte gewährt. Die Realität sieht anders aus. Zwar sind beim Glitzer-Boxkampf natürlich auch Frauen ohne Kopftuch zugegen und es läuft westliche Rap-Musik, doch die Herrschaft von bin Salman ist eine dunkle Zeit für die Menschenrechte in Saudi-Arabien. "Um es ganz deutlich zu sagen: Die Reformversprechen Saudi-Arabiens sind eine Lüge", urteilt Wesemüller von Amnesty International.

Das Urteil von Manahel al-Otaibi etwa stehe "in direktem Widerspruch zu der von den saudischen Behörden verbreiteten Darstellung von Reformen und der Stärkung der Rolle der Frau." MBS behaupte zwar, Frauen könnten sich kleiden, wie sie wollten, "aber das ist eben nicht die Wahrheit". Mit al-Otaibis Verhaftung und der harschen Strafe hätten "die Behörden einmal mehr die Willkür und Widersprüchlichkeit ihrer sogenannten Reformen deutlich gemacht sowie ihre anhaltende Entschlossenheit, die Frauen in Saudi-Arabien zu kontrollieren", so die Expertin weiter.

Vielleicht hätte al-Otaibi den Mega-Kampf geschaut

Umso perfider wirkt Riads großer Einkauf ins Damentennis, der in der vergangenen Woche offiziell verkündet wurde. Auch die Übernahme des UN-Vorsitzes zur Frauenförderung durch Saudi-Arabien ab 2025 ist ein Schlag ins Gesicht von al-Otaibi und anderen unterdrückten und inhaftierten Frauen im Königreich. "Frauen werden weiterhin durch Gesetze und im täglichen Leben diskriminiert", sagt Wesemüller. "Saudi-Arabien hat seit 2022 ein Personenstandsgesetz, das leider entgegen offiziellen Verlautbarungen geschlechtsspezifische Diskriminierung fortschreibt in allen Bereichen des Familienlebens, von der Ehe über die Scheidung bis hin zum Sorgerecht für die Kinder und zur Erbschaft. Es schützt Frauen außerdem nicht vor geschlechtsspezifischer Gewalt."

Saudi-Arabien sei "im Moment das führende Land der Welt" für den Boxsport, sagt Fury vor seinem WM-Kampf gegenüber der "Financial Times". "Sie sind die größten Spieler im Spiel, und ich glaube nicht, dass wir die Spitze des Eisbergs von dem, was kommt, gesehen haben", so Fury. "Sie haben eine gewaltige, gewaltige Vision für diesen Sport." Im Anschluss an ihren Fight danken beide Boxer dementsprechend noch im Ring den Machthabern des Königreichs.

Als Fitnesstrainerin hätte Manahel al-Otaibi den Boxkampf vielleicht gerne im Fernsehen verfolgt. Doch wie viele andere Frauen und Männer leidet sie hinter Gittern, weil sie für ihre Rechte als Mensch kämpft.

Quelle: ntv.de

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