VAR-Glück und Naturgewalten Im Donnergrollen lernt die DFB-Elf wieder dazu

Die Partie war für 25 Minuten unterbrochen.

Die Partie war für 25 Minuten unterbrochen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Erstmals seit der EM 2016 steht die deutsche Fußball-Nationalmannschaft bei einem großen Turnier wieder in einem Viertelfinale. Das Team von Bundestrainer Julian Nagelsmann muss dafür einige Hindernisse überwinden - und bleibt nach Spielende noch immer schwer zu fassen.

Am Ende gipfelt eine verrückte Reise in nur fünf Minuten. Freude, Ekstase, Enttäuschung, Wut: Ein paar hundert Sekunden im Achtelfinale der Heim-Europameisterschaft reichen, um all diese Emotionen zu erzählen. Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft zieht mit dem 2:0-Erfolg über Dänemark zum ersten Mal seit acht Jahren wieder in ein Viertelfinale ein. An einem Abend mit vielen Geschichten bleiben einige besonders hängen. Da sind donnernde Naturgewalten, die für eine Unterbrechung sorgen, oder der Einsatz modernster Technik, der den Lauf des Spiels komplett verändert.

Denn es hätte alles ganz anders kommen können. Um 22.30 Uhr liegt der Ball plötzlich im Tor des DFB-Teams. Die Dänen jubeln, die Tormusik rollt los, Verteidiger Joachim Andersen dreht zum Feiern ab. In der 48. Minute steht es auf einmal 1:0 für Dänemark. Aber, Moment, es meldet sich der VAR. Zählt der Treffer wirklich? Im Dortmunder Westfalenstadion beginnen bange Sekunden des Wartens. Während Schiedsrichter Michael Oliver auf den Monitor an der Seitenlinie starrt, fangen die dänischen Fans an, leise zu singen. Dann, 22.32 Uhr: Mitten in diesen zarten dänischen Gesang kracht der Jubel der deutschen Fans. Ekstase und Erleichterung: Das Tor wird aberkannt. Abseits.

Es bleibt also beim 0:0 im Dortmunder Westfalenstadion. Und während sich auf den Rängen alles wieder sortiert, fährt die DFB-Elf den nächsten Angriff. Von links flankt David Raum in den Strafraum, der Ball geht ins Nichts. Aber: Keine Minute nach dem großen Jubel der Erleichterung, erscheinen wieder die drei Buchstaben auf den Videoleinwänden: VAR. Schiedsrichter Oliver deutet auf seinen Arm, während er wieder zum Monitor läuft. Der Chip im Ball und der Ausschlag auf einer grünen Linie liefern den Beweis: Ausgerechnet Eigentlich-Torschütze Andersen berührt den Ball mit dem Arm. Bis auf einige DFB-Spieler hatte es im Stadion kaum jemand bemerkt - und die hochsensible Technik.

Was danach passiert, ist schnell erzählt. Elfmeter für das DFB-Team. Kai Havertz verwandelt. 1:0, 53. Minute, 22.35 Uhr. Das Stadion, die deutsche Auswechselbank, Bundestrainer Julian Nagelsmann: Alles explodiert. Und die Dänen? Die spüren, dass ein Sport, der so sehr von Emotion lebt, plötzlich von der kalten Technik beeinflusst werden kann: Während noch das "Wuhuuu" aus "Song 2" von Blur aus den Stadionboxen wummert, die deutschen Fans das Tor feiern, reicht die UEFA die Bilder von der vorangegangenen Abseitsentscheidung nach. Andersen stand bei seinem Tor vielleicht mit dem kleinen Zeh im Abseits. Für das menschliche Auge nicht wahrnehmbar. Der dänische Trainer Kasper Hjulmand war auf der anschließenden Pressekonferenz so wütend, man verstand ihn auch ohne Übersetzung.

Der Kampf gegen die "Widerstände"

Wie das in einem Alles-oder-Nichts-Spiel so ist, kippt alles nach dem 1:0. Es verändert alles. Die dänischen Fans waren zwar in der Unterzahl, doch bis zu diesem Treffer waren sie mindestens genauso laut, wie die Menschen in den weißen und pinken Trikots mit den Deutschlandfahnen. Bundestrainer Nagelsmann sprach nach dem späten 1:1-Ausgleich gegen die Schweiz vergangene Woche davon, dass das Tor das Stadion aufgeweckt habe. Es war wieder so. Das Dortmunder Westfalenstadion kann eine ganz besondere Energie haben, das spürte man: Plötzlich feiert die "Weiße Wand" auf der Südtribüne jede Grätsche, jeden Ballgewinn des DFB-Teams.

Und dennoch: Bundestrainer Nagelsmann tat sich nach dem Abpfiff schwer, das Spiel zu greifen. Während der Partie wirkt er ungewöhnlich angespannt: Ständig tigerte er durch die abgesteckte Zone vor seiner Trainerbank, immer wieder fuchtelte er mit den Händen herum. Auch als die 90 Minuten absolviert waren, konnte er es nicht so richtig fassen. Nagelsmann sprach nach Spielende wahlweise von einem "skurrilen K.-o.-Spiel", das "ganz wellenartig" ablief oder aber von einer Partie "voller Widerstände". All das stimmte.

Erstmals während der Heim-EM hatte er seine Startelf umgestellt. Insgesamt drei Wechsel nahm er vor. Der Dortmunder Nico Schlotterbeck ersetzte den gelbgesperrten Jonathan Tah und löste seine Aufgabe überzeugend. Für den gegen die Schweiz sehr unglücklichen Maximilian Mittelstädt rückte Raum in die erste Elf. Etwas überraschend durfte zudem Bayern-Star Leroy Sané für den zuletzt unauffälligen Zauberer Florian Wirtz von Beginn an ran. Doch auf der Mittelstürmerposition gab es keinen Wechsel: Niclas Füllkrug blieb seine Superjokerrolle, stattdessen stürme Havertz wieder.

Doch nicht "Mr. Kachelmann"

Trotz der Umstellung surft die DFB-Elf gut in das Achtelfinale. Die Neuen fügen sich ohne Probleme ein, vor allem Sané ist sich für keinen Sprint zu schade. Die ersten 20 Minuten waren die aus Sicht des Bundestrainers die besten seiner Mannschaft im bisherigen Turnier. Doch während die DFB-Elf das Spiel dominiert, zeichnet sich am Dortmunder Abendhimmel das drohende Unheil ab. Erst sind es dunkle Wolken, dann vereinzelt Blitze und irgendwann ein lauter Knall. Panisch werden in den untersten Reihen die Regencapes ausgepackt. Wolkenbruch, Spielunterbrechung. Die Mannschaften verlassen das Feld.

Wind und Regen peitschen durch das Stadion, vom Dach rieseln enorme Wassermassen hinter den Eckfahnen nieder. Die deutschen Fans in den unteren Rängen verziehen sich nach oben. Es entstehen besondere Momente: Irgendwann singen die Menschen im Westfalenstadion selbstironisch "Oh, wie ist das schön", während man den Platzregen auf das Stadiondach prasseln hört. Auf der Pressetribüne werden eifrig Handys zum Filmen gezückt, zwei dänische Fans tanzen oberkörperfrei in den vom Dach fallenden Wasserfällen.

Nagelsmann wird später auf der Pressekonferenz auf Englisch gefragt: Kam die Unterbrechung zu spät? War sie zum richtigen Zeitpunkt? Der Bundestrainer schüttelt den Kopf, er wisse das nicht. Schließlich sei er nicht "Mr. Kachelmann", der Wetter-Experte. Was aber der Fußball-Fachmann Mr. Nagelsmann wusste: Seiner Mannschaft hat die 25-minütige Unterbrechung nicht unbedingt gutgetan. Das DFB-Team legt nach der Unterbrechung zwar vielversprechend los, verliert dann aber ein wenig den Faden. Die Dänen kommen besser ins Spiel, haben sogar kurz vor der Halbzeit eine Großchance.

Und jetzt? Turnierfavorit?

Nach der Pause kippt die Partie. Vor allem durch das doppelte VAR-Pech der Dänen an dessen Ende das 1:0 der DFB-Elf steht. Danach fällt alles leichter - auf den Tribünen und auf dem Rasen: Dänemark muss seine Verteidigung auflockern, das gibt dem DFB-Team viele Räume, auch Toni Kroos wird nicht mehr ständig angelaufen. In der 68. Minute brechen dann alle Dämme: Jamal Musiala trifft nach einem langen Ball zum 2:0. Bierbecher fliegen über die Tribünen, im Stadion singen die deutschen Fans schon von Berlin, dem Finalort.

Vielleicht ist das etwas voreilig. Denn nicht nur dieses "wellenartige" Spiel, sondern auch dieses DFB-Team ist noch immer schwer zu fassen. Auf welcher Welle surft es gerade? Wie stabil ist es? Manchmal spielt es seine Gegner an die Wand, manchmal wirkt es arg fragil. Die Defensive um Abwehrboss Antonio Rüdiger wurde noch keinem richtigen Stresstest unterzogen - auch nicht im Achtelfinale. Die Spiele gegen die Schweiz und Dänemark haben dagegen gezeigt, wie abhängig die Nationalelf von Kroos ist. Ohne ihn funktioniert wenig, bis gar nichts, vor allem, wenn er aus dem Spiel genommen wurde. Einen echten Plan B gibt es bislang nicht.

Und trotzdem: Der Bundestrainer ist zufrieden. Das DFB-Team klettert nicht nur im Turnierbaum ein Stück weiter, es macht in seinem Lernprozess den nächsten Schritt. Nach dem rauschendem 5:1-Auftakt gegen Schottland, dem 2:0-Erfolg gegen die physischen Ungarn und dem Notfallplan-1:1 gegen die Schweiz ist es die nächste Lektion. Die DFB-Elf gewinnt auch in einem psychisch herausfordernden Spiel. Die lange Gewitter-Unterbrechung und auch die bangen VAR-Minuten seien nicht leicht zu verarbeiten. Er sei stolz, sagte Nagelsmann. "Das hat die Mannschaft auch verdient, dass sie langsam die alte Festplatte gelöscht bekommen und verstehen, wie gut sie eigentlich sind." Während der Bundestrainer das sagt, tobt draußen schon das nächste Gewitter.

Quelle: ntv.de

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