DFB-Elf zündet den Notfallplan Rekord-Joker Füllkrug baut sich sein eigenes Dilemma

Im Gruppenfinale müht sich die deutsche Fußball-Nationalmannschaft lange gegen die Schweiz. Das Team von Bundestrainer Julian Nagelsmann rennt einem Rückstand hinterher, bis einer trifft: der Rekord-Joker Niclas Füllkrug. Und die Mannschaft lernt wieder etwas Neues dazu.

Um 22.49 Uhr bebt das Stadion in Frankfurt am Main. All das Drama, all das Bangen, all das Zittern: Es gipfelt in diesem einen Moment. DFB-Verteidiger David Raum bekommt den Ball auf links, legt ihn sich einmal vor und schlägt ihn dann in die Mitte. Und dort ist dann Niclas Füllkrug, der die Flanke ins Tor einnickt. In der zweiten Minute der Nachspielzeit fällt das 1:1 gegen die Schweiz, plötzlich geht die DFB-Elf doch ungeschlagen in die K.-o.-Runde.

Es ist die einfachste Taktik im Fußball: Flanke, Kopfball, Tor. Und doch kann sie so viel auslösen, vor allem bei den beiden Helden: Der eine, Raum, muss erst mal durchschnaufen, als er eine Stunde später erklärt, was das für ihn bedeutet. "Das war ein brutal geiler Moment einfach", sagt Raum im Keller des Stadions. Er habe immer gehofft, dass er "einen Turniermoment bekommt, der war es heute". Dann muss er schnell weg: zu seinen Liebsten und die ganzen Nachrichten auf seinem Handy lesen.

Und der andere, Füllkrug, kann seinen "Turniermoment" auf die Zehntelsekunde genau erklären. Er wusste, wohin der Ball kommen würde, beide hatten das im Training mehrfach eingeübt. Die Flanke kam mit ordentlich Wucht, das sei eben Raums "Waffe", deshalb musste er noch Tempo herausnehmen. Und dann? Explosion. "Ich glaube, das war ein ganz wichtiger Moment, für das Land, für die Mannschaft, für die Spieler", sagt Füllkrug, der mit seinem vierten Jokertreffer bei einem großen Turnier nun DFB-Rekordhalter ist. Sein Treffer könne ein "Knackpunkt" sein, hofft er.

Wenig Kroos, wenig los

Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg: Bei der DFB-Elf kann man gerade zuschauen, wie eine Mannschaft zusammenwächst und jeder seine Rolle findet - auch wenn nicht alles funktioniert. Beim 5:1-Auftakt im Schottlandspiel hat sie bewiesen, dass sie das rauschende Fußballfest beherrscht. Anschließend zeigten die Nagelsmänner beim 2:0-Erfolg über Ungarn, dass sie mittlerweile auch unangenehme, physische Gegner besiegen können. Und diesmal? Rechtzeitig bevor sie die Reise in die K.-o.-Runde antritt, muss sie noch mal erfolgreich zum Notfallplan greifen.

Am Ende braucht es genau diesen besonderen Moment, weil vorher wenig zusammenläuft. Beide Teams konnten das Achtelfinale schon buchen, es geht also nur darum, auf welchem Ast des Turnierbaums die Reise weitergeht. Und obwohl das Ausscheiden gar nicht möglich ist, fühlt es sich im Stadion seltsamerweise doch sehr nach K.-o.-Spiel an. Selbst auf der Pressetribüne werden verzweifelt Arme in die Luft geworfen, es wird laut "Ohhhh" gerufen, die letzten Minuten verfolgen manche Fans nur noch stehend.

Denn lange müht sich die DFB-Elf, der rutschige "Angst-Rasen" tut sein Übriges. Da hilft es auch nicht, dass die Schweizer Toni Kroos, so gut es eben geht, aus dem Spiel nehmen. Der 34-Jährige steht unter ständiger Bewachung, teilweise agiert er fahrig, seine Passquote liegt bei "nur" 92 Prozent. Die eigentlich so zuverlässige Ballmaschine irritiert gleich zu Beginn der Partie: Kroos spielt einen Ball zwar in einen Raum, der völlig leer ist, aber keiner seiner Kollegen befindet sich auch nur annähernd in der Nähe.

Andrich trifft, doch es zählt nicht

Das DFB-Team kramt derweil im eigenen Werkzeugkasten, um den Abwehrriegel der mutigen Schweizer zu knacken, findet aber nichts. Erst als Mittelfeld-Arbeiter Robert Andrich die Brechstange ausprobiert, bebt das Stadion in Frankfurt am Main das erste Mal. Sein Fernschuss titscht einmal vor dem Schweizer Keeper Yann Sommer auf (der verdammte Rasen!), der verschätzt sich, der Ball fällt ins Tor. Doch, Halt! Musiala tritt vorher einem Schweizer auf den Fuß, das Schiedsrichtergespann erkennt das am Bildschirm als Foul, der Treffer zählt nicht. Nagelsmanns Fazit: Kann man abpfeifen, muss man aber nicht.

Wenig später erzielt der Schweizer Dan Ndoye dann das 1:0 in der 28. Minute. Bislang war die Abwehr des DFB-Teams keine Sorgenfalte auf der Stirn von Bundestrainer Nagelsmann, das könnte sich nun ändern. Denn weder Antonio Rüdiger noch Jonathan Tah sehen bei dem Gegentreffer sonderlich gut aus. Der eine rückt vor der Hereingabe von außen zu spät raus, der andere ist zu weit von seinem Gegenspieler entfernt. Es patzt ausgerechnet die Innenverteidigung, die gegen Ungarn der DFB-Elf das erste Zu-null-Spiel bei einem Turnier seit 2016 ergrätschte. Ob sie zusammenbleibt, ist fraglich: Tah fehlt im Achtelfinale gelbgesperrt, Rüdiger kämpft mit Oberschenkelbeschwerden.

Und dann? Im Stadion kippt das Momentum nun vollends. Die ohnehin schon deutlich lauteren Schweizer Fans hören nicht mehr auf, ihre Mannschaft anzufeuern. Die deutschen Fans, so wirkt es, brauchen ein paar Minuten, um den Schock zu verarbeiten. Doch gemeinsam mit der DFB-Elf retten sie sich in die Pause. Normalerweise ist das ein Moment des Durchatmens, des Nachdenkens. Die Bässe in der Halbzeit aber wummern so laut, dass sie jeden klaren Gedanken vertreiben.

Nagelsmann irritiert mit seinen Wechseln

In der zweiten Halbzeit macht die DFB-Elf dann da weiter, wo sie aufgehört hat. Sie erarbeitet sich eine Chance nach der anderen. Doch wirklich gefährlich wird es selten: Der eine Fernschuss geht weit über das Tor, der nächste Kopfball von Kai Havertz landet auf dem Querbalken. Zugleich werden die Fans immer unruhiger - wo bleibt der Superjoker Füllkrug? Der Bundestrainer nimmt sich Zeit beim Reagieren.

Eigentlich hieß es, Nagelsmann sei mittlerweile berechenbar geworden. Dreimal hat er die gleiche Startelf aufs Feld geschickt, sogar die Wechsel ließen sich beinahe genau vorhersagen. Doch diesmal ist alles anders. Nagelsmann wechselt zwar, aber überraschenderweise zunächst defensiv. Erst nimmt er mit dem glücklosen Maximilian Mittelstädt und dem verwarnten Tah die halbe Abwehrreihe runter, dafür bringt er eben jenen Raum und Nico Schlotterbeck. Die Uhr tickt, nur noch eine halbe Stunde. Das DFB-Team vergibt indes weitere Hochkaräter und wird defensiv immer anfälliger.

Das Rätsel hinter seinen Wechseln erklärt Nagelsmann erst auf der Presskonferenz: Es ist der Notfallplan. Erst bringt der Bundestrainer den jungen Maximilian Beier für den "Worker" Andrich, damit gibt es eine kleine Überraschung auf dem Feld: Die Doppelsechs aus Gündoğan und Kroos galt eigentlich als ein Relikt vergangener Joachim-Löw-Tage, doch Nagelsmann belebt sie wieder. Die DFB-Elf wird damit noch konteranfälliger und bleibt ungenau im Spielaufbau. Dann nimmt der Bundestrainer die Zauberer Florian Wirtz und Jamal Musiala vom Feld - und bringt Leroy Sané und Füllkrug. Spätestens das ist das Signal, ab jetzt heißt es: hoch und weit in den Strafraum - der Notfallplan.

Am Ende geht das doch noch auf und überdeckt so manche negative Erkenntnis. Es stürzt nur einen ins Dilemma: den Torschützen Füllkrug. Denn der macht seine Jokerrolle so gut, dass der Bundestrainer mehrfach überlegen wird, bevor er ihn in die Startelf nimmt. Der BVB-Star ordnet sich unter, reicht in der ersten Hälfte noch seinen Mitspielern die Wasserflaschen. Nagelsmann hat sich für Havertz entschieden, lobt ihn auch nach dem Spiel - obwohl er seinen einzigen Treffer per Elfmeter erzielt hat und körperlich weniger robust ist. Damit sind im deutschen Spiel Flanken kein richtiges Mittel.

Füllkrug derweil liefert Argumente für beide Rollen - für die Startelf und als Joker. "Es ist Freud und Leid für ihn zugleich", sagt Nagelsmann im Anschluss. Denn Füllkrug trifft eben, wenn er reinkommt: im März gegen die Niederlande, im Eröffnungsspiel gegen Schottland und nun gegen die Schweiz. Und das sogar in letzter Sekunde, warum sollte der Bundestrainer etwas ändern?

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen