Schiri-Wut und Tor-Eskalation Starkstrom-Bundestrainer Nagelsmann dreht frei
30.06.2024, 02:55 UhrDeutschland steht im Viertelfinale der Heim-EM. Der Weg dorthin ist mühsam und mit vielen turbulenten Ereignissen gepflastert. Besonders unter Druck stand Bundestrainer Julian Nagelsmann und der bekam seine Nervosität erst spät in den Griff.
Irgendwann nach der 70. Minute kehrte der innere Julian in den Bundestrainer zurück. Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft hatte sich endlich belohnt, hatte endlich das 2:0 im EM-Achtelfinale gegen Dänemark erzielt. Jamal Musiala war losgerannt, hatte den Ball von Nico Schlotterbeck bekommen, den anstürmenden Torwart Kasper Schmeichel so sehr eingeschüchtert, dass der das direkte Duell vermied und in seinen Kasten zurückrannte. Eine schlechte Idee. Musiala kam immer näher und hob das Spielgerät elegant über den Routinier.
Das Stadion eskalierte, die Bierbecher flogen Richtung Spielfeld, die Menschen auf den Rängen fielen sich in die Arme und der Bundestrainer hüpfte wie ein glückliches Kind im Trampolin-Wunderland. Wild geworden sprang er die gesamte Anspannung dieses ebenso stimmungsvollen wie bizarren Abends aus sich heraus, der vom frühen VAR-Pech, von einem unglaublichen Gewitter und doppeltem VAR-Glück flankiert worden war.
Nagelsmann konnte die Dinge, die sich hernach im Dortmunder Westfalenstadion ereignet hatten, genießen. Was in seiner Welt allerdings kein gemütlicher Abend auf der Sitzbank ist, sondern ein fortwährendes Getigere an der Seitenlinie bleibt. Aber die Gänge von links nach rechts wurden kürzer, die Frequenz niedriger, die Gesten weniger ausladend. Einzig als Niclas Füllkrug auf dem Weg zu seinem nächsten Joker-Tor war, am herausragend reagierenden Schmeichel scheiterte und der Assistent Abseits anzeigte, tobte Starkstrom-Nagelsmann an der Linie, trat gegen einen Gegenstand. Seit Bayern-Coach Thomas Tuchel weiß man ja, dass das zwar eine befreiende Wirkung haben kann, allerdings orthopäisch nicht immer gut endet. Aber der DFB-Coach kam offenbar ohne schwerere Blessur davon. Stuttgart und das Viertelfinale können kommen.
Es braut sich mächtig was zusammen
Noch am Tag vor dem Spiel hatte er betont, wie entspannt er sei. Wie gut die Mannschaft gearbeitet habe und wie gut man auf den Gegner vorbereitet sei. Doch spätestens mit dem Anpfiff war der innere Julian irgendwo zwischen Teamhotel und Westfalenstadion auf der Strecke geblieben. Mit Spielbeginn zupfte sich Nagelsmann das schwarze Hemd ständig zurecht. Mal links, mal rechts. Mal vorn, mal hinten. Dabei saß das Hemd eigentlich perfekt. Andere Bundestrainer hatten in der Vergangenheit andere Kompensationsstrategien gefunden, der aktuelle Chef des DFB-Teams, ohnehin ein Mann der Klamotten, malträtiert halt die Kleidung.
Der Druck war auch groß. Die Vorrunde hatte schließlich keinen finalen Schluss darüber zugelassen, wie gut das deutsche Team ist. Und parallel eine große Euphorie entfacht. Da ist die Fallhöhe schon immens. Die Schotten waren überfordert (5:1), die Ungarn robust, aber mittellos (2:0) und die Schweizer frech und gallig (1:1). Einzig die Resilienz der Nagelsmann-Truppe war gegen jeden Zweifel erhaben. Und nun also die Dänen.
Es hatte sich mächtig was zusammengebraut in und über Dortmund. 20.000 Fans war am Nachmittag in der drückenden Schwüle zum Stadion gelaufen, nachdem sie sich zuvor an der Reinoldikirche tüchtig in Stimmung gesungen hatten. Ein bisschen weiter westlich hatten sich die Dänen aufgemacht, besangen das kulinarische Gut Schnitzel und kündigten an, dass später am Abend "alles vorbei sei" für Deutschland, "schade". Es waren äußerst friedliche Züge. Züge voller Erwartungen. Und egal, wie extrem sich die Fans diesen Abend ausgemalt hatten, es kam ganz anders. Keine Machtdemonstration der Deutschen, auch keine Blamage. Keine Last-Minute-"Lücke". Keine Verlängerung, kein Elfmeterschießen. Dafür ein Nerven zerfetzendes VAR-Theater und ein Unwetter, das sich hinter dem tropischen Monsun nicht zu verstecken braucht. Wieder ergossen sich die Westfalenfälle vom Dach, auf das sich während der zweiten Halbzeit ein Mann geschlichen hatte. Im Stadion bekam man davon nichts mit, eine Gefährdungslage habe zudem nicht bestanden, teilte die Polizei mit.
Variabel, wild, gut
Dann Anpfiff. Nagelsmann hatte dreimal umgebaut. Nico Schlotterbeck, das war längst klar, musste für Jonathan Tah ran. David Raum ersetzt Maxi Mittelstädt und Leroy Sané spielte für Florian Wirtz. Der Bundestrainer wollte mehr Tempo, mehr Tiefe. Und er bekam sie sofort. Die Deutschen rannten wie die Wilden auf die Dänen los. Sie stürmten auf die weiß-pinke Wand, die sonst die schwarzgelbe Südtribüne ist. Ein unvergleichbares Kollektiv, das Gegner einschüchtern und der eigenen Magie eine ganz besondere Kraft geben kann. Sané saugte sie in sich auf, sprintete über den Platz, als müsse er Gott und der Welt etwas beweisen. Nicht alles gelang. Toni Kroos verteilte die Bälle, Musiala wollte sie immer haben. Auch Kai Havertz, der wieder einmal von Beginn an stürmte. Er ging immer wieder in die Tiefe, verließ die Mitte, dort tauchte Sané auf. Das war variabel, wild, gut.
Nagelsmann gefiel das. Er klatschte in einer Tour, wenn seine Hände nicht das Hemd richteten. Er drehte die Finger im Kreis, forderte Rotation. Auch er hatte sich von der donnernden Kraft des Stadions anstecken lassen. Er fraß Kilometer um Kilometer. "Wir waren zunächst überragend drin. Die ersten 20 Minuten waren die besten des Turniers von uns, glaube ich", sagte er später. Nach fünf Minuten tobte er das erste Mal, ballte beide Fäuste. Die Tormusik erklang, das Stadion stand auch ohne Major Tom kurz vorm Abfliegen. BVB-Mann Schlotterbeck hatte einen Eckball in den dänischen Kasten gescheppert. Aber ein Block von Joshua Kimmich zuvor wurde als illegal bewertet, das Tor zählte nicht. Nagelsmann fand das falsch: "Ich glaube, dass wir auch eigentlich ein reguläres Tor schießen. Natürlich gibt es da einen kleinen Block, aber der wird immer gestellt - nicht so dramatisch, ehrlich gesagt." Deutschland war im Überfallmodus, Dänemark suchte die Pausentaste und Nagelsmann trieb an und trieb an. Er wollte den schnellen Treffer, die schnelle Beruhigung. Er bekam sie nicht.
Dänemark brachte den Ball immer wieder zu Christian Eriksen und dessen beeindruckende Ruhe am Ball legte sich erst wohlwollend auf die eigene Mannschaft, lastend auf das DFB-Team und trübend auf die Ränge. Es wurde die Ruhe vor dem, nunja, Unwetter. Aus Bochum und Castrop-Rauxel funkten Fußballbegeisterte SOS, als drohende Vorboten zuckten wilde Blitze über den Himmel. Ein beeindruckendes Schauspiel. Nagelsmann guckte kaum nach oben, für abseitige Naturgewalten hatte er keinen inneren Julian. Er selbst wurde zu einer, wollte sein Team wieder wachrütteln, das den Zugriff verloren hatte. Er winkte ab, zeigte an. Aber seine Botschaften kamen nicht mehr durch. Dänemark hatte Halbchancen, die von den leidenschaftlich verteidigenden Schlotterbeck und Rüdiger meist gut gelöscht wurden. Plötzlich ein Donner, laut wie ein Böller. Pause. Die Blitze tobten, der Regen ergoss sich bisweilen so heftig, dass die gegenüberliegende Tribünenseite kaum zu sehen waren. Was für eine Entladung vom Himmel. Ein paar Dänen tanzten im Schauer, die Deutschen sangen "Oh wie ist das schön".
"Das berechnet ein Computer, deshalb ist es korrekt"
Nach über 20 Minuten ging es weiter, und wieder los wie zu Beginn. Deutschland rannte an, Havertz scheitert, Schlotterbeck köpft knapp daneben. Nagelsmann klatschte wieder, tigerte, hatten Ideen. Und einen Moment, in dem er seinen Bauch rausschob, die Hände an den Kopf hielt und durchatmete. Schlotterbeck hatten einen Ball leicht vertändelt, aber Rasmus Højlund konnte das aus spitzem Winkel nicht bestrafen. Das Spiel war offener, die Dänen sahen, dass mit mehr Mut Möglichkeiten entstanden. Pause. Und direkt danach zwei Szenen, die das Spiel kippen ließen. Die Führung der Dänen wird nach langer Prüfung zurückgenommen (51.). Thomas Delaney stand in der kleinsten Maßeinheit der Welt den minimalsten Schritt zu weit vorne, Abseits. Selbst auf dem animierten TV-Bild braucht es das Höchstmaß an Konzentration, um den Regelverstoß zu erkennen. "Das berechnet ein Computer, deshalb ist es korrekt, auch wenn es skurril ist", bekannte Nagelsmann.
Tore: 1:0 Havertz (53., Handelfmeter nach Videobeweis), 2:0 Musiala (68.)
Deutschland: Neuer - Kimmich, Schlotterbeck, Rüdiger, Raum (ab 81. Henrichs) - Andrich (ab 64. Can), Kroos - Musiala (ab 81. Wirtz), Gündoğan (ab 64. Füllkrug), Sané (ab 88. Anton), - Havertz - Trainer: Nagelsmann
Dänemark: Schmeichel - Andersen, Vestergaard, Christensen (ab 81. Bruun Larsen) - Bah (ab 81. Kristiansen), Delaney (ab 69. Nørgaard), Højbjerg, Maehle - Skov Olsen (ab 69. Poulsen), Eriksen - Höjlund (ab 81. Wind) - Trainer: Hjulmand
Schiedsricher: Michael Oliver (England)
Gelbe Karten: Nagelsmann - Andersen, Bah, Maehle (2)
Zuschauer: 62.000 (ausverkauft) in Dortmund
Der Schock auf "Süd" legte sich, die Dänen auf "Nord" schimpften noch, da griff der VAR wieder ein: Elfmeter für Deutschland, ein Handspiel gab es (52.). Das neue Ball-EKG schlug an. "Die Handregel wird seit Jahren diskutiert, das kann man pfeifen, muss man nicht", sagte der Bundestrainer nach dem Spiel: "Wenn ich vor der EM richtig aufgepasst habe in der Regelkunde, war das ein Handspiel." Nagelsmann war nicht mehr einzufangen. Zwischen Angst vor dem Knockout, der Aktivierung des Notfallplans und der Erlösung - Havertz verwandelte präzise - waren keine zwei Minuten vergangenen. Zupfen, umplanen, drehen, meckern, jubeln, Spannung halten, jubeln. Dieser emotionale Starkstrommodus zerrt tüchtig am Akku. Aber keine Zeit für den Energiesparmodus. Sieben Minuten später bricht Havertz durch, Raum hatte ihn gesehen. Der Stürmer chippt den Ball knapp vorbei. In der Mitte war Leroy Sané mitgelaufen und zu Fall gekommen. Aber kein Pfiff. Nagelsmann wütet, schimpft, versteht die Welt nicht mehr: Gelb! Er schimpft weiter. Wieder Havertz, knapp vorbei (und eh Abseits, 64.). Höjlund ist frei, knallt den Ball mitten auf Manuel Neuer. Ein Tanz am Abgrund. Ein Protagonist auf dem Parkett: der Bundestrainer. Feuer überall. Es ist kaum auszuhalten.
Dann Schlotterbeck, Musiala, Tor, 2:0. Die Erlösung. Es bricht aus dem Trainer raus, wie nach Füllkrugs 1:1 gegen die Schweiz in der Nachspielzeit. Er bebt, schreit, springt. Ekstase ersetzt Anspannung. "Es war ein Spiel voller Widerstände. Dagegen haben wir gut angekämpft. Nach der Regenunterbrechung haben wir es defensiv gut gemacht, offensiv nicht mehr gut." Stimmt, mehrere Chancen blieben ungenutzt. Nagelsmann erlebte das mit Puls im gelben Bereich. Die Dinge in Dortmund waren längst in die richtige Richtung gelaufen. Abpfiff, Fäuste ballen, abklatschen. Der innere Julian schaltete in den Energiesparmodus.
Quelle: ntv.de