Die magische WM-Nacht 1990 Als der einsame Beckenbauer ein Bild für die Ewigkeit schuf
09.01.2024, 08:06 Uhr
Einsame Lichtgestalt: Franz Beckenbauer suchte nach dem WM-Triumph 1990 einen Moment der Ruhe.
(Foto: picture alliance / dpa)
Der deutsche Triumph bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1990 ist für Generationen eine prägende Erfahrung. Teamchef Franz Beckenbauer war der perfekte Dirigent, er ließ seine Spieler laufen. Einmal brach die Wut aus ihm aber auch gnadenlos heraus. Am Ende stand ein Bild für die Ewigkeit.
Es konnte gar nicht anders kommen. Am Abend des 8. Juli 1990 musste Deutschland im Stadio Olimpico einfach Fußball-Weltmeister werden. Denn an der Seitenlinie stand Franz Beckenbauer. Da stand der Mann, dem seine Freunde und Wegbegleiter stets bescheinigt hatten, dass er auf der Sonnenseite des Lebens segelte. Das immer dort oben war, wo der Franz war, der an diesem Sonntag (7. Januar 2024) nach langer und schwerer Krankheit verstorben ist. Und so kam es dann auch. Andreas Brehme schoss die Nationalmannschaft gegen Ende eines zähen, nahezu unansehnlichen Spiels in der italienischen Hauptstadt Rom in der 85. Minute in Führung. Er überwand Elfmetertöter Sergio Goycochea mit einem satten Schuss in die linke Ecke (aus Sicht des Schützen). Der Pfiff zum Strafstoß war eher wohlwollend gewesen, aber egal, Tor, 1:0.
Das Spiel war kein Leckerbissen, es war ein Kampf, die Argentinier foulten häufig, die Deutschen dominierten. Beckenbauer befand: "Die Argentinier waren zu schwach, um gegen uns bestehen zu können. Schade für das Endspiel, aber wir können uns den Gegner nicht aussuchen." Den Moment der Krönung schmälerte das freilich nicht. Und als es geschafft war, entstand ein Bild für die Ewigkeit. Eines, das Generationen von Deutschen mit Beckenbauer verbindet. Bis heute, und auch lange über seinen Tod hinaus. So nah war das Land seinem Kaiser nie. Und so nah kam es wohl auch nie wieder. In den vergangenen Jahren fand sogar eine Entfremdung statt. Der dunkle Schatten der WM-Vergabe 2006 hat sich nie ganz verzogen.
"Ich wollte meine Ruhe haben und da war Ruhe"
Beckenbauer schlenderte nach dem Abpfiff ganz allein über den Rasen des Stadio Olimpico. Tief versunken in Gedanken. Er schlenderte so bedächtig, als würde er etwas suchen. Aber was? Das Wichtigste hing ja bereits um seinen Hals, die Goldmedaille. "Ich wollte meine Ruhe haben", hat er später erzählt, "und da war Ruhe." Was ihm durch den Kopf ging? "Ich wusste gar nicht, wohin mit mir, und floh auf den Platz. Du guckst auf den Rasen, und in ein paar Minuten fliegt dein ganzes Leben an dir vorbei. Ich dachte an meine Mutter, meine Familie, an den WM-Titel als Spieler 1974 in München und an zu Hause. Bis plötzlich ein Arm kam, mich anfasste und aus den Gedanken riss." In den Sekunden der Einsamkeit hatte er das Gefühl, "es drängt mich einer, es schiebt mich einer über den Platz", sagte Beckenbauer in der neuen ARD-Dokumentation. Es war der Sommer der Einheit gewesen. Deutschland feierte gemeinsam, eine historische Glückseligkeit. Alles schien möglich. Alles wurde möglich.
Bange Minuten vergingen nach dem Treffer von Brehme. ARD-Mann Gerd Rubenbauer, der das Finale mit Karl-Heinz Rummenigge kommentierte, fühlte sich wie an Silvester, so zäh steuerte dieses Spiel dem Höhepunkt entgegen. In der 93. Minute griff Schiedsrichter Edgardo Enrique Codesal Méndez zur Pfeife. Es war geschafft. Beckenbauer nahm die Brille von der Nase, steckte sie ins Jacket. Deutschland war zum dritten Mal Weltmeister. Und Beckenbauer hatte auf dem letzten Meter seiner Karriere als Teamchef, so musste er genannt werden, weil er die entsprechende Lizenz als Trainer nicht besaß (Trainer der Mannschaft war offiziell Holger Osieck), noch das Happy End gefeiert. Seit 1984 war er im Amt gewesen, war auf Jupp Derwall gefolgt, der bei EM im gleichen Jahr mit der Nationalmannschaft bereits in der Vorrunde gescheitert war, zum ersten Mal in der Verbandsgeschichte.
Der Volkswagen ersetzt den Cadillac
Etwas, das damals eine Ungeheuerlichkeit war. Etwas, an das man sich mittlerweile längst gewöhnt hat. Mit dem "Kaiser" ging es schnell wieder bergauf, auch wenn es sechs Jahre bis zur Krönung dauerte. Aufgehoben für das letzte Spiel. Im Dezember 1989 hatte der DFB bereits verkündet, dass Beckenbauer nach der Weltmeisterschaft 1990 aufhören werde, dass Berti Vogts übernimmt. Der kommende Mann verkündete mit großen Worten: "Franz Beckenbauer kann man vergleichen mit einem Cadillac. Ich persönlich vergleiche mich eher mit einem deutschen VW." Der Geadelte gab zurück: "Ich bin voll überzeugt, dass der Berti Vogts der ideale Nachfolger ist." Doch der Mann aus Büttgen hatte es nicht leicht. Wurde auch in den Medien hart angegangen: "Dem Künstler mit dem gewissen Etwas folgt ein Mann ohne Charisma nach, dem dennoch viel Vertrauen gilt", hieß es in der "FAZ". Er bekam von seinem Vorgänger allerdings auch die denkbar schwerste Bürde aufgeschultert. Beckenbauer sagte nach der magischen Nacht von Rom: "Auf Jahre hinaus wird unsere Nationalmannschaft unschlagbar sein." Es kam anders.
Doch bevor die Vogts-Jahre begannen, drehte der Cadillac Beckenbauer noch einmal auf. Nach dem verlorenen WM-Finale 1986, nach dem Eklat um Toni Schumacher, nach dem Halbfinale-Aus 1988 und dem "Totengräber"-Streit mit Paul Breitner, nach dem alles entscheidenden Zittersieg in der WM-Qualifikation gegen Wales 1989, stand er nun am Abend des 8. Juli bereit, um seiner schon phänomenalen Karriere die nächste kaiserliche Krone aufzusetzen. Es war ein mitreißender Weg ins Finale gewesen, aber auch ein steiniger. Der Trainer hatte seine Jungs machen lassen. Und meistens machten sie es gut. Er schaute nicht immer genau hin, was seine Fußballer abseits des Rasens trieben, wenn sie mal eine Zigarette rauchten. Undenkbar heute. Beckenbauer wirkte wie ein Laissez-faire-General. Ein Mann, der sich über das Mögliche definierte, nicht nach dem Unmöglichen strebte.
Beckenbauer trat fluchend Eiskübel durch die Gegend
Und so lange es lief, so lange verfolgte er die "Politik" der ganz leichten Hand. In seinen Worten ausgedrückt: "schau'n mer mal." Zu bunt war es ihm einmal geworden. Nach dem Viertelfinalsieg gegen die Tschechoslowakei (1:0), da rastete der Kaiser aus. Wie Rumpelstilzchen wütete er durch die Kabine. "Er trat fluchend Eiskübel durch die Gegend", wie sich Lothar Matthäus erinnerte. Und Beckenbauer hörte einfach nicht auf. Klaus Augenthaler wollte sich ins körperwarme Becken retten: "Selbst da kam er hinterher und wütete".
Die Botschaft kam an, die deutschen Spieler schärften ihre Sinne. Im "aufregendsten, dramatischsten, vielleicht sogar besten Spiel der WM", so Beckenbauer, rang Deutschland im Halbfinale England nieder. Im Elfmeterduell jagte Chris Waddle den finalen Schuss in die Wolken. Kultspieler Gary Lineker sagte hernach: "Fußball ist, wenn 22 spielen, und am Ende gewinnt immer Deutschland." Danach dann Finale. Wieder gegen Argentinien, wie halt schon 1986. Die Südamerikaner gingen geschwächt in das Spiel, vier Spieler - Sergio Batista, Ricardo Giusti, Julio Olarticoechea und Claudio Caniggia - waren gesperrt, Superstar Diego Maradona stark angeschlagen.
"Geht's raus und spielt's Fußball"
Schon vor dem Endspiel sah Beckenbauer seine Mannschaft "so konzentriert wie noch nie, das konnte gar nicht schiefgehen". Er empfand keinen Grund, vorher "noch Purzelbäume zu schlagen oder rumzuschreien", er sagte nur seinen ikonischen Satz: "Geht's raus und spielt's Fußball." Und das taten sie.
Bis zu diesem Tag strahlt die Mannschaft einen besonderen Geist aus. Sie gilt als eine der am meisten verehrten Nationalmannschaften Deutschlands. Als sich die Weltmeister im Sommer 2020 trafen, um die magische Nacht von Rom zu feiern, sie jährte sich zum 30. Mal, war die Nation gerührt. Ein Foto mit allen alten Helden ging durchs Land, sorgte für Gänsehaut. Beckenbauer saß in der Mitte, umrahmt von seinen Spielern. Schon damals ging es ihm nicht mehr sehr gut. Drei Jahre später fehlte er. Ehefrau Heidi ließ ausrichten, dass die Teilnahme für den Franz "einfach zu viel" gewesen wäre. Es wurde eine Zusammenkunft, von der man hört, es sei nochmal der kaiserliche Gassenhauer "Gute Freunde kann niemand trennen" geschmettert worden. Nun hat sich einer verabschiedet. Der Kaiser ist tot.
Quelle: ntv.de