Fußball

Neue Prioritäten gegen Kolumbien Hansi Flick vollführt überraschende Wende

Hansi Flick sucht den Ausweg aus der Krise.

Hansi Flick sucht den Ausweg aus der Krise.

(Foto: dpa)

Hansi Flick steht in seiner Trainerkarriere so sehr unter Druck wie nie zuvor. Den Spaß an der Arbeit mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft hat er trotz der Misserfolge nicht verloren. Allerdings macht die Situation etwas mit ihm und so terminiert er die entscheidende Phase der EM-Vorbereitung um.

Gelsenkirchen als Ort der Zeitenwende. Darauf muss man erstmal kommen. Die alte Industriestadt kämpft seit Jahren, seit Jahrzehnten um eine neue Vision. Anders als in den Nachbarstädten Dortmund, Bochum und Essen geht der Strukturwandel langsamer vonstatten. Der Comedian Bastian Bielendorfer hatte im vergangenen Jahr dermaßen hart über seine Heimat geurteilt, dass er offiziell ausgeladen worden war.

Nun, dieser Stadt kommt an diesem Dienstagabend eine neue, temporär begrenzte Relevanz zu: Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft möchte sich gegen Kolumbien (20.45 Uhr, RTL und im Liveticker bei ntv.de) aus der Bedeutungslosigkeit erheben und den Menschen wieder das Gefühl geben, dass da im kommenden Jahr etwas Großes möglich ist.

Dann steht die Heim-Europameisterschaft an. Dann möchten die deutschen Fußballer in der Lage sein, um den Titel mitzuspielen. Ein neues Sommermärchen soll her. DFB-Direktor Rudi Völler hat diesen Wunsch quasi per Anordnung erlassen. Das Problem: Dieser Anordnung fehlt der atmosphärische Unterbau. Eine Begeisterung für die Mannschaft lässt sich kaum noch finden, selbst in den tiefsten Schachtanlagen des Ruhrgebiets nicht. Auf der Suche nach einer Verbindung zu den Fans bemüht sich der DFB-Tross zwar um Nahbarkeit, aber der Kraftimpuls, der Dinge ins Rollen bringt, der fehlt. Nämlich überzeugende Leistungen. Die jüngsten vier Siege gelangen gegen eine italienische B-Elf, den Oman, Costa Rica und Peru, rundherum elf sieglose Spiele. Eine bittere Wahrheit über den Zustand des Teams.

"Es geht erstmal ums Ergebnis"

Ab September, wenn die neue Saison angelaufen ist, wenn die Spieler wieder volle Akkus haben, wollte Flick mit seinen Spielern in die entscheidende Phase einsteigen. Binnen zehn Monaten wollte er das Wrack DFB-Team wieder aufpolieren und zu einem Stolz schippernden Kahn machen. Doch weil die Kritik an ihm, seinem Plan, seinen taktischen und personellen Experimenten immer wilder wuchert, entscheidet sich der Bundestrainer nun dazu, seinen Zeitplan überraschend anzupassen. "Die Vorzeichen sind jedem bekannt: Wir wollen natürlich dieses Spiel gewinnen", sagte Flick am Montag. Das Experimentieren rückt auf der Agenda diesmal ein Stück nach hinten. "Es geht erstmal ums Ergebnis", sagte Flick zur Priorisierung des Auftrags in Gelsenkirchen.

Und ein kleines bisschen geht es auch um ihn selbst. Bei einer weiteren Niederlage werden die Diskussionen um ihn weiter Fahrt aufnehmen. Bis September wäre er nur Passagier der Debatte. Erst dann könnte er mit guten Leistungen und souveränem Coaching verlorenen Boden wiedergutmachen. Zwar haben die Bosse um Völler und Präsident Bernd Neuendorf alles getan, um Flick vor den Spekulationen zu schützen. Aber die Geschichte des Fußballs zeigt: Beteuerungen dienen selten der Beruhigung. Flick gewährte vor seinem 24. Spiel als Cheftrainer einen Blick in sein Gemüt, als er beantworten sollte, wie er mit der Kritik umgehe, die er in dieser Heftigkeit in seiner Karriere wohl noch nie erlebt habe. "Das stimmt, da muss ich Ihnen leider zustimmen. Aber letztendlich ist es so, dass man in der Verantwortung steht. Und die Ergebnisse geben wenig Spielraum für etwas anderes her", sagte Flick. Zermürbt wirkte er aber nicht, eher angriffslustig: "Ich gehe kompromisslos meinen Weg!"

Wo sind die Randsteine auf Flicks Weg?

Dem allerdings fehlen nach wie vor erkennbare Randsteine. Ein EM-Gerüst ist in der wilden Experimentier-Wut, die in den vergangenen Monaten Leitmotiv seines Handelns war, nicht zu erkennen. Geschweige denn eine Hierarchie. In der soll İlkay Gündoğan, der gebürtige Gelsenkirchener, eine tragende Rolle einnehmen, aber welche? Bislang sind sowohl Flick als auch Vorgänger Joachim Löw daran gescheitert, den herausragenden Spielmacher so gewinnbringend einzusetzen, wie es Josep Guardiola bei Manchester City gelingt.

Vogelwild ist die Lage in der Abwehr. Die "Süddeutsche Zeitung" fasste die Situation angesichts von 20 unterschiedlichen Formationen in 23 Spielen zuletzt so zusammen: "Irgendwas mit Rüdiger". Der Bundestrainer urteilt in seiner Gesamtanalyse anders: "Ich sehe, dass wir uns entwickeln, das gefällt mir." Angesichts von 22 Gegentoren in den jüngsten 15 Partien, davon nur zwei zu null, eine bemerkenswerte Schlussfolgerung.

Flick will sich aber nicht von seinem Weg abbringen lassen. Betont immer wieder seinen Plan und überrascht dabei bisweilen mit Einschätzungen zur Qualität des Teams. Am Tag nach dem Nations-League-Finale zwischen Titelgewinner Spanien und dem unglücklichen Verlierer Kroatien bekannte er: "Wir spielen auf der gleichen Ebene, dem gleichen Niveau, wenn wir alles einbringen." Eine These, die ihm noch ganz böse auf die Füße fallen kann. Aber bislang prallt nahezu alles an ihm ab, was ihm an Kritik entgegenschlägt.

So will er auch gegen die Südamerikaner wieder auf die Dreierkette setzen, die bislang vor allem eines war: eine Einladung für schnelle und erfolgreiche Angriffe des Gegners. Den Fokus aber setzt der Bundestrainer auf die Offensive. Gegen Polen, bei der Niederlage am Freitag, war die Chancenverwertung wieder einmal großes Thema. Flick fehlt im Angriff noch "ein Tick Vertrauen und Entschlossenheit. Dennoch stand Niclas Füllkrug, der in acht Länderspielen bisher sieben Tore erzielt hatte, beim Training nicht in der vermeintlich ersten Elf.

EM-Euphorie noch nicht voll entflammt

Die Stammformation fürs Turnier soll erst ab September bei den Duellen mit Japan und Vize-Weltmeister Frankreich eingespielt werden. Dann, berichtete Flick, "wird alles ganz anders ausschauen. Da sehen wir mit Sicherheit eine Mannschaft, die bei der EM 2024 den Erfolg holen soll, den wir uns alle wünschen." Kolumbien, als 17. der Weltrangliste nur drei Plätze hinter der DFB-Auswahl notiert, ist der nominell stärkste Gegner des laufenden Dreierpacks.

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Doch für die WM in Katar waren die seit zehn Spielen ungeschlagenen "Cafeteros" nicht qualifiziert. Die Südamerikaner dienten indes schon zweimal als Aufbaugegner in schwierigen Zeiten. Vor der WM 1998 beim 3:1 in Frankfurt, vor allem aber bei der Generalprobe für das spätere Sommermärchen 2006, einem 3:0 in Mönchengladbach. Geschichte soll sich wiederholen. Nun in Gelsenkirchen. Dort, wo der FC Schalke 04 vor ein paar Wochen aus der Bundesliga abgestiegen war, aber mit besten Gefühlen in die Pause ging.

Ein Sieg soll also her, sagt Flick, der trotz der Krise unbedingt noch einmal den Spaß an seiner Arbeit betonte. Robin Gosens nannte einen Sieg sogar "essenziell". Doch was, wenn es wieder schiefgeht? Auch dann, betonte Völler, bleibe Flick Bundestrainer: "Ja, natürlich." Präsident Neuendorf hält es ohnehin für "völlig übertrieben, den Untergang des Abendlandes auszurufen". Sicher, die Euphorie für die EM sei noch nicht voll entflammt (eine niedliche Verkehrung der Tatsachen), die Stadien allerdings, "sind ausverkauft". Die Arena in Gelsenkirchen aber noch nicht, am Montag waren 45.000 der rund 51.000 Tickets vergeben. Die VIP-Tribüne indes ist prall gefüllt. Auch eine schöne Nachricht.

Quelle: ntv.de, mit dpa/sid

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