Kimmich, Goretzka und Gündoğan Das Problem mit Deutschlands bestem Fußballer
19.06.2023, 21:31 Uhr
Noch ein Spiel steht an, dann endet auch für die Nationalmannschaft die Saison. Es ist eine frustrierende, die eine Mannschaft ohne Hierarchie und Stabilität hinterlässt. İlkay Gündoğan ist nun der große Hoffnungsträger, aber in welcher Rolle eigentlich?
Wie bewertet man eigentlich, wer der beste Fußballer eines Landes ist? An Paraden? Grätschen? Zweikämpfen? Passquoten? Toren? Erfolgen? Schwierige Sache. Normalerweise. Nicht aber derzeit in Deutschland. Dort dürfte bei der Wahl niemand an İlkay Gündoğan vorbeikommen. Der 32-Jährige ist Kapitän von Manchester City, hat mit der besten Vereinsmannschaft der Welt gerade erst das Triple gewonnen. Als Torschütze und Spielgestalter. Für Trainer Josep Guardiola ist er unverzichtbar. Und das tatsächlich. Nicht immer passen bei "Pep" verbale Heroisierung und gelebte Praxis zueinander. Zur Inkarnation des besten Profis, den der Katalane nicht brauchte, ist der Brasilianer Dante geworden. Nicht ganz so schlimm steht es um Gündoğan. Aber ein bisschen Dante steckt auch in seiner DFB-Geschichte.
Denn eine der ganz großen Fragen seit Jahren lautet: Wohin mit dem Mann, der in Gelsenkirchen geboren wurde und nun nach langer Zeit, wie er bekannte, heimkehrt. Am Dienstagabend, wenn es mit der Nationalmannschaft auf Schalke zum Abschluss des Länderspiel-Dreierpacks gegen Kolumbien geht (ab 20.45 Uhr bei RTL und im ntv.de-Liveticker), sucht ein Bundestrainer abermals nach einer guten Lösung. Gefunden haben sie weder Hansi Flick, der aktuelle Amtsinhaber, noch Vorgänger Joachim Löw. Aber woran liegt das eigentlich? An Gündoğan? Ja, auch. So gut er im Verein spielt, so selten hat er im Trikot der Nationalmannschaft überzeugt. Allerdings bekam er auch weniger Chancen und wenn, dann immer unter kritischer Aufmerksamkeit. Von ihm wurde mehr erwartet als von anderen. Durchschnitt wurde nicht toleriert. Nicht bei einem, dessen Erzählung aus England immer wieder nach Wunderdingen klang. Aber an dem Stück Trikotstoff kann es ja freilich nicht erklärt werden.
Immer stand ihm einer im Weg
Die Gründe liegen woanders. In der Art, wie Gündoğan das Spiel gestaltet, wie der Trainer die Rolle des 32-Jährigen sieht und die Mannschaft um ihn herumbaut. In Manchester ist das geschehen. Gündoğan war der erste große Transfer von Guardiola. Immer hat er zu ihm gehalten, auch nach dem Kreuzbandriss Mitte ihrer ersten gemeinsamen Saison. Bei den Skyblues agiert er neben dem herausragenden Kevin de Bruyne als Achter. Er hat viele Freiheiten, entwickelt Torgefahr und orchestriert die Angriffe. In der Einfachheit liegt seine große Stärke. Oft mit dem vorletzten Pass vor dem Abschluss. In der Nationalmannschaft wurde ihm diese Rolle eher verwehrt. Zwischen Joshua Kimmich, dem zwar zuletzt öffentlich vehement kritisierten Unverzichtbaren, Leon Goretzka und Thomas Müller gab es keinen Platz für den Mann aus Manchester. Alles Männer vom FC Bayern mit einer großen Lobby (neben ihren unbestrittenen Qualitäten). Nun ist Müller zwar vorerst weg (aber schon wieder in Lauerstellung), dafür aber sind Jamal Musiala, Florian Wirtz und Kai Havertz da.
Obwohl der Stratege derzeit der wohl einzige Spieler in der Nationalmannschaft auf Weltklasseniveau ist, will ihm der Bundestrainer keine Stammplatzgarantie aussprechen. Er erinnerte vor dem Spiel gegen Polen am vergangenen Freitag (0:1) angesprochen auf Gündoğan daran, dass man die Stars "gerne Richtung Sonne hochheben" würde, um dann "gerne zuzuschauen, wie sie verbrennen". Dabei wird es in der nach Hierarchie und Stabilität verzweifelt suchenden Mannschaft unbedingt darauf ankommen, dem Spielmacher die richtigen Bedingungen für seine herausragenden Qualitäten herzurichten.
"Hansi weiß, dass ich flexibel einsetzbar bin"
Mit dem viermaligen Weltmeister ist Titelhamster Gündoğan noch ohne Trophäe. Bei der EM 2012 war er Reservist ohne Einsatz, die WM 2014 und EM 2016 verpasste er verletzt, beim Desaster 2018 spielte er nur gegen Schweden. Erst bei der EM 2021 war er Stammspieler, doch weil ihm vor dem Achtelfinale gegen England der Kopf mächtig brummte, musste er passen - und die Nationalelf scheiterte. In Katar kam bei der letztlich entscheidenden Niederlage gegen Japan nach seiner Auswechslung der Bruch im deutschen Spiel. Das soll sich nun ändern.
Und der 32-Jährige, der alles andere als ein Lautsprecher ist und auf Pressekonferenzen trotz aller Routine immer noch angenehm aufgeregt wird, macht Werbung für sich selbst. Nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf explizite Frage. "Ich kann viel positive Energie und eine gewisse Ruhe reinbringen. Hansi weiß, dass ich flexibel einsetzbar bin", sagte er. Das ist bescheiden, nach den Erfolgen im Verein aber auch bestimmt und faktisch unterfüttert: "Ich kann mich schnell umstellen auf die Anforderungen auf der Sechs, auf der Acht, auf der Zehn." Um seinen Drang nach vorne zeigen zu können, wäre ihm allerdings "eine Absicherung mit einem klaren Sechser" am liebsten. So ein Spielertyp gebe ihm "eine gewisse Sicherheit".
"Können Momente für die Ewigkeit werden"
Damit spricht er einen wunden Punkt in der Nationalmannschaft an. Denn im Kraftzentrum herrscht ein Vakuum. Kimmich ist sehr umtriebig, versucht das Spiel immer wieder an sich zu reißen. Goretzkas Qualitäten kommen in der defensiven Rolle ebenfalls nicht zur Geltung. Er braucht Platz vor sich, um mit seiner Dynamik anzutreiben, Tiefe zu schaffen, Torgefahr zu erzeugen. Einen Sechser wie den Spanier Rodri bei Manchester City, den gibt es in Deutschland in dieser Form nicht. Nicht auf diesem Niveau. Am nächsten kommen ihm vielleicht noch Rani Khedira und Robert Andrich. Aber diese Vergleiche wirken wie aus einer anderen Welt.
Bitter für Gündoğan, der in dieser Symbiose so gut ist wie vielleicht nie zuvor in seiner Karriere und daher im Sommer sehr umworben ist. Zum BVB, das bekannte er, gab es Kontakt, aber nie die realistische Option einer Rückkehr. Der FC Barcelona mit Coach Xavi soll ganz heiß auf den Spielmacher sein, er könnte der Chef einer neuen Tiki-Taka-Generation werden. Aber auch Guardiola will ihn nicht hergeben, eine Verlängerung seines auslaufenden Vertrags ist daher eine ebenso realistische Option.
Diese Chefrolle soll es auch in Deutschland werden. Viele Fans sehen in ihm einen Heilsbringer, was er selbst gar nicht mag. Zumal es noch nicht allzu lange her ist, dass viele Menschen im Land mit dem Fußballer fremdelten, als er vor der WM 2018 gemeinsam mit Mesut Özil und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan auf einem Foto auftauchte. Der (zu) lange schweigende Özil wurde zur nationalen Angelegenheit in Deutschland (mit ganz viel Dreck von allen Seiten) und brach Wochen später schließlich wütend mit dem DFB. Gündoğan erklärte sich nach der ersten Aufregung, es wurde hernach ruhiger um ihn. Politisch, nicht sportlich.
Nun ist er auf seinem Höhepunkt, unverzichtbar. Und will nach Jahren des Frusts beim DFB-Team ein wichtiger Bestandteil einer neuen Erfolgsgeschichte werden, am liebsten bei der Heim-EM im nächsten Jahr: "Ich sehe keine Nation, die den anderen haushoch überlegen wäre. Wir glauben an unsere Stärken, die schlummern in uns", sagte Gündoğan. "Das können Momente für die Ewigkeit werden." Er weiß aber auch, dass "wir jetzt mit Erfolgserlebnissen loslegen müssen, um für Aufbruchstimmung zu sorgen".
Quelle: ntv.de, mit sid