
Victor Boniface ist das neue Sturm-Phänomen der Bundesliga.
(Foto: AP)
Der FC Bayern und Bayer Leverkusen liefern sich einen wilden Schlagabtausch im Topspiel der Fußball-Bundesliga. Vor allem die ersten 45 Minuten sind atemberaubend. Mal dominieren die Gastgeber, dann beeindrucken die Gäste. Für Aufregung sorgt der Schiri.
In der 98. Minute dieses mitreißenden Bundesliga-Spitzenspiels zwischen dem FC Bayern und Bayer Leverkusen bog Dayot Upamecano ab, rannte jubelnd Richtung Bank der Münchner, die Stadionregie spielte die bekannte Tormusik an und eine kleine Lichtershow erheiterte die Allianz Arena. Aber nur für einen winzigen Augenblick. Der Linienrichter hatte eilig die Fahne gehoben. Abseits. Nicht noch eine wilde Wende in diesem Duell zwischen dem Tabellenführer aus dem Rheinland und seinem ersten Verfolger aus dem Freistaat. Bei seinem Schuss aus kurzer Distanz stand der französische Innenverteidiger im Abseits. Eine völlig unstrittige Entscheidung. Das war am Freitagabend nicht immer der Fall. Beim 2:2 (1:1) hatten die Münchner Redebedarf. Mehr dazu später.
Upamecano hätte der Held werden können, in einem Spiel, in dem er wie kein anderer Spieler für das stand, was Münchens Trainer Thomas Tuchel später so befand: "Mal haben wir Kontrolle gehabt, mal keine, mal waren wir kompakt, mal nicht." Bereits nach sieben Minuten hatten die angestachelten Fußballer des Rekordmeisters die Führung erzielt. Nach einer Ecke stand Harry Kane plötzlich blank am langen Pfosten und drückte den Ball recht mühelos per Kopf über die Linie. Die Brust der Münchner wurde breiter, die nervösen Leverkusener taumelten. Es schien wie so oft zu werden: Ein aufmüpfiger Herausforderer kommt in die Allianz Arena, bekommt dann Angst vor der eigenen Courage und wird von den Titelhamstern aus München zermalmt. Nach elf Minuten hämmerte Leroy Sané einen Ball deutlich über das Tor, da wäre mehr drin gewesen.
Mit dem ersten Bayer-Konter kippt die Partie
Tore: 1:0 Kane (7.), 1:1 Grimaldo (24.), 2:1 Goretzka (86.), 2:2 Palacios (90.+4, Foulelfmeter nach Videobeweis)
München: Ulreich – Laimer, Upamecano (85. de Ligt), Kim, Davies – Goretzka, Kimmich (61. Mazraoui) – Sane, Müller (61. Musiala), Gnabry (69. Tel) – Kane (85. Choupo-Moting); Trainer: Tuchel.
Leverkusen: Hradecky – Kossounou, Tah, Tapsoba (90. Hlozek) – Frimpong (82. Adli), Andrich (46. Palacios), Xhaka, Grimaldo – Hofmann (90.+6 Hincapie), Wirtz (90.+6 Amiri) – Boniface; Trainer: Alonso.
Schiedsrichter: Daniel Schlager (Hügelsheim)
Zuschauer: 75.000 (ausverkauft)
Gelbe Karten: - Hofmann, Wirtz, Tapsoba
Womöglich sogar die Vorentscheidung, wie Tuchel später urteilte: "Es waren gute erste 20 Minuten, ich weiß nicht, ob wir da auf dem Platz gespürt haben, dass wir eigentlich schon den Sack zumachen können." Doch kaum war die 20. Minute beendet, kippten die Verhältnisse erstmals auf dem Rasen. Und so richtig verstand niemand, warum. Bayern hatte alles im Griff. Weil vor allem Upamecano das neue Sturm-Phänomen der Bundesliga, den Nigerianer Victor Boniface - der zur Saison für gut 20 Millionen Euro von Royale Union Saint Gilloise zur Werkself gewechselt war -, abmeldete. Auf beeindruckende Weise gewann der Franzose das Duell der bulligen Hünen. Doch dann konterte Bayer zum ersten Mal. Noch geriert das Zuspiel von DFB-Hoffnungsträger Florian Wirtz auf Boniface zu lang und der starke Rechtsverteidiger Konrad Laimer ging noch rechtzeitig dazwischen. Und doch veränderte dieser erste Versuch alles. Coach Xabi Alonso bewies abermals seine Klasse, indem er seine Mannschaft mit ein paar wenigen Kniffen stabilisierte. Das Team überzeugte fortan mit klarem Plan, mit schnellem und phasenweise beeindruckendem Kurzpassspiel.
Bayer wurde mutig, ein Ball von Jonas Hofmann rauschte durch den Strafraum, alle verpassten (23.). Eine Minute später knallte Álex Grimaldo einen Freistoß spektakulär in den Winkel. Was für ein Tor! Müller hatte den Spanier zuvor gefoult. Was Müller für eine klare Fehlentscheidung hielt und Tuchel hernach wegen Meckerns die Gelbe Karte einbrachte. Grimaldo interessiert das nicht die Bohne, er nahm Maß und traf. Plötzlich wankten die Bayern. Wirtz und Boniface spielten die Münchner phasenweise schwindelig, auch Upamecano wusste immer häufiger nicht mehr, was geschah. Der Stürmer verzog einmal aussichtsreich, einmal traf er, stand aber im Abseits.
Dann wieder die Bayern. Und wieder verstand niemand, warum das Geschehen mit Wucht kippte. Müller und Serge Gnabry vergeben eine Doppelchance, weil Torwart Lukáš Hrádecký einen überragenden Abend erwischte und Jonathan Tah noch rechtzeitig das Bein ausfuhr (35.). Hernach grüßt wieder Boniface, er narrt Upamecano und zwei weitere Bayern-Verteidiger, er tankt sich mit eleganten Bewegungen durch, doch sein Schuss wird von Min-Jae Kim gerade noch abgefälscht (41.). Atempause? Nein. Hrádecký pariert gegen den starken Sané (43.) und den sehr auffälligen Goretzka (44.). In der Nachspielzeit köpft der etwas überraschte Gnabry knapp vorbei.
Tuchel erklärt Kimmichs Auswechslung
Das Tempo der ersten 45 Minuten ist für beide Mannschaften nach der Pause nicht zu halten. Doch wenn es knallt, dann so richtig. Boniface sieht, dass Sven Ulreich zu weit vor seinem Kasten steht und knallt von der Mittellinie drauf, der Ball senkt sich aufs Tordach (52.). In der 57. Minute scheitert Kane an der Fußspitze des überragend reagierenden Bayer-Titans. Wann der Engländer zuletzt so ein Dingen liegengelassen hat, er selbst weiß es nicht. Vier Minuten später müssen Müller und Joshua Kimmich vom Feld. Dabei kommt es zu einer kuriosen Szene. Müller übergibt seinem Kollegen die Kapitänsbinde, ehe er das Zeichen zur Auswechslung bekommt. Sie wandert weiter an den Arm von Goretzka. Kimmich wirkt nicht glücklich über den Moment. Tuchel begründet seine Entscheidung später so: "Die medizinische Maßgabe war ganz klar 60 Minuten - daran haben wir uns gehalten. Natürlich, der Josh will immer drauf bleiben. Aber 60 Minuten waren das Maximum vom Arzt." In den Katakomben später wirkte der Mittelfeldfeldchef dennoch verschnupft. "Fragt den Trainer!", entgegnete er den Journalisten, die seine Sicht auf die Dinge hören wollten.
Kurze Atempause, niemand will den entscheidenden Fehler machen. Nach 78 Minuten das nächste Highlight. Wieder sind es Boniface und Wirtz, die Bayern das Leben schwer machen, der deutsche Nationalspieler trifft aber nur den Pfosten. Dann noch zweimal der Nigerianer, gegen den Upamecano in dieser Phase wieder keinen Zugriff hat. Ulreich ist einmal da, das andere Mal fliegt der Ball hoch am Tor vorbei. Bayer drückt und drängt, Bayern aber macht das Tor. Der eingewechselte Mathys Tel setzt auf der linken Außenbahn zu einem feinen Solo an, passt perfekt auf Goretzka, der im Strafraum unbedrängt einschieben kann. Die Entscheidung? Die wild aufs Feld stürmenden Bayern-Stars fallen über den Kapitän her, vor allem Kimmich. Dann wieder Boniface, drüber.
Und als endgültig alles entschieden scheint, als die Nachspielzeit fast vorbei ist, fällt Hofmann im Strafraum. Er war von Alphonso Davies berührt worden. Daniel Schlager pfeift erst nicht, wird dann vom VAR informiert, dass da doch etwas war. Er schaut sich die Bilder an und entscheidet ganz schnell auf Strafstoß. Exequiel Palacios tritt an und trifft, Ulreich ist dran, der Elfer aber sehr gut geschossen, 2:2. Und reichlich Empörung. Co-Trainer Zsolt Löw sieht nach Schlusspfiff Rot. Müller und Tuchel empören sich bei DAZN. "Wir spielen immer noch einen Kontaktsport", sagte Müller. "Klar, kannste pfeifen, du findest schon Argumente dafür, aber er ist sehr soft." Tuchel schimpfte: "Es ist viel zu wenig, als dass der VAR eingreift."
"So gut waren wir hier noch nie"
Dabei war eine ganz andere Frage nach den gespielten 90 plus X Minuten viel spannender: Hat der FC Bayern mit Bayer Leverkusen einen ernstzunehmenden Titelkonkurrenten? "Ich glaube ja", antwortete Bayers Mittelfeldchef Granit Xhaka bei DAZN selbstbewusst. Aber es sei "noch sehr früh, groß zu reden. Wir müssen mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben." Allerdings befand er auch, dass seine Mannschaft "Respekt" verdient hätte, dass sie gleich zweimal zurückgekommen sei. Tuchel wollte über die Frage der Fragen indes nicht philosophieren. "Da habe ich keine schlaue Antwort drauf. Es ist ein Marathonlauf". Vielmehr beschäftige ihn wieder einmal, warum seine Fußballer so wankelmütig sind. "Wir müssen insgesamt stabiler und griffiger werden. Da haben wir Luft nach oben. Es ist ein bisschen ein Wellental. Sein Team tue sich "schwer, die Kompaktheit aufrechtzuerhalten".
Dieser Abend in München erinnerte in seiner Intensität und mutigen Überzeugung an einen vor zwölf Jahren. Damals hatte Borussia Dortmund in der Arena mit 3:1 gewonnen. Mit einem starken Taktgeber Nuri Sahin und einem Stürmer Lucas Barrios hatten sich die jungen Schwarzgelben in jener Saison aufgemacht, die Bundesliga zu erobern. Es war eine ganz andere Art des Fußballs, volle Möhre, Heavy Metal. Aber womöglich hat die Liga an diesem Freitag die Geburt eines neuen, eines großen Herausforderers erlebt. Man habe "den härtesten Härtetest bestanden", befand Hradecky: "So gut waren wir hier noch nie. Die Bayern hatten ein bisschen Schiss vor uns." Doch Bayer-Trainer Xabi Alonso warnte vor zu viel Euphorie: "Der Mai ist weit weg. Daran zu denken, wäre ein Fehler. Wichtig ist nur das nächste Spiel."
Quelle: ntv.de