
Borussia Dortmund bringt Real Madrid an den Rand der Niederlage, doch am Ende dieses Champions-League-Finals ist alles wie immer: Toni Kroos jubelt, Marco Reus muss geschlagen vom Platz schleichen. In den 90 Minuten im Londoner Wembleystadion verdichten sich zwei große Karrieren auf wenige Momente.
Sie hatten es sich so schön ausgemalt bei Borussia Dortmund. Die Einwechslung von Marco Reus in der 72. Minute als Ausgangspunkt einer dieser Geschichten, die mit all seiner kollektiven Kraft vielleicht wirklich nur der Fußball schreiben kann. Mats Hummels berichtete im ZDF davon, wie es im besten Fall hätte laufen sollen: dass Reus in seinem letzten Spiel für den BVB auf den Platz gekommen, ihm irgendwie der Ball im richtigen Moment so vor die Füße gefallen wäre, dass er gewissermaßen zwangsläufig und folgerichtig das Siegtor in diesem Champions-League-Finale erzielt hätte. Doch der Konjunktiv verrät, dass es gegen Real Madrid anders kam.
Nur zwei Minuten, nachdem Reus den Rasen im Wembleystadion betreten hatte, fiel zwar tatsächlich der erste Treffer dieses Samstagabends - jedoch auf der anderen Seite. Für Real Madrid. Vorbereitet von einem, dessen Karriere kaum unterschiedlicher hätte verlaufen können: Toni Kroos. Denn während Reus durch diese 0:2-Niederlage das Label des Auf-ewig-Unvollendeten ein weiteres Mal bitterlich vor Augen geführt bekam, ist Kroos mit dem Schlusspfiff zum Rekordsieger der Champions League aufgestiegen. Es ist der sechste Titel für den 34-Jährigen, der nach zehn Jahren bei den Königlichen in diesem Sommer als Ikone abtritt.
Die 90 Minuten von London waren für jene, die sich stets auch um das große Bild bemühen, die perfekte Zusammenfassung der so gegensätzlichen Karrieren zweier deutscher Fußballer, denen jeweils schon früh die Welt offenzustehen schien. Hier Reus, der zwar zweimal DFB-Pokalsieger war, Meisterschale und Europapokal jedoch nie in die Luft recken durfte und sich im letzten Test vor der WM 2014 verletzte. Dort Kroos, der siebenfache Meister und sechsfache Champions-League-Sieger, dessen Wechsel vom FC Bayern zu Real Madrid damals wenige Tage nach dem Sieg im WM-Finale gegen Argentinien offiziell wurde - und der nun mit dem 33. Titel seine Vereinskarriere auf dem Höhepunkt beendet.
Jeder will Kroos in den Arm nehmen
"Gott sei Dank hat es geklappt", sagte Kroos anschließend im ZDF, der dem BVB attestierte, ein schwarzgelber Führungstreffer in den ersten 45 Minuten sei "mehr als möglich gewesen", denn "die erste Halbzeit war wirklich nicht gut von uns." Aber Real Madrid ist eben Real Madrid. In großen Fußballspielen bedeutet das, dass sie irgendwann zuschlagen, egal wie gut oder schlecht es bis dahin läuft. 1981 verloren die Königlichen letztmals ein Europapokalfinale, da waren Reus und Kroos noch längst nicht geboren, selbst Dortmunds Trainer Edin Terzić war noch nicht auf der Welt. Seitdem hat Real neun Champions-League-Endspiele bestritten und sie alle gewonnen. Gegen den FC Valencia, gegen Bayer Leverkusen, sogar jeweils gleich zweimal gegen Juventus Turin, Atlético Madrid und den FC Liverpool.
Tore: 0:1 Carvajal (74.), 0:2 Vinicius Junior (83.)
Dortmund: Kobel - Ryerson, Hummels, Schlotterbeck, Maatsen - Adeyemi (72. Reus), Sabitzer, Brandt (81. Haller), Can (80. Malen), Sancho (87. Bynoe-Gittens) - Füllkrug. - Trainer: Terzić
Madrid: Courtois - Carvajal, Nacho, Rüdiger, Mendy - Valverde, Camavinga, Bellingham (85. Joselu) - Kroos (86. Modric) - Rodrygo (90. Militao), Vinicius Junior (90+4. Vazquez). - Trainer: Ancelotti
Schiedsrichter: Slavko Vincic (Slowenien)
Gelbe Karten: Schlotterbeck, Sabitzer, Hummels - Vinicius Junior
Zuschauer: 86.212 (ausverkauft)
Und nun eben gegen Borussia Dortmund. Weil der BVB es nicht vermochte, seine Überlegenheit im Spielstand abzubilden. Weil Torhüter Thibaut Courtois wieder einmal in einem Finale alles hielt, was zu halten war. Und weil Toni Kroos in jener 74. Minute den Eckball so perfekt vors Tor brachte, dass Dani Carvajal per Kopf zum 1:0 vollenden konnte. Der 1,73-Meter-Mann hatte seinen Gegenspieler Ian Maatsen abgeschüttelt und auch Niclas Füllkrug und Mats Hummels konnten nicht mehr verhindern, dass damit das scheinbar Unvermeidliche seinen Lauf nahm: dass Real wieder einmal ein großes Finale gewinnen würde, während die Dortmunder nach 2002 (UEFA-Pokal gegen Feyenoord Rotterdam) und 2013 (CL gegen den FC Bayern) zum dritten Mal in diesem Jahrtausend ein solches Endspiel verlieren würden.
"Der Titel bedeutet mir unfassbar viel", sagte Kroos hernach, der bei seiner Auswechslung von den Fans gefeiert und von Trainer Carlo Ancelotti innig umarmt wurde: "Natürlich wollte ich mich mit diesem Champions-League-Sieg verabschieden." Die großen Abschiedsszenen hatte es bereits am vorigen Wochenende im heimischen Santiago Bernabéu gegeben, was Kroos "sehr, sehr speziell" gefunden und deshalb einiges an Arbeit investiert hatte, "um den Fokus auf dieses Spiel [gegen den BVB] zu lenken". Die anschließenden "Toni, Toni"-Rufe zeigten, wie gut ihm das gelungen war. Rund um die Real-Bank wollte jeder den Mittelfeldstrategen noch einmal herzen, beim Abpfiff zeigten die Kameras Kroos und den Langzeitverletzten David Alaba im innigen, freudigen Austausch.
Nach der Einwechslung von Reus kippt das Finale
"Er hätte nicht besser aufhören können. Er geht auf dem höchsten Niveau", fasste Ancelotti zusammen, was Kroos nicht nur an diesem Abend im Wembley, sondern in seinen zehn Saisons für die Königlichen geleistet hat. "Er ist eine Legende in diesem Verein. Alle Real-Madrid-Fans sind dankbar für das, was er für diesen Verein getan hat." Das 465. Spiel im ikonischen weißen Trikot war sein letztes, in eben diesem hat er fast so viele Titel gewonnen (23) wie Tore erzielt (28). Die legendären Bayern der 1970er-Jahre um Franz Beckenbauer, Gerd Müller und Sepp Maier hielten mit ihren drei Erfolgen im Landesmeister-Pokal lange den inoffiziellen deutschen Rekord in dieser Hinsicht. Kroos hat den höchsten europäischen Vereinswettbewerb jetzt doppelt so oft gewonnen wie jeder andere deutsche Fußballer.
Während der Nummer 8 der Madrilenen das Lächeln kaum noch aus dem Gesicht zu weichen schien, wählte Dortmunds Nummer 11 einen stillen Abschied. Marco Reus vermied es, vor die Mikrofone zu treten, wollte vielleicht mit seiner Enttäuschung und all den anderen Gefühlen alleine sein. Die Geschichte, die Hummels & Co. entworfen hatten, war nicht aufgegangen, wie Sportdirektor Sebastian Kehl resümierte: "Es war leider sein letztes Spiel heute für Dortmund. Wir hätten uns nichts Besseres wünschen können, als mit ihm den Pokal hochzuhalten, er hätte es verdient gehabt." Doch dieses Finale kippte kurz nach Reus' Einwechslung und schrieb dessen tragische Geschichte schmerzhafter Rückschläge in großen Momenten fort.
"Es hat lange gedauert, bis wir die bessere Mannschaft waren", stellte auch Kroos anschließend fest, der damit zugleich auch eine der größten Qualitäten von Real Madrid beschrieb. Selten überrennen die Königlichen nämlich ihre Gegner, vielmehr treiben sie diese lange vor sich her, um dann in den entscheidenden Momenten zuzuschlagen. Ein erstes Mal, als Kroos den Eckball optimal platzierte und ein zweites Mal, als ein katastrophaler Fehlpass Jude Bellingham eine 2-gegen-1-Situation rund 25 Meter vor dem BVB-Tor eröffnete. Der 20-jährige Ex-Dortmunder spielte den Ball an Hummels vorbei auf Vinicius Junior - und riss die Arme schon freudig in die Luft, bevor der Brasilianer zum 2:0 (83.) in die lange Ecke vollendet hatte.
Ein Titel fehlt Kroos ja noch ...
Kroos wurde kurz darauf unter großem Beifall ausgewechselt, reckte die Jubelfäuste und erhielt seinen großen Abgang. Die Borussen mühten sich noch einmal, ohne jedoch Real ernsthaft in Bedrängnis bringen zu können, Füllkrug stand beim vermeintlichen Anschlusstreffer in der 87. Minute klar im Abseits. Und so wählte Reus als einer der Geschlagenen den stillen Abgang. Wo er seine Karriere fortsetzt, ist noch offen, es scheint ihn nach Stationen in Dortmund, Mönchengladbach und Ahlen erstmals raus aus Nordrhein-Westfalen zu ziehen, raus aus Deutschland sogar.
Kroos indes kehrt in den nächsten Tagen nach Deutschland zurück, um nach dem perfekten Abschluss bei Real Madrid auch sein zweites großes Ziel in dieser Saison zu erreichen. Bei der Nationalmannschaft warten sie gespannt auf den 34-Jährigen, dessen überraschendes Comeback im März - in Verbindung mit Siegen gegen Frankreich und die Niederlande - so manche schwarz-rot-goldene Titelhoffnung für die Heim-EM beflügelt hat.
Der Henri-Delaunay-Pokal, die Trophäe für den Europameister, ist übrigens einer der ganz wenigen, die Kroos noch nicht gewonnen hat. Womöglich beginnt also in der kommenden Woche in Herzogenaurach ja noch eine dieser großen Geschichten, die so vielleicht nur der Fußball schreiben kann.
Quelle: ntv.de