Wie ein Weißer Hai im Blutrausch Real Madrid stellt den Räuber Borussia Dortmund
02.06.2024, 06:52 Uhr
Was für ein Abschied: Toni Kroos verabschiedet sich mit seinem sechsten Champions-League-Sieg von Real Madrid.
(Foto: dpa)
Borussia Dortmund tut alles, um Real Madrid den Henkelpott streitig zu machen. Mindestens 60 Minuten sind die Schwarzgelben im Champions-League-Finale klar besser. Doch dann wachen die Königlichen auf und machen das, was Real eben in großen Spielen so macht.
Real Madrid hat die gesamte Bundesliga-Konkurrenz verputzt: Auf dem Speiseplan standen Union Berlin (in der Vorrunde), RB Leipzig (im Achtelfinale), der FC Bayern (im Halbfinale) und schließlich Borussia Dortmund. Doch das finale Gala-Dinner im Wembley-Stadion schmeckte den Königlichen lange nicht. Erst nach rund 60 Minuten hatte Real sich das edle Schnütchen abgewischt und plötzlich doch noch richtig Appetit bekommen. Mit 2:0 (0:0) gewann Madrid das lange überraschend anders verlaufene Duell. Toni Kroos verabschiedet sich von einem Verein mit dem sechsten Triumph in der Champions League. Sieben Endspiele hat der 34-Jährige bestritten. Ein einziges davon nur verloren. Sein erstes. Mit dem FC Bayern 2012 im "Finale dahoam" gegen den FC Chelsea.
Eine zweite Niederlage, ausgerechnet im letzten Spiel als Vereinsfußballer, schien lange möglich. Wahrscheinlich sogar. Wobei - vermutlich wohl doch nicht. Denn Real Madrid ist Real Madrid. Wie oft hat man diesen Satz in den vergangenen Wochen, Monaten, Jahren gehört? Diese Mannschaft, dieser Verein hat eine mystische Kraft, allen Widerständen zu trotzen. Diese Mannschaft, dieser Verein kann sich aus dem Nichts erheben. Fast teilnahmslos kann Real in den Weltmeeren des Fußballs herumschwimmen, um urplötzlich zu jener gnadenlosen Bestie zu werden, vor der sich alle fürchten. Wie ein Weißer Hai im Blutrausch sind sie dann da.
In Wembley, an jenem Ort, an den Finalgegner BVB nach elf Jahren völlig überraschend zurückgekehrt war, sah es lange nicht danach aus, als würde dieser große Hai tatsächlich die Zähne fletschen können. Doch eigentlich musste allen Beteiligten klar gewesen sein, was passiert. Besonders nach den ersten 45 Minuten, in denen die Borussia viel besser gewesen war. In denen sie Real phasenweise an die Wand gespielt hatte. In denen lediglich das Tor fehlte. Was war das für eine erste Halbzeit?! Entgegen aller Unkenrufe, dass die Madrilenen dieses Duell beherrschen und die Dortmunder chancenlos hinter sich lassen würden, tanzte Real am Abgrund. Mindestens ein Bein hing freischwebend über der Tiefe. Aber wenn jemand im infernalen Tanz die Balance behält, dann ist es eben Real Madrid. In Spanien sagen sie: Real stirbt nie. Wie recht sie damit haben. "Gott schütze den König! Die Champions League ist der Wettbewerb, den sich jeder wünscht, den aber Real Madrid dominiert. Das weiße Team spielt ihn nicht, es gewinnt ihn", schrieb die "Marca".
Adeyemi lässt die Riesenchance liegen
Mats Hummels sezierte die Abwehr mit einem Sensationspass auf Karim Adeyemi, der war frei durch, legte sich den Ball aber zu weit nach außen, um ein Tor zu erzielen (21.). Zuvor hatte bereits Julian Brandt einmal aus guter Position verzogen (14.). Eine Reaktion von Real? Nein. Ian Maatsen steckte auf Niclas Füllkrug durch, sein Schuss klatscht an den Innenpfosten (23.). Eine Reaktion von Real? Nein. Adeyemi schoss, Thibaut Courtois parierte, Füllkrug konnte den abgewehrten Ball aus schwieriger Lage nicht verwerten (28.). Eine Reaktion von Real? Nein. Dann noch einmal Mittelfeldspieler Julian Brandt aus der Distanz (41.), Courtois tauchte ab. Der BVB hatte die Chancen, Real hatte fast nichts. Einzig Vinicius Junior sorgte ab und an mal mit seinen spektakulären Dribblings für ein wenig Puls. Etwa bei Hummels, der den Brasilianer mit einer Heldengrätsche stellte, damit schlimme Dinge verhinderte und sich hernach heftig pushte.
Die Dortmunder waren tatsächlich zurück nach Wembley gekommen, um jetzt das große Ding zu drehen. Den fußballerischen Juwelenraub. Die Fans hatten ein gigantisches Banner über ihre Kurve gezogen. Eine Krone war dort zu sehen, eine, deren Schmuck wie die legendären Kronjuwelen aus dem Tower of London aussahen. Darüber stand geschrieben: "We're back in town to steal the crown". Wir sind zurück in der Stadt, um die Krone zu stehlen. Gegen den ultimativen "Endgegner", wie Coach Edin Terzić, der elegante Anleiter der schwarzgelben Panzerknacker-Bande, vor dem Spiel ehrfürchtig verkündet hatte. Und sein Plan ging bis zur Pause bestens auf. Ganz nah an den gläsernen Kasten der Waterloo Barracks hatte sich der BVB herangepirscht. Carlo Ancelotti, der stoische Maestro, suchte Lösungen. Fortwährend war er in Kontakt mit seinem Sohn Davide, dem Co-Trainer. Sie fanden einen Plan, den Dieb zu stellen. Der Heldenfußball kehrte spät zurück.
Den finalen Griff zum Coup tat der BVB nicht mehr. Weil Real Madrid den Alarm doch noch gehört hatte. In der zweiten Halbzeit wachte die Mannschaft von Carlo Ancelotti auf. Ab der 60. Minute war Real plötzlich da und die Dortmunder wurden nach der grandiosen ersten Stunde, in der sie Real aus dem Spiel genommen hatten, immer müder. Diese Reise hatte Kraft gekostet. Und ausgerechnet auf der Zielgeraden im finalen Kraftakt stürzte der Akku in den roten Bereich. In der 49. Minute hatte der weitgehend abgemeldte Kroos mal getestet, wie gut und wach BVB-Keeper Gregor Kobel ist. Der Schweizer parierte den Freistoß des Deutschen stark.
"Aber sie haben uns nicht gekillt"
Tore: 0:1 Carvajal (74.), 0:2 Vinicius Junior (83.)
Dortmund: Kobel - Ryerson, Hummels, Schlotterbeck, Maatsen - Adeyemi (72. Reus), Sabitzer, Brandt (81. Haller), Can (80. Malen), Sancho (87. Bynoe-Gittens) - Füllkrug. - Trainer: Terzić
Madrid: Courtois - Carvajal, Nacho, Rüdiger, Mendy - Valverde, Camavinga, Bellingham (85. Joselu) - Kroos (86. Modric) - Rodrygo (90. Militao), Vinicius Junior (90+4. Vazquez). - Trainer: Ancelotti
Schiedsrichter: Slavko Vincic (Slowenien)
Gelbe Karten: Schlotterbeck, Sabitzer, Hummels - Vinicius Junior
Zuschauer: 86.212 (ausverkauft)
In der 69. Minute war es abermals knapp. Jude Bellingham, der bei der Borussia im Eiltempo zum Weltstar gereift war und den Klub im vergangenen Sommer verlassen hatte, verpasste eine starke Hereingabe von Vinicus Junior. Der Ball fiel knapp neben dem Pfosten ins Aus. "Wir müssen ehrlich sein, Dortmund war das bessere Team in der ersten Halbzeit, sie hätten 2:0 oder 3:0 führen können. Aber sie haben uns nicht gekillt, so konnten wir zurückkommen", sagte der junge Engländer, der in seinem ersten CL-Finale zwischen Mut und Verzweiflung changierte. "Ich liebe beide Klubs, ich habe großen Respekt für den BVB. Ich werde immer dankbar sein, was der Klub mir gegeben hat. Es ist schade, dass es jetzt dieses direkte Duell geben musste, aber so ist der Fußball eben manchmal."
Die Gewichte hatten sich mittlerweile verschoben. "Wir haben es verpasst, ein Tor zu schießen und bekommen dann den Gegentreffer", ärgerte sich Hummels. "So machen sie es immer, das ist auch irgendwie eine Qualität." Tatsächlich hat Real ja diese unfassbare Final-Qualität. Letztmals ging 1981 ein europäisches Endspiel verloren. Damals unterlag Madrid mit Vicente del Bosque, dem späteren Weltmeister, Europameister und Champions-League-Sieger, und der deutschen Legende Uli Stielike 0:1 gegen den FC Liverpool. Der linke Verteidiger Alan Kennedy hatte nach 83 Minuten getroffen.
Ganz so lange ließ sich Real nun in Wembley nicht Zeit, um die Dinge auf seine Seite zu ziehen. Jadon Sancho vertändelte den Ball fatal, Ecke für Madrid. Kroos führte perfekt aus, der kleine Dani Carvajal sprang am kurzen Pfosten Maatsen davon, auch Füllkrug kam zu spät, der perfekte Kopfball schlug schließlich ein (74.). Real drehte auf, Bellingham legte das Spielgerät hauchzart am Aluminium vorbei. Eduardo Camavinga und Nacho versuchten sich an der endgültigen Entscheidung, verpassten aber. Dann aber kam der eiskalte Vinicus Junior, nutzte einen Katastrophen-Pass von Maatsen in letzter Instanz aus und stach gnadenlos ins Herz des BVB, 2:0 (83.).
Ancelotti öffnet Kroos die Tür zum Rücktritt vom Rücktritt
Zwei Minuten später endete eine große Ära: Kroos ging, die Momente auf dem Weg zur Bank sind seine letzten als Vereinsfußballer. In wenigen Tagen reist er zur Nationalmannschaft, wo er seine Karriere beenden wird. Kroos lächelte, wurde geherzt. Dieses Mal keine Tränen. Nicht wie vergangene Woche, beim Abschied aus Bernabeu. Als ihm das Stadion zu Füßen lag und ihn seine Kinder zum Weinen brachten. Der starke Toni Kroos war plötzlich samtweich. Nun hing ihm David Alaba um den Hals. Sie scherzten. Großes war gelungen.
"Natürlich wollte ich mich mit diesem Champions-League-Sieg verabschieden. Der Titel bedeutet mir unfassbar viel", sagte er im ZDF, im Interview mit Nils Kaben. Ja, da war doch was, das Eskalationsinterview 2022, der "Du hattest 90 Minuten Zeit, dir Fragen zu überlegen ..."-Moment. Aber dieses Mal blieb alles positiv. "Das Entscheidende war, dass wir in der ersten Halbzeit kein Gegentor bekommen haben. Das wäre mehr als möglich gewesen. Es hat lange gedauert, bis wir die bessere Mannschaft waren."
Und so geht die erfolgreichste Karriere im deutschen Fußball zu Ende. Auch wenn sie das in Madrid noch nicht wahrhaben wollen. Coach Ancelotti hat Kroos die Tür für einen Rücktritt vom Rücktritt weit geöffnet. "Wir hoffen, er ändert seine Meinung, und wenn er das tut, sind wir da." Aber genau das, also den Rücktritt vom Rücktritt, hatte Kroos ja zuletzt ausgeschlossen. "Ne, das steht", sagte er bei DAZN. Eine weitere Rolle rückwärts wie bei seinem Comeback in der deutschen Nationalmannschaft im März werde es nicht geben. "Also, Antonio (Rüdiger) hat es jetzt schon einmal geschafft mit der Nationalmannschaft. Der Bundestrainer ja auch. Das muss reichen", sagte Kroos und ergänzte: "Bei meinen Kindern ist es ein geteiltes Lager. Dementsprechend hat da jetzt der Teil gewonnen, der mich lieber mehr zuhause haben möchte."
Quelle: ntv.de