Fußball

Die Pulverfässer beim FC Bayern Tuchel hält das Streichholz in der Hand

Kritisch: Thomas Tuchel.

Kritisch: Thomas Tuchel.

(Foto: dpa)

Nach der vergangenen, turbulenten Saison soll es beim FC Bayern eigentlich wieder ruhiger, fokussierter zugehen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Der Kader gleicht unmittelbar vor Bundesliga-Start einer Baustelle und Trainer Tuchel stößt wilde Debatten an.

Thomas Tuchel gab sich erst gar keine Mühe, den Eindruck zu erwecken, er wäre mit der Lage beim FC Bayern zufrieden. Kaum war ihm der erste Titel der Saison durch die Hände geflutscht, kaum hatte seine Mannschaft am vergangenen Samstag den Supercup gegen RB Leipzig vereumelt (0:3), rechnete er mit seinem Team wütend ab. Er entschuldigte sich für die Leistung, die er als Nicht-Leistung verstanden wissen wollte, sogar beim neuen, beim spät eingewechselten Superstar, bei Harry Kane. So etwas kommt auch nicht allzu oft vor. Schon gar nicht beim FC Bayern, diesem Titelhamster, der doch immer das eine möchte: weitere Titel erhamstern. Einen hat es in der Tuchel-Ära bisher gegeben: die Meisterschaft. Doch wie es zu jener kommen konnte, das können sie vermutlich bis heute nicht begreifen. Die gigantische Panikattacke des BVB nutzt Jamal Musiala mit seiner Genialität aus.

Der Titel war das denkbar kleinste Happy End einer Saison, die den Rekordmeister in den Wahnsinn getrieben hatte. Und alles hatte angefangen mit Kapitän Manuel Neuer, der seinen Wüsten-Frust auf dünner Schneelage abbauen wollte, stürzte und sich ganz schlimm verletzte. Ein Sinnbild für alles, was in den folgenden Monaten beim FC Bayern passierte und bis heute nachwirkt. Nach dominanter Vorrunde ging nichts mehr zusammen. Der Klub erlebte einen Absturz, wie er ihn lange nicht kannte. Und er begegnete ihm mit purer Verzweiflung. In nicht mal einem halben Jahr kollabierte die Zukunft des Klubs. Erst flog Julian Nagelsmann, zum Zeitpunkt Mitte März sehr überraschend. Dann mussten auch die unsicheren und zunehmend unglücklichen Alphatiere Oliver Kahn und Hasan Salihamidžić aus ihren Ämtern weichen. Tuchel wurde Trainer und mit Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge kehrten die besorgten Klubväter zurück.

Ein letztes Mal Chaos sollte dieser denkwürdige Tag am 27. Mai in Müngersdorf, an dem sich alles wendete - der Titel, die Chefs, die Stimmung - gewesen sein, so hatte sich der Klub das hernach gewünscht. Volle Kraft für den Umbau. Zurück zur Dominanz. Auf in eine neue Ära.

So viel Baustelle war selten

Und jetzt? Baustelle. Wenn an diesem Freitag (ab 20.30 Uhr im Liveticker bei ntv.de) die neue Saison angepfiffen wird, wenn der FC Bayern bei Werder Bremen antritt, dann geht es um ganz viele Dinge. Aber nicht darum, dass die Münchner wieder alles in Grund und Boden spielen. Trotz Kane, dessen Transfersaga ebenso absurd wie teuer war. Kane spielt, ab sofort sogar immer. Zumindest ein Pflock, der beim Rekordmeister fest eingeschlagen ist. Jetzt muss er nur noch gute Flanken bekommen. Die hatten die Flügelstürmer des FC Bayern im Supercup gegen RB Leipzig geliefert, allerdings nur bis Kane ins Spiel kam. Danach nicht mehr. So stand schließlich die Null am falschen Ende. Es ist eines der kleineren, knarzenden Schwungräder, das Tuchel in diesen Wochen wieder ans Laufen bekommen muss. Der Trainer ist sich indes sicher: "Der Harry-Kane-Effekt wird nicht verpuffen."

Ein anderes Schwungrad: die Torwart-Frage. Die Münchner hatten im festen Glauben daran, dass mit Neuer zur neuen Saison alles gut werden würde, auf der Position ordentlich durchgekärchert. Alexander Nübel war an den VfB Stuttgart weitergereicht worden und Yann Sommers Wechselwunsch zu Inter Mailand erhöhrt. Aber weil Neuer noch immer nicht fit ist und das offenbar noch sehr lange so bleiben wird, braucht es einen neuen Mann. Nur mit Sven Ulreich und Tom Ritzy Hülsmann in die Spielzeit zu starten, das ist allen Beteiligten zu heikel. Die Suche läuft, Absagen gab's. Gut zwei Wochen bleiben dem Klub noch, eine Lösung zu finden, dann schließt der Transfermarkt.

Bis dahin muss es Ulreich richten. Und die Transferstrategen des FC Bayern. Sie suchen, so war am Mittwoch zu hören, nun nur noch einen Ersatz für den Ersatz. Daniel Peretz soll es werden. Der 23-Jährige käme von Maccabi Tel Aviv und soll in München einen Vertrag bis mindestens 2027 erhalten. Tuchel hatte sich das eigentlich anders gewünscht, er wollte eine neue Nummer eins, die ohne Murren den Platz zwischen den Pfosten räumt, wenn Neuer wieder spielen kann. Nun die Rolle rückwärts. Bei den Bossen. Und bei Tuchel, der das öffentlich klaglos akzeptiert. Aber es ist nicht der erste Wunsch, den der Trainer nicht erfüllt bekommt. Mit Abräumer Declan Rice hat es nicht geklappt, auch nicht mit Rechtsverteidiger Kyle Walker. Und ebenfalls nicht mit Keeper Kepa.

Überall glühen kleine Feuer

Es ist indes nicht das einzige Problem, mit dem sie konfrontiert sind. Im Kader herrscht Unruhe. Überall glühen kleine Feuer. Benjamin Pavard möchte gehen, Tuchel gefällt das nicht. Leon Goretzka möchte bleiben, ist aber momentan nur noch Ersatzmann. Das gefällt ihm nicht. Erst recht nicht mit Blick auf die anstehende Heim-EM im kommenden Jahr. Im zentralen Mittelfeld hat ihm Konrad Laimer den Rang abgelaufen, an der Seite von Joshua Kimmich, den Tuchel aber eigentlich dort nicht unbedingt haben möchte. Er wünscht sich eine "Holding Six", einen positionstreuen, defensiven Sechser. In Kimmich sieht er das nicht, das hatte er in einer Art Regierungserklärung klar ausgedrückt. Der Nationalspieler widersprach quasi unmittelbar. In München ist er eine Art heilige Kuh. Das aber schert Tuchel offenbar nicht. Er spricht die Dinge so an und aus, wie er sie für richtig hält. Er soll Kimmich in einem Vier-Augen-Gespräch sogar klargemacht haben, dass er das Spiel zu langsam mache. Der Spieler sah das anders. Das Erstaunliche: Warum kommt der Inhalt eines Vier-Augen-Gesprächs in die Öffentlichkeit? Das Schließen der eigenen Reihen wurde als eine Kernaufgabe ausgemacht worden, nachdem ein Maulwurf (oder mehrere?) die Kabine in der vergangenen Saison untergraben hatten, und den Boulevard mit Schmankerl zuwarfen.

Tuchel riskiert mit seinen Ansagen die Hierarchie im Team, die ohnehin schon mächtig ins Wanken geraten war. In der Orientierungslosigkeit der abgelaufenen Spielzeit, in der auch der neue Trainer nicht für Ordnung und Stabilität sorgen konnte. Ohne Neuer, ohne den verletzten Müller, dessen Rolle künftig völlig unklar ist, und nun auch die Degradierung von Goretzka vom Stammspieler zum "Kapitän der Ersatzbank", wie es in manchen Medien hieß. Oder auch mit Gerangel um Kimmich und dessen Wert für das Team. Zwar bemüht er sich, das Thema unmittelbar vor dem Liga-Auftakt wieder einzufangen, aber wie das so ist: Was einmal losgetreten wurde, ist nur schwer aufzuhalten. Mit Kane hat er immerhin einen Mann bekommen, der nicht nur die Torjäger-Lücken verdichten soll, sondern auch wichtiges Achsen-Element ist. Wie auch Kim Min-jae, der neue Innenverteidiger, der ebenfalls für teuer Geld von der SSC Neapel losgeeist wurde.

Bei Borussia Dortmund hatte es wegen Tuchels schonungsloser Vorgehensweise geknallt. Der Coach hatte keine Angst vor dem Alphatier-Clash, vor einem offenen Dissens. Egal wo. Ob beim BVB, bei Paris St. Germain oder auch beim FC Chelsea. Überall verlor er, flog er, obwohl er sportlich geliefert hatte. Der jeweilige Klub brannte. In München steht noch nichts in Flammen, aber das Zündholz hat der Trainer schon in der Hand. Mit seinen Transferwünschen soll er Berichten zufolge nicht nur die Klubbosse stressen, sondern auch innerhalb der Mannschaft für Misstöne sorgen. Ein kleineres Indiz dafür lieferte die Ansage des wieder mächtigen Hoeneß zuletzt, dass man keinen Sechser bräuchte. Er nannte Laimer als Grund. Womöglich tobt kein Dissens, kein zermürbender Machtkampf, wie ihn der Rekordmeister vor nicht allzu langer Zeit zwischen Ex-Coach Hansi Flick und Salihamidžić erlebt hatte, aber zumindest ein anderes Verständnis davon, wie ein Sechser spielen soll.

Wohin mit Thomas Müller?

Ein weiteres Problem droht: Wohin mit Thomas Müller? Die Vorbereitung verpasste die Klubikone verletzt. In den nächsten Wochen wird es kaum großes Thema, sollte der 33-Jährige nicht von Beginn an spielen. Einen kleinen Vorgeschmack auf die Wucht der Diskussion bekam der Trainer, nachdem er Müller in den Champions-League-Duellen mit Manchester City im Viertelfinale nicht von Anfang an aufgeboten hatte. Der Terminus von "Nicht-typischen-Thomas-Müller-Spielen" war geboren. Tuchel bemühte sich, die Sache schnell kleinzureden. Wie auch die aktuelle Rolle von Goretzka. Und eben auch die Sache mit der "Holding Six" und Kimmich. Aber je fitter der Altmeister Müller wird, desto mehr Diskussionen werden wieder kommen. Tuchel wird es helfen, wenn die Mannschaft erfolgreich spielt. Aber was, wenn nicht? Wie sensibel das Thema Müller ist, das haben unter anderem Niko Kovac und auch Nagelsmann erfahren.

Tuchel sollte in diesem Sommer der starke Mann sein, der Trainer und der Kaderplaner, ehe ab dem 1. September Christoph Freund von RB Salzburg übernimmt. Zu dessen Verpflichtung kommentierte er kurz: "nie mit ihm gesprochen". Ein Zitat, das schwer einzuschätzen war. Nach Euphorie klang es nicht. In der aktuellen Transferphase ist Freund offenbar noch nicht eingebunden. Aber seine Sehnsucht nach Stars aus der Premier League, der (noch) stärksten Liga der Welt, lässt sich bislang nur schwerlich realisieren. Für Kane hatte sich der Rekordmeister ans Limit gestreckt, war sogar "All-In" gegangen. Ein zweiter Deal in dieser Kategorie? Undenkbar.

Aber Tuchel denkt eben anders. Er kommt von Klubs der nahezu unbegrenzten Möglichkeiten, er knallt nun an ökonomische Grenzen. Mit Kane und dem Abwehrspieler Kim (50 Millionen Euro) hat sich der Klub schon wilde Verrenkungen am Markt geleistet - auch wenn er für Sadio Mané (Al-Nassr) und Lucas Hernández (PSG) sehr gute Einnahmen erzielt hat. Und diese ökonomischen Grenzen werden sich weiter zuungunsten für den Rekordmeister verschieben, je mehr sich die hemmungslosen Vereine des saudischen Königreichs und der Premier League mit astronomischen Summen zuschmeißen.

Tuchel brodelt aber auch selbst

Wie sehr dieser Trainer aber auch selbst Pulverfass sein kann, das haben die Münchner am Samstagabend eben erlebt. Nach dem bitter vergeigten Kräftemessen mit Leipzig rechnete Tuchel gnadenlos mit seinen Fußballern ab. Fassungslos war er, verständnislos, ratlos sogar. Diese öffentliche Wut soll die Bosse in ihrer Heftigkeit überrascht haben. Zumal er sich selbst von der Kritik abkoppelt. Und das konnte er in der vergangenen Saison bequem tun. Alles, was nicht passte, wurde ihm nicht zugeschrieben. Es wurde sogar kaum Thema, dass er der Mannschaft keinen Halt geben konnte, keine klare Spielidee. Er sollte die angebrochene Vase nur noch vor dem Platzen retten. "Ich kann das fast nicht aushalten, zu verlieren", begründete Tuchel seine verbale Eskalation nach der Leipzig-Pleite nun. Sein Team ist ihm bisweilen immer noch ein Rätsel. "Wir haben den einen Schlüssel noch nicht gefunden, um das Schloss zu knacken. Aber wir haben noch ein paar am Schlüsselbund", sagte der Trainer.

Jetzt fällt jede Entwicklung unmittelbar auf ihn und sein Trainerteam zurück. Und so wird nun genau auf das Wirken und Handeln von Tuchel geschaut. Sechs Siege, fünf Niederlagen und zwei Remis nach 13 Pflichtspielen sind eine Trainer-Bilanz, die nicht ansatzweise als Bayern-like durchgeht. Mit seiner öffentlichen Kritik, mit seinen immer wieder geäußerten Wünschen baut er vor. Schafft Erklärungen heran. Thomas Tuchel gibt sich erst gar keine Mühe, den Eindruck zu erwecken, er wäre mit der aktuellen Lage beim FC Bayern zufrieden.

Quelle: ntv.de

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