
Michael Zorc war nicht überzeugt von der Lippenleser-Idee.
(Foto: imago images / MIS)
Vor zehn Jahren war eine Entwicklung, die heute aus dem internationalen Fußball gar nicht mehr wegzudenken ist, in der Fußball-Bundesliga noch komplett neu. Ein TV-Sender sorgte damals mit dem Einsatz eines Lippenlesers für größte Aufregung.
"Wenn Spieler die Sorge haben, sich in Drucksituationen ständig kontrollieren zu müssen, gehen dem Fußball zwangsläufig Emotionen und Spontanität verloren." BVB-Kommunikationschef Sascha Fligge sprach vor zehn Jahren das aus, was danach tatsächlich passieren sollte. Noch unter dem Eindruck der Weltmeisterschaft in Brasilien, als der deutsche TV-Zuschauer erstmals über vier Wochen lang live miterleben konnte, wie Stars wie Neymar auf dem Platz ausschließlich hinter vorgehaltener Hand redeten, hatte Sky Anfang November beim deutschen Clásico zwischen dem FC Bayern München und Borussia Dortmund einen Lippenleser eingesetzt. Eine Maßnahme, die damals für viel Aufsehen und Empörung sorgen sollte.
"Ich finde das, ehrlich gesagt, affig", sparte BVB-Manager Michael Zorc nicht mit deutlicher Kritik an dem Einsatz des Mannes, der den Spielern und Trainern während der Partie der beiden Teams auf den Mund schauen sollte. Doch Sky hatte sich damals dafür entschieden, mit den Erfahrungen der zurückliegenden WM im Rücken den Zuschauern auch in Deutschland etwas zu bieten, das in anderen Ländern schon lange zum Erlebnis des Sports dazugehörte.
Das Lippenlesen war aus dem American Football irgendwann über Südamerika auch in den Fußball gerutscht und hatte langsam aber sicher zur Etablierung einer Unsitte geführt, die nun - nach dem Feldversuch im Spitzenspiel - auch dem deutschen Fußball drohte, wie Michael Zorc direkt nach der Partie sagte: "Wir kennen das ja aus südeuropäischen Ländern, in denen Spieler nur noch mit der Hand vor dem Mund reden. Das will doch niemand!"
Mehrwert oder Nonsens?
Und auch der Gegner des BVB, der FC Bayern München, reagierte äußerst verschnupft auf den Einsatz des Lippenlesers. Der Mediendirektor des Rekordmeisters, Markus Hörwick, meinte damals: "Kindereien wie in Italien, Spanien oder England, wo Spieler und Trainer nur noch hinter vorgehaltener Hand miteinander sprechen, sollten wir uns ersparen." Doch obwohl die Spieler direkt nach der Partie einen Aufstand gegen den TV-Sender erwogen und Sky Interviews verweigern wollte, war die Büchse der Pandora nach dieser Begegnung weit geöffnet. Seit diesem Spiel vor zehn Jahren mussten sich die TV-Zuschauer an dieses "affige" Getue gewöhnen. Das lag auch daran, weil der damalige Sportchef von Sky, Burkhard Weber, ankündigte, auch in Zukunft auf den Einsatz von Lippenlesern - aufgrund des "Mehrwerts" - nicht verzichten zu wollen.
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Dabei war genau dieser "Mehrwert" für den Zuschauer durchaus überschaubar, wenn nicht sogar komplett zu vernachlässigen. Einzig die Worte von Bayern-Trainer Pep Guardiola an Franck Ribéry vor seiner Einwechslung ("Mit Feuer auf Subotic") fanden im Nachgang echte Beachtung, weil tatsächlich zwei entscheidende Situationen zwischen dem Franzosen und dem serbischen Nationalspieler zum Bayern-Sieg gegen den BVB führten. Ob allerdings dieser eine Satz wirklich so entscheidend war, um den Einsatz eines Lippenlesers zu rechtfertigen, wurde wenigstens vonseiten der Vereine angezweifelt. Borussias Kommunikationschef Sascha Fligge fand damals jedenfalls weitsichtige Worte, als er sagte: "Langfristig ist das ein klassisches Eigentor."
"Interview doch den Affen"
Übrigens: Schon einmal hatte der BVB in der Geschichte der Bundesliga Probleme mit etwas zu aufdringlichen Journalisten gehabt. Als Ende der 1980er-Jahre der ZDF-Reporter Jörg Dahlmann genau in dem Moment ein Richtmikrofon auf den Stürmer der Borussia, Frank Mill, richtete, als dieser etwas unfein, und vor allem vom Referee nicht geahndet, zum Linienrichter "Du Affe" sagte, zeigte sich der spätere Weltmeister von 1990 anschließend zurecht sauer und pikiert. Wütend rief er in einen Pulk von Journalisten hinein: "Wenn der in Zukunft ein Interview will, sage ich nur 'Interview doch den Affen'!"
Jörg Dahlmann und das ZDF mussten sich hinterher förmlich beim BVB-Stürmer entschuldigen. Anschließend dauerte es tatsächlich bis zum November 2014, bis erneut ein TV-Sender den Spielern und Trainern heimlich auf den Mund schauen sollte. Seit diesem Tag fühlen sich die Profis und Trainer auf dem Platz nicht mehr sicher, wenn sie den Mund aufmachen - und die Unsitte des Sprechens hinter vorgehaltener Hand erfuhr so seinen Einzug in die Bundesliga.
Quelle: ntv.de