
Trainer Friedel Rausch (l.) ist fassungslos.
Der 34. Spieltag der Saison 1998/99 ist in die Geschichte der Fußball-Bundesliga eingegangen. Es sind die letzten 13 Minuten der Spielzeit, die für immer im Gedächtnis aller Fußball-Fans bleiben werden.
"Da kann eigentlich nichts mehr anbrennen", meinte der Nürnberger Trainer Friedel Rausch wenige Tage vor dem 34. Spieltag der Saison 1998/99 - und verhandelte voller Siegesgewissheit bereits mit dem Club über einen neuen Vertrag. In Nürnberg war an diesem Nachmittag des 29. Mai 1999 alles für eine große Nicht-Abstiegsparty vorbereitet. Was sollte auch passieren? Der Club stand auf Platz 12, drei Punkte und fünf Tore vor dem 16. Tabellenplatz. Und spielte auch noch zu Hause gegen den direkten Konkurrenten aus Freiburg.
In Frankfurt bei der Eintracht war die Lage vor dem 34. Spieltag eine ganz andere. Denn die Frankfurter waren die Mannschaft, die auf dem noch auszukämpfenden 16 Rang standen. Borussia Mönchengladbach und der VfL Bochum waren zu diesem Zeitpunkt bereits abgestiegen. Doch obwohl die Eintracht einen Punkt und vier Tore schlechter stand als der Tabellen-Fünfzehnte Hansa Rostock und gegen den Champions-League-Aspiranten 1. FC Kaiserslautern antrat, lief die Vorbereitung auf die Partie in gewohnten Bahnen. Die Spieler lobten sogar explizit ihren Trainer. Libero Olaf Janßen: "Der ist nicht eine Spur nervös. Berger strahlt eine enorme Ruhe aus, und das überträgt sich positiv auf die Mannschaft."
"Mir ginge es besser, wenn das Spiel schon vorbei wäre"
Tatsächlich sah es im Innenleben von Jörg Berger etwas anders aus: "Mir ginge es besser, wenn das Spiel schon vorbei wäre. Aber ich reiße mich zusammen, werde auch nicht laut in der Kabine. Denn verbreite ich Nervosität, werden auch die Spieler nervös. Die haben genug Hektik gehabt." In Rostock war man zu diesem Zeitpunkt zwar optimistisch, da man es selbst "in der Hand" hatte, die Liga zu halten, aber dennoch angespannt. Hansa-Präsident Eckhardt Rehberg gab zu: "Ich werde jetzt bis Samstag jeden Tag Herzklabastern haben."
Und dann kam für alle endlich die Erlösung. Der 34. Spieltag wurde angepfiffen - und ging gleich in die Vollen. Dreizehn Minuten vor dem Abpfiff überschlugen sich dann plötzlich die Ereignisse in einer nie gekannten Art und Weise. Nun sind nur noch wenige Augenblicke zu spielen, als sich aus dem Frankenstadion in Nürnberg ein aufgeräumter Reporter Günther Koch meldet und stakkatoartig redend die legendäre Schlusskonferenz des 34. und alles entscheidenden Spieltags der Bundesligasaison 1998/99 beginnt.
Günther Koch: "Im Moment ist es 17:11 Uhr, ist der Club nach '79, nach '84, nach '94 und nach '99 fast abgestiegen, alles hängt jetzt von Bochum gegen Hansa Rostock ab. Frankfurt ist besser, der Club taumelt, der Club hängt am Abgrund …" Mitten in Kochs emotionale Rede, die geprägt ist von den Gefühlen eines mitleidenden Fans, der die Geschehnisse um sich herum rational einzuordnen versucht, aber angesichts sich ständig verändernder Rahmenbedingungen langsam die Fassung verliert, ruft Manni Breuckmann aus Bochum dem der Verzweiflung nahen Günther Koch eine weitere Hiobsbotschaft zu.
"Und Toooor, Tor für Rostock."
Manfred Breuckmann: "Und Toooor, Tor für Rostock. Majak, der eingewechselte Majak macht ein Kopfballtor und 7.000 Ostseeanrainer, die 7.000 Fans, die mitgereist sind, sie sind aus dem Häuschen. Hansa Rostock führt um 17:12 Uhr mit 3:2. Aus dem Off ertönt riesiger Jubel, kurz gefolgt von einem hysterisch schreienden Günther Koch, der langsam von der Regie lauter eingepegelt wird. Seine "Tor, Tor, Tor"-Rufe erinnern an Herbert Zimmermann 1954 beim Finale im Berner Wankdorfstadion. Manni Breuckmann ist nur noch schwach zu hören: "… und alles kann gut werden für Hansa …" Günther Koch (die Stimme überschlägt sich noch immer): "Tooor in Nürnberg, ich pack das nicht, ich halt das nicht mehr aus, ich will das nicht mehr sehen (die Stimme quieckst mittlerweile), aber sie haben ein Tor gemacht, ich glaube es nicht, aber der Ball ist drin, ich weiß nicht wie. Kopfball von Nikl. Die Leute haben es gehört, dass Frankfurt vorne liegt, dass Rostock vorne liegt, jetzt liegt der Ball im Netz, nur noch 1:2, ich halt das nicht mehr aus, nein, es tut mir leid, 1:2, Nikl per Kopf, Flanke von Kuka, Treffer für die Clubberer, es ist nicht zu fassen."
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Manfred Breuckmann: "Welch ein Abstiegsdrama und die Sache ist ja vielleicht noch gar nicht gelaufen. Es gibt Freistoß für Hansa Rostock, die Mannschaft, die drei Tore geschossen hat, der VfL Bochum nur zwei, Hansa Rostock ist im Augenblick in der Fußball-Bundesliga …" Dann meldet sich plötzlich in die Dramatik hin der Moderator aus dem Studio, Dietmar Schott: "Ganz kurz eine Unterbrechung der Konferenz: Wieder Kinder auf der Autobahn. Achtung Autofahrer, auf der A 45 Hagen Richtung Gießen, Kreuz Hagen und Lüdenscheid Nord, diese Kinder auf der Fahrbahn!"
Zurück zu Manfred Breuckmann: "Jetzt bleiben wir an den drei entscheidenden Spielorten und rufen zunächst einmal wieder Dirk Schmitt in Frankfurt!" Dirk Schmitt: "Wo die Frankfurter Eintracht natürlich nach wie vor Druck macht. Sie weiß, ein Tor könnte wieder den 1. FC Nürnberg in den Abgrund stoßen, überhaupt keine Frage, und sie kommen jetzt wieder mit Christoph Westerthaler in der zentralen Position, nur Sforza hat er vor sich, dann ist es Fjörtoft, der ist im Strafraum, und er trifft. Toor, Toor für die Frankfurter Eintracht, 5:1, herrje, welche Leistung! Und damit ist wieder der 1. FC Nürnberg in der zweiten Liga!"
"Hallo, hier ist Nürnberg, wir melden uns vom Abgrund"
Sekundenlang hört man nur den Nachjubel aus Frankfurt. Eine fast gespenstische Stille - verglichen mit den zurückliegenden, lauten, aufregenden Minuten. Für kurze Zeit machen sich die Zuhörer zu Hause an den Radioempfangsgeräten Sorgen um Günther Koch. Dann, mitten in die Stille hinein, die gefasst wirkende und doch so resigniert klingende Stimme des Reporters aus dem Frankenstadion.
Günther Koch: "Hallo, hier ist Nürnberg, wir melden uns vom Abgrund, Nürnberg 1:2. So wie Bayern wegen des linken Torpfostens im Nou Camp in Barcelona verloren hat, steigt der Club ab, wenn er absteigt, wegen des linken Torpfostens vor der Nordkurve. Nikl drosch den Ball an den Pfosten, der war nicht zu erreichen, Torhüter Golz flog durch die Luft, der Ball klatscht vom Pfosten zurück und ging nicht ins Tor, sondern vor die Füße von Frank Baumann; Frank Baumann bringt dann aus sechs Metern den Ball nicht im Tor unter, und so steht es nach wie vor nur 1:2. Der Club, der schon abgestiegen war, zwischen 17:08 Uhr und 17:10 Uhr, ist im Moment abgestiegen, denn das Spiel hier ist aus!
Ade, liebe Freunde, es ist nicht zu fassen, was der Club seinen Fans, was er seinen Anhängern, und was er seinem treuen Publikum zumutet, die noch gar nicht mal ahnen, was in Frankfurt die Mannschaft von Otto Rehhagel, die mit einem sensationellen Ergebnis am letzten Spieltag aufwartet, alles bietet. Der Club verliert mit 1:2, und er hat wenig Haltung bewiesen, erst in der Schlussminute, in den Schlussminuten hat er gekämpft. Liebe Clubberer, es tut mir leid, das musste nicht sein, das musste nicht sein. Respekt und Anerkennung an die Adresse der anderen Vereine, der Spieler und der Offiziellen, wenn es denn dabei bleibt, und ich rufe noch einmal Manni Breuckmann in Bochum." Manfred Breuckmann: "Und Günther, du tust mir auch leid, erlaube mir dieses persönliche Wort an der Stelle …"
"Ich habe mehr geschwitzt als die Spiele"
In Bochum, wo sich Hansa im letzten Moment noch gerettet hat, sagt Rostocks Präsident Eckhardt Rehberg glücklich: "Ich habe mehr geschwitzt als die Spieler, obwohl alle fantastisch gefightet haben." Und sein Kollege in Frankfurt, Rolf Heller, konnte sein Glück am Ende kaum fassen: "Unglaublich. Ich bin so glücklich, aber auch fix und fertig. Ich weiß gar nicht, wie oft wir heute schon abgestiegen waren?" In Nürnberg hingegen liegen sich die Fans weinend in den Armen. Manni Breuckmann hatte mit seinen letzten Worten die Gemütsverfassung der Club-Anhänger zusammengefasst: "Ein schlimmes Schicksal für den 1. FC Nürnberg."
Und Friedel Rausch, der Mann, der vorher gemeint hatte, dass nichts mehr anbrennen könne? Der ist nur noch fassungslos. Dennoch darf er bis zum Februar 2000 bleiben - dann muss er seinen Stuhl räumen. Der dramatischste Abstiegskampf der Bundesligageschichte mit seinem bitteren Finale für den Club wog am Ende doch zu schwer.
Quelle: ntv.de