Public Shaming mit Climate Trace Gehören Klimasünder an den Umweltpranger?
03.11.2022, 20:43 Uhr
Erst ins Flugzeug und dann an den Klima-Pranger? Nachhaltigkeitsprofessorin Judith Mayer hält das nicht für eine gute Idee.
(Foto: picture alliance / CHROMORANGE)
Public Shaming ist nicht unumstritten, kommt aber häufiger vor, als man denkt: In Slowenien gibt es einen Online-Pranger für Steuersünder, in den USA für Menschen, die wegen Kindesmissbrauchs verurteilt wurden. In Schweden wurde der Begriff des Flug-Shaming geprägt. Sollten Klimasünder generell öffentlich bloßgestellt werden? Das amerikanische Emissionsprojekt Climate Trace sagt ja, Judith Mayer ist zwiegespalten. "Unternehmen rechnen sich ihre Zahlen schön oder kaufen sich einen Baum, um ihre Produkte 'klimaneutral' nennen zu können", erklärt die Professorin für Nachhaltigkeit im "Klima-Labor" von ntv. Bei Einzelpersonen hält sie einen Pranger dagegen anders als bei Steuerhinterziehung für destruktiv: "Will ich sie wirklich dafür angreifen, dass sie in einen Flieger steigen?"
ntv.de: Brauchen wir einen öffentlichen Pranger für Klimasünder, damit wir bei der Bewältigung der Klimakrise schneller vorankommen?

Judith Mayer ist Professorin für Nachhaltigkeit an der Hochschule Neu-Ulm.
(Foto: Hochschule Neu-Ulm)
Judith Mayer: Es stellt sich die Frage, auf welchem Level? Der Steuerhinterzieher ist ein leicht greifbares Individuum. Das Thema ist auch nicht sehr komplex, Klimawandel und Klimakrise dagegen schon. Will ich also beim Individuum ansetzen und eine Einzelperson anklagen, weil sie ins Flugzeug steigt? Oder will ich systemisch ansetzen und Staaten oder Unternehmen an den Pranger stellen?
Für Unternehmen wäre das doch gar keine schlechte Idee. Man hat ja eine grobe Vorstellung davon, welche Klimasünder sind und welche nicht.
Für Unternehmen bestimmt, und teilweise passiert das ja schon, wenn sie verklagt werden, weil ihre Klima-Zielsetzungen nicht ambitioniert genug sind wie im Fall von Shell. Das ist aber ein enorm komplexes und schwer greifbares Thema. Die Verstöße sind nicht sichtbar, die Messbarkeit stellt ein Problem dar.
Die Gefahr ist, dass man Personen oder Unternehmen zu schnell verurteilt?
Ja. Scham ist auch als Gefühl sehr problematisch, ähnlich wie Neid. Es wäre einfacher, wenn man über Schuld oder ein schlechtes Gewissen spricht. Noch besser wäre es, wenn man nicht destruktiv denkt und versucht, jemanden kaputtzumachen, sondern lösungsorientiert: Was können wir tun, um die Klimakrise zu bewältigen? Will ich den Einzelnen wirklich dafür angreifen, dass er in einen Flieger steigt? Eine einzelne Person wird die Probleme nicht lösen können, wir als Gesellschaft aber sehr wohl. Dazu gehört schon, dass wir Unternehmen und auch Staaten zur Rechenschaft ziehen für das, was sie tun oder eben nicht tun.
Aber wenn man jemanden zur Rechenschaft ziehen möchte, muss man doch öffentlich machen, was er, sie oder es verbrochen hat.
Unternehmen berichten ja Zahlen zu ihren Emissionen. Aber man muss sich darauf verlassen, dass sie richtig berichten und man muss wie bei Staaten akzeptieren, dass noch viel geschätzt wird. Jetzt will Climate Trace erstmalig Emissionen mit Satellitendaten und Künstlicher Intelligenz messen am Ort der Entstehung. Da wird vieles zusammengeschustert, um Vergleichbarkeit herstellen und sagen zu können: Woher kommen denn die Emissionen?
Wie verlässlich die Angaben von Climate Trace sind, wird man sehen. Aber der Plan ist schon zu sagen, wer wie viel CO2, Methan oder andere Treibhausgase ausstößt und dann Naming und Shaming zu betreiben, die Verursacher also öffentlich anzuprangern.
Transparenz ist positiv. Beim Thema Naming und Shaming sagt die Wissenschaft aber, dass es nur bei denjenigen funktioniert, die den Klimawandel anerkennen, sich Ziele setzen und mit der Umsetzung beginnen. Wenn ich gar nichts mache, bringt es auch nichts, mich an den Pranger zu stellen, weil ich schlichtweg kein Interesse an Veränderung habe. In den USA sehen wir ja leider wieder Tendenzen weg vom Klimaschutz, weil sich ansonsten die Inflation verschärfen und die wirtschaftliche Lage verschlechtern könnte.
Climate Trace will mit viel Geld aus dem Silicon Valley, Künstlicher Intelligenz, Machine Learning und den Daten von 300 Satelliten weltweit alle menschengemachten Treibhausgasemissionen erfassen und veröffentlichen. "So genau, schnell und zuverlässig wie noch nie - über alle Staaten, Sektoren und Industrien hinweg", verspricht das Nonprofit-Projekt auf seiner Webseite. Das ist bisher vor allem bei Lieferketten schwer: Viele Unternehmen können oder wollen lediglich schätzen, wie viel CO2, Methan oder andere Klimagase ihre Transporte in die Atmosphäre pusten. Das selbsternannte "Google Earth für Emissionen" will Klarheit schaffen, Ausstoß, Pläne und Fortschritte überwachen - und die Verursacher auf diese Weise anprangern und bloßstellen, wie einer der Geldgeber zugibt. "Denn das ist ein sehr effektives Werkzeug."
Ansonsten glaube ich, dass das Trace-Projekt bei Staaten sehr wirkungsvoll sein kann. Das Pariser Klimaabkommen basiert ja tatsächlich auf sozialem Druck. Vielleicht wurde das Shaming von Anfang an mitgedacht, denn es gibt ja keine gesetzliche Verpflichtung, sich als Staat an die eigenen Ziele zu halten.
Auf der Ebene von Unternehmen weiß ich nicht, wie viel Trace bringt. Bei der Automobilindustrie kann man sicherlich den Ausstoß von Lieferketten ordentlich und glaubwürdig berechnen. Aber bei der Nutzungsphase bin ich skeptisch. Auf unseren Straßen fahren viele Autos herum, für die es den sogenannten Flottenverbrauch gibt. Ich schätze, dass das mehr als 50 Prozent der Emissionen sind, die man Automobilherstellern zurechnen kann. Wie will Trace diesen Ausstoß erfassen? Wenn das nicht klappt, leistet Trace nur den halben Beitrag. Dann muss man wieder schätzen, wer die schlimmsten Umweltsünder sind.
Wie bei Kosmetikprodukten, bei denen die meisten Emissionen bei der Nutzung entstehen, weil man viel Wasser braucht, um ein Duschbad oder Shampoo zu verwenden?
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Genau. Aber auf diese Emissionen muss ich schauen, weil es ansonsten keine Notwendigkeit gibt, das Geschäftsmodell zu verändern.
Das klappt aber nur mit einem öffentlichen Pranger und eher bei Unternehmen als bei Staaten. Als Verbraucherin oder Verbraucher kann ich zumindest versuchen, ein Ersatzprodukt zu finden. Wenn ein Staat hinter seinen selbstgesteckten Klimazielen zurückbleibt, kann man wenig tun.
Trotzdem ist es enorm wichtig, den Druck auf Regierungen hochzuhalten. Vergangenes Jahr haben bei der Weltklimakonferenz in Glasgow 193 Staaten gesagt, sie würden ihre Klimaziele anpassen, weil sie nicht ambitioniert genug sind. Genau 19 haben das bis zur Deadline gemacht. Da muss man den Finger auf jeden Fall häufiger in die Wunde legen.
Beim persönlichen Verbrauch gibt es auch eine sogenannte Attitude-Behavior-Gap: Ich will nachhaltig konsumieren, mache es am Ende aber nicht. Die meisten sind nur bereit, einen Aufpreis für Nachhaltigkeit zu zahlen, wenn es um Nahrungsmittel oder Kosmetika geht, also Produkte, die meinen Körper direkt berühren. Bei allen anderen siegt dann doch häufig der Preis.
Bei Technologie, Autos, Wohnen und Kleidung?
Kleidung ist eine schwierige Branche, weil das Thema dort sehr sichtbar ist. Aber auch hier spielt der Preis eine große Rolle, weil Nachhaltigkeit häufig mehr kostet.
Trotzdem rühmen sich viele Unternehmen damit, wie grün sie angeblich sind. Diese Behauptung steht dann einfach so im Raum, ohne dass man nachvollziehen kann, ob es stimmt. Und selbst, wenn man herausfindet, dass die Aussage falsch ist, hat es keine Konsequenzen.
Die EU will ja aktiv gegen Greenwashing vorgehen. Unternehmen werden auch zurückhaltender, umso mehr Skandale ans Licht kommen. Das kann aber auch nicht die Lösung sein. Deshalb würde eine Datenbank, die alle Emissionen der einzelnen Unternehmen transparent auflistet, tatsächlich viel bringen. Denn die rechnen sich ihre Zahlen natürlich schön und ziehen ihre Offsets ab, obwohl erwiesen ist, dass das nichts bringt, weil die Erde gar nicht so viel CO2 binden kann, wie wir ausstoßen. Das klappt vielleicht bei einem Viertel der Emissionen.
Man kann also festhalten: Staaten und Unternehmen darf man öffentlich anprangern, bei Individuen sollte man eher vorsichtig sein.
Einfach gesagt, ja.
Sie können es gerne auch noch einmal kompliziert sagen.
(Lacht) Bei einem Individuum ist das Anprangern problematisch, weil es sehr destruktiv ist. Man darf nicht vergessen, dass 10 Prozent unserer Erdbevölkerung für 50 Prozent der Emissionen verantwortlich sind, das sind etwa 800 Millionen Menschen. Wahrscheinlich sind es die oberen zehn Prozent, von denen sehr viele auch aus den USA oder Deutschland kommen. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Deshalb sollten wir insbesondere hierzulande nicht mit dem Finger auf andere zeigen und sagen: Da ist jemand noch schlimmer als ich, sondern man sollte bei sich selbst anfangen und positives Verhalten belohnen.
Für Unternehmen und Staaten kann öffentlicher Druck schon ein konstruktives Element sein. Inzwischen haben sich alle mehr oder weniger ambitionierte Klimaziele gesetzt, jetzt geht es an die Umsetzung. Transparenz kann dabei helfen, dass auch wirklich etwas passiert, weil man sich ja leicht viele Ziele setzen kann.
Damit könnte man auch diesen Trend einiger Industriekampagnen umkehren, die das individuelle Anprangern befördert haben, wie der persönliche CO2-Fußabdruck, den sich BP ausgedacht hat.
Es wäre auch schön, wenn auf den Produkten eines Tages nicht nur der Preis stehen würde, sondern auch, was die Herstellung die Umwelt gekostet hat. Heute schreiben Unternehmen ja überall "klimaneutral" drauf, weil sie irgendwo einen Baum gekauft haben, der dann wahrscheinlich gar nicht gepflanzt wird. Das ist ein Werbegag, um steigenden Konsum quasi moralisch zu rechtfertigen.
Mit Judith Mayer sprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Gespräch ist zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet worden.
Was hilft gegen den Klimawandel? "Klima-Labor "ist der ntv Podcast, in dem Clara Pfeffer und Christian Herrmann Ideen und Behauptungen prüfen, die toll klingen, es aber selten sind. Klimaneutrale Unternehmen? Gelogen. Klimakiller Kuh? Irreführend. Kunstfleisch? Das Grauen 4.0. Aufforsten im Süden? Verschärft Probleme. CO2-Preise für Verbraucher? Unausweichlich. LNG? Teuer.
Das Klima-Labor - jeden Donnerstag eine halbe Stunde, die informiert und aufräumt. Bei ntv und überall, wo es Podcasts gibt: RTL+ Musik, Apple Podcasts, Amazon Music, Google Podcasts, Spotify, RSS-Feed
Quelle: ntv.de