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Eine Antwort auf die Pandemie "Atemtherapie rettet Leben"

Vor allem in der Natur lässt sich gut tief eiin- und ausatmen.

Vor allem in der Natur lässt sich gut tief eiin- und ausatmen.

(Foto: imago images/Action Pictures)

Atmen bedeutet Leben. Doch den meisten ist das so lange nicht bewusst, bis sie dabei Schwierigkeiten haben. Atemtraining hilft, und zwar auf mehreren Ebenen, erklärt die Ärztin Sandra Gawehn, die in der Corona-Pandemie ein Ehrenamt-Projekt zum Thema Atemtherapie ins Leben ruft.

Einatmen, ausatmen - rund 20.000 bis 24.000 Atemzüge macht ein gesunder Erwachsener am Tag. Die meisten davon unbewusst, denn die Atmung passiert von allein. Doch was, wenn es dabei Probleme gibt? Dann kann es schnell um Leben und Tod gehen, wie Dr. Sandra Gawehn aus ihrer beruflichen Erfahrung weiß. Der engagierten Frau, die derzeit als Stationsärztin der Lungenabteilung an der Universitätsklinik Greifswald arbeitet, ist es seit Beginn der Pandemie wichtig, dass jeder Interessierte niederschwelligen Zugang zu Informationen zum Atemtraining bekommen kann.

"Als Ärztin glaube ich an die Kraft des Einzelnen. Jeder kann etwas tun. Wirklich jeder", beschreibt Gawehn im Gespräch mit ntv.de ihre Überzeugung. Die Medizinerin will möglichst vielen Menschen die Angst nehmen, diese durch Wissen zum Thema Atmung, Sport und Fitness ersetzen und ganz konkret zu einem Atemtraining anleiten - egal, ob es sich um gesunde Personen oder Covid-19-Patienten handelt.

"Um ein Buch zu schreiben, fehlte die Zeit, denn schon kamen die ersten Patienten mit schweren Covid-19-Verläufen auf die Stationen", erinnert sich Gawehn an den Anfang der Pandemie. Zudem hätten auch Erkrankte nicht mehr genug Kraft, um ein Buch zu lesen. "Es musste etwas anderes, Kompakteres sein", erzählt die Ärztin. Und unbedingt wollte sie sich auf die vorhandenen Ressourcen konzentrieren - und nicht auf den Mangel.

Erste Recherchen und erste Erfolge

Gawehn begann zum Thema Atemtraining zu recherchieren, Studien zu sichten und erste Erfahrungen aus verschiedenen Kliniken über Krankheitsverläufe zu analysieren. Diversen Berechnungen aus der medizinischen Literatur zufolge kann man trainierte Menschen deutlich früher von einem Beatmungsgerät entwöhnen - bis zu 2,2 Tage im Vergleich zu nicht trainierten Personen. Davon profitieren gleich mehrere Patienten. "Durch die Anhebung des generellen Fitnesszustands könnten Beatmungsgeräte gegebenenfalls ein bis zwei Tagen früher für andere Patienten freigegeben werden", erklärt Gawehn.

Mit ihrer beruflichen Erfahrung aus der Sportmedizin und Rehabilitation weiß sie bereits, was Patientinnen und Patienten beim Atemtraining guttut, welche Übungen und welche Informationen ihnen helfen und was Betroffene brauchen, um die Atemmuskulatur zu trainieren. Gawehn sah während der Rehabilitationszeit den Fortschritt ihrer Patientinnen und Patienten. Nun soll das Wissen zum Atemtraining auch Covid-19-Patienten zugänglich gemacht werden. Aber wie?

Keiner wollte das machen

Sandra Gawehn setzte sich mit Sport- und Rehabilitationsärzten, Physio- und Atemtherapeuten, Logopäden, Lungenfachärzten, Politikern und Radio- sowie Fernsehsendern deutschlandweit in Verbindung. Die Resonanz war überwältigend, allerdings fehlte es wie immer an freien Kapazitäten. Niemand fand sich, um für das Atemtraining eine Plattform zu bauen. Irgendwann wusste die Ärztin, dass sie das selbst machen müsste. "Es hat mich einen Monat Zeit gekostet", fasst Gawehn diesen Prozess zusammen.

Als Testpersonen gewann sie Rentner im Alter zwischen 75 und 100 Jahren, Sportler, Ärzte, Bewohner einer Behinderteneinrichtung und Menschen mit Prothesen. Die Rückmeldungen von allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern konnte die Ärztin in den schriftlichen Zusammenfassungen der Atemtrainings berücksichtigen. Die nächste Aufgabe bestand dann darin, so vielen Menschen wie möglich den Zugang zum Training zu gewähren. Dabei entstand in ehrenamtlicher Zusammenarbeit mit Silvio Meyn die Internetseite "Atemtherapie rettet Leben". Sie umfasst mittlerweile einen Projektflyer zur Übersicht und Inspiration, zwei Audio-Beiträge zum Anhören und verschiedene Trainingsanleitungen, auch zum Ausdrucken.

Niemals hätte Gawehn geglaubt, dass ihr Projekt so viel Zuspruch und so starke, durchweg positive Resonanz erfährt. Die Atemtrainings werden bis heute nicht nur im Inland wahrgenommen, sondern auch im Ausland. Sie sind mittlerweile in acht verschiedenen Sprachen über die Internetseite abrufbar. Mit den Übersetzungen hatten Ärzte in Bergamo begonnen, dem Ort im Norden Italiens, der mit seiner hohen Anzahl an Covid-19-Fällen und -Toten weltweit Schlagzeilen machte.

JVA und Pflegeheime sind interessiert

Die medizinische Abteilung des Auswärtigen Amtes in Deutschland leitete die Adresse der Internetseite an die angeschlossenen Regionaldienststellen weiter, die auf diesem Wege bis nach Indien gelangte. Über das Bündnis "Aktion Deutschland hilft" erreichte die Seite die Entwicklungsländer. Die Audioversionen halfen nicht nur bettlägerigen Menschen, sondern auch Analphabeten.

Auch in Deutschland findet die Seite mit den Atemtrainings viele Interessierte. In Flüchtlingsheimen, Justizvollzugsanstalten (JVA), Alten- und Pflegeheimen und Behindertenwerkstätten wurden die Informationen abgerufen. In den JVA waren und sind die Printversionen sehr willkommen, da in manchen Gefängnissen kein Internet erlaubt ist und somit auch keine Audios verfügbar. Manche stellten es den Insassen im Intranet zur Verfügung, andere teilten die Druckversionen samt Trainingsanleitungen in den Zellen aus.

Bis heute hat mit dem Zugang zu den Informationen jeder die Möglichkeit, aktiv etwas für Fitness, Gesundheit und praktisches Wissen über Atmung zu tun. Erkrankte können damit aktiv an ihrer Genesung mitwirken, Gesunde präventive Vorkehrungen treffen.

Antworten auf Patientenfragen

Bei ihrer Arbeit auf der Covid-Station erlebt Gawehn täglich, wie die Informationen den hochinfektiösen Patienten, die wach, ansprechbar, verzweifelt und besorgt um ihre Gesundheit sind, enorm helfen. Viele der Covid-19-Patienten fragen: Welche Übungen kann ich machen? Wie komme ich wieder auf die Beine? Worauf muss ich achten? Wie atme ich richtig? Die Trainings und die Flyer von "Atemtherapie rettet Leben" geben Antworten darauf. Sie sind für Anfänger und Fortgeschrittene konzipiert und beinhalten 15 beziehungsweise 18 verschiedene Trainingsaufgaben, kräftigende, mobilisierende und dehnende Übungen.

"Es ist für mich eine große Hilfe, den Patienten etwas in die Hand geben zu können und schon nach kurzer Zeit zu sehen, was sie mit der Anleitung zuwege bringen", fasst Gawehn das Ergebnis ihrer Arbeit zusammen. Es ist ihr Ziel, Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Sie wünscht sich eine bessere Vernetzung der Ressourcen, die bereits vorhanden sind. Nur mit der Verknüpfung der verschiedenen medizinischen Bereiche, insbesondere der Akutmedizin, der Physiotherapie, der hausärztliche Versorgung und der Sportmedizin kann man das bestmögliche Ergebnis erzielen. Ebenso wichtig ist die Vernetzung mit den Massenmedien und die Flexibilität der Politik.

Quelle: ntv.de

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