"Das mangelnde Licht" Ein Krieg, der Freundschaften frisst
08.05.2022, 09:42 Uhr
Die vier Freundinnen wachsen in den 1980er- und 1990er-Jahren in einem traditionellen Tbilisser Hinterhof mit hölzernen Laubengängen und Wendeltreppen auf.
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Vier Freundinnen wachsen im postsowjetischen Georgien auf, erleben Putsch, Krieg und die Heroinschwemme. Als sie sich 2019 wiedersehen, ist eine von ihnen tot, die anderen trennt ein Verrat. Mit "Das mangelnde Licht" hat Nino Haratischwili einen Roman geschrieben, den man nicht aus der Hand legen kann.
An einem heißen Sommerabend im Jahr 1987 verabreden sich vier Mädchen für eine Mutprobe. Sie brechen in den Botanischen Garten von Tbilissi ein und suchen sich mit einer Taschenlampe den Weg zu einem Wasserfall. Dort klettern sie auf den Felsen und stürzen sich in das Wasserbecken. Für Keto, die Ich-Erzählerin in Nino Haratischwilis neuem Roman "Das mangelnde Licht", ist dieser Moment magisch, "weil wir in unserem Zusammenhalt eine unzerstörbare Kraft bildeten, eine Gemeinschaft, die vor keiner Herausforderung mehr zurückschrecken würde".

Bekannt wurde Nino Haratischwili 2014 mit ihrem fast 1300 Seiten starken Roman "Das achte Leben", in dem sie die Geschichte einer georgischen Familie über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg erzählt.
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Doch das uneingeschränkte Glück hält nicht lange an, die Mädchen wachsen im Georgien zur Zeit des Zerfalls der Sowjetunion auf. Die Freundinnen sind: Dina, die Abenteuerlustigste und Lebenshungrigste des Quartetts, die sich als junge Frau an einem Turnseil das Leben nehmen wird. Die vernünftige Ira, die auch dann, als sie schon eine Top-Staatsanwältin ist, über Nene wacht. Nene wiederum träumt von Freiheit und Liebe und wird von ihrem Onkel, einem der mächtigsten Kriminellen von Tbilissi, zwangsverheiratet. Und schließlich ist da noch die sensible Keto, die sich angesichts der Grausamkeiten um sie herum beginnt, die Oberschenkel zu ritzen.
Die vier müssen sehr schnell erwachsen werden in einem Land, in dem Putsch, Bürgerkrieg, Korruption und Mangelwirtschaft herrschen. Ständig fällt der Strom aus, im Winter ist es bitterkalt. Oft geht es ums pure Überleben. Sie erfahren hautnah, wie sich Gewalt auf den Straßen ausbreitet, wie ihre Brüder und Freunde in die organisierte Kriminalität abdriften und einem gefährlichen Ehrenkodex folgen. Einige sterben, werden ermordet oder nehmen Heroin, das in Mengen in das Land geschwemmt wird. Keine der Figuren geht ohne Wunden - egal ob physische oder psychisch - aus dieser Zeit heraus. Haratischwili, die 1983 in Tbilissi geboren wurde und seit 2003 dauerhaft in Deutschland lebt, schickt ihre Protagonistinnen buchstäblich durch die Hölle.
Erinnerungen in Bildern
Um von dieser katastrophalen Zeit zu erzählen, wählt die Autorin einen dramaturgischen Kniff: Sie lässt es 2019 in Brüssel zu einem Wiedersehen kommen. Da ist Dina bereits tot, die drei übrig gebliebenen Freundinnen haben sich seit Jahren nicht mehr gesehen und schon bald wird deutlich, dass etwas vorgefallen sein muss, das die Frauen entzweit hat. Anlass für das Treffen ist eine Retrospektive mit Fotografien von Dina, die schon als Mädchen immer ihre Leica dabei hatte und später eine bekannte Kriegsfotografin wurde. Die Bilder, auf denen sie teilweise selbst zu sehen sind, katapultieren die Frauen in ihre Kindheit und Jugend zurück. Anhand von Ketos so schmerzhaften wie zärtlichen Erinnerungen fügt sich ihre Vergangenheit voller Verzweiflung und Verrat nach und nach wie ein Puzzle zusammen.
Das wohl ikonischste von Dinas Bildern trägt den Titel "Zoo". Darauf ist Keto zu sehen, nachdem sie sich neben einem Gehege übergeben hat und von einem Affen erstaunt beobachtet wird. "Es markiert den schlimmsten Tag meines und ihres Lebens, die Schnittstelle zwischen allem, was war, und allem, was danach kommen wird, den Punkt, an dem wir noch nicht wissen, dass wir am Ende des Tages zu anderen Menschen geworden sind", so Keto. Kurz zuvor haben die beiden Mädchen zufällig einen Mord beobachtet und müssen eine Entscheidung treffen, die sie ihr Leben lang verfolgen wird.
Eine andere Fotografie zeigt einen Hinterhof, "das Universum unserer Kindertage". Dort wohnen Menschen unterschiedlicher Ethnien und gesellschaftlicher Schichten zusammen. Zum Beispiel Ketos Akademikerinnen-Großmütter, die sich gerne über die Vorzüge der deutschen und französischen Sprache kappeln. Oder Tarik, der Nachzügler einer kurdischen Familie, der jedem Straßenköter einen Namen gibt, und der überzeugte Stalinist Onkel Giwi, der den ganze Hof mit klassischer Musik beschallt und die Kinder mit seiner altmodischen Ausdrucksweise zum Lachen bringt.
Ein Riesenrad und ein Schuss
In dieser bunt zusammengewürfelten Nachbarschaft spiegelt Haratischwili, wie sich das Grauen langsam auf den Alltag und das Zwischenmenschliche auswirkt. Genau hier kommt eine der ganz großen Stärken der Autorin zum Tragen: Sie beschreibt alle ihre Charaktere unglaublich liebevoll und plastisch und entwirft ein enges Geflecht aus familiären, freundschaftlichen und nachbarschaftlichen Beziehungen und Abhängigkeiten.
Und immer wieder sind es eindrückliche Bilder und Szenen, die Haratischwili findet, um komplexe geschichtliche Ereignisse mit der individuellen Ebene zu verknüpfen. Zum Beispiel wenn die vier Freundinnen in dem Riesenrad des Tbilisser Vergnügungspark sitzen und Cognac trinken, als sie am 9. April 1989 den ersten Schuss hören. An dem Tag wurde eine friedliche Massendemonstration von der sowjetischen Armee gewaltsam niedergeschlagen. 21 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt oder durch Gase vergiftet.
Apropos Bilder: Über manch sprachliches Bild muss die eine oder der andere vielleicht ein wenig hinweglesen, Haratischwilis Stil ist an vielen Stellen überbordend. Aber die Leidenschaft, mit der die Autorin über das Glück und Unglück dieser vier Freundinnen in düsteren Zeiten schreibt, ist einfach mitreißend. "Das mangelnde Licht" gehört zu den Bücher, die man einfach nicht aus der Hand legen kann. Am Ende möchte man keine der über 800 Seiten missen, auf denen es trotz aller Zerrissenheit und Traumata - die vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs noch einmal eine ganz erschreckende Aktualität bekommen - auch ein wenig Hoffnung gibt.
Quelle: ntv.de