Politik

"Entspann dich, Merz"Der Kanzler stößt ganz Brasilien vor den Kopf

19.11.2025, 10:56 Uhr
imageVon Clara Pfeffer, Belém
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Wo bin ich hier gelandet? Bundeskanzler Friedrich Merz in Belém. (Foto: picture alliance/dpa)

Friedrich Merz hat im Vorbeigehen eine ganze Nation gegen sich aufgebracht. Sind seine Einlassungen zu Brasilien nun pure Ignoranz und Arroganz oder einfach Ausdruck seines Dilettantismus? Schwer zu sagen. Doch die Brasilianer wissen sich zu wehren.

Wer wissen will, worüber Brasilien spricht, geht am besten in den Schönheitssalon. Denn - und das wird hier noch wichtig - Brasilianer legen großen Wert auf ihr Erscheinungsbild. Für Männer wie Frauen gehört der wöchentliche Salonbesuch zum Alltag. Während Haare gefärbt und Nägel gefeilt werden, läuft der Fernseher, und das Personal - meist doppelt so zahlreich wie die Kundschaft - diskutiert pausenlos. Oft geht es um Telenovelas. Umso überraschter war ich, als es bei meinem letzten Besuch vor allem um ihn ging: Fhiederhisch Mähz - so die ungefähre lokale Aussprache des Namens des deutschen Bundeskanzlers.

Merz hat einen wunden Punkt getroffen: den Nationalstolz der Brasilianer, besonders den der Menschen im Bundesstaat Pará. Etwa 20 Stunden verbrachte der Kanzler beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs anlässlich der UN-Klimakonferenz (COP) in Belém, einer Millionenstadt am Amazonas. Am Ende eines langen Tages bat er die mitgereisten Journalisten zu einem Hintergrundgespräch. So weit, so Routine. Aus solchen Runden wird nicht zitiert, sie sind vertraulich. Offenbar gilt das aber nicht für den Kanzler.

In dieser Runde ging es um Brasiliens Präsidenten Lula, um die COP und natürlich um Innenpolitik. Irgendwann stellte Merz - eigentlich ging es da gerade um innenpolitische Fragen - eine rhetorische Frage: "Sind Sie hier mal rumgefahren? Und - würde jemand hier bleiben wollen?" Ich fand die Aussage schon da etwas ungeschickt, aber gut, gemeint war wohl, dass wir in Deutschland privilegiert leben, dass die Infrastruktur besser ist. Das sind Dinge, an die man durchaus hin und wieder erinnern darf. Mein Kameramann und ich tauschten uns im Nachgang darüber aus. Unser Eindruck: "Gut für ihn, dass er das nicht öffentlich gesagt hat."

Und dann begegnet mir ebendieser Satz plötzlich in allen brasilianischen Medien. Denn zurück in Berlin griff der Kanzler genau diese Szene auf: "Ich habe einige Journalisten, die mit mir in Brasilien waren, letzte Woche gefragt: Wer von euch würde denn gerne hierbleiben? Da hat keiner die Hand gehoben", sagte er. "Die waren alle froh, dass wir vor allen Dingen von diesem Ort, an dem wir da waren, in der Nacht von Freitag auf Samstag wieder nach Deutschland zurückgekehrt sind." Man lebe in Deutschland "in einem der schönsten Länder der Welt".

Zur Einordnung: Belém ist auch nach brasilianischen Maßstäben eine arme Stadt. Genau deshalb hatte Lula sie als COP-Gastgeber gewählt: um der Welt die Klimakrise und die soziale Realität einer Metropole des Globalen Südens vor Augen zu führen.

Die Reaktionen auf Merz Äußerungen ließen nicht lange auf sich warten. In Brasiliens lebhafter Medienlandschaft - kaum jemand nutzt soziale Medien so leidenschaftlich wie die Brasilianer - verbreitete sich die Rede rasend schnell. Und sie traf die Menschen dort, wo sie unverzeihlich sind: in ihrem Stolz auf die Schönheit ihres Landes und auf ihre Gastfreundschaft. Beides völlig zu Recht.

Denn dieser eine Satz zeigt geradezu exemplarisch, worum es bei der Klimakonferenz eigentlich geht: um Gerechtigkeit zwischen dem globalen Norden und Süden. Oder auch zwischen ehemaligen Kolonialisten und ehemaligen Kolonien. Zwischen jenen, die sich jahrzehntelang an Ressourcen bereichert haben, und jenen, von denen man heute erwartet, den Planeten bewohnbar zu halten - indem sie den Wald im Amazonasgebiet nicht abholzen.

Die Arroganz mancher Europäer ist angesichts verschobener globaler Machtverhältnisse nicht nur schwer zu ertragen, sie ist fahrlässig. Sie treibt Länder in Richtung China. Sie stärkt den Staatenbund BRICS, über den Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika und weitere Länder trotz geringer ideologischer Gemeinsamkeiten ein eigene Weltordnung vorantreiben.

Dabei wäre gerade Brasilien, diese vergleichsweise stabile Demokratie mit gesellschaftlichen Werten, die unseren durchaus ähneln, ein idealer Partner für Deutschland - aber eben nur noch auf Augenhöhe. Und Augenhöhe kann man nicht heucheln.

Der Bürgermeister von Belém nannte Merz' Worte "unglücklich, arrogant und voreingenommen". Der Bürgermeister von Rio de Janeiro, Eduardo Paes, ging noch weiter und schrieb auf X: "Sohn von Hitler! Mistkerl! Nazi!" - löschte den Post aber kurz darauf wieder und kommentierte dann: "Das war mein heutiger Frustabbau. Es lebe die Freundschaft zwischen Brasilien und Deutschland."

Naja, das mit der Emotionalität wäre wohl ein weiterer Stereotyp an dieser Stelle. Und schließlich meldete sich Präsident Lula selbst: Merz hätte in Pará mal in eine Bar gehen sollen, mal tanzen, die lokale Küche probieren, so der Staatschef des 203-Millionen-Einwohner-Landes. Dann hätte Merz gemerkt, dass Berlin "nicht einmal zehn Prozent der Qualität" von Pará bieten könne.

Dabei schien es eigentlich gut zu laufen zwischen Lula und Merz: Ihr bilaterales Gespräch lief trotz politischer Gegensätze entspannt. Und Brasilien zeigt bei dieser COP erstaunliches diplomatisches Geschick: Selten liefen Verhandlungen so reibungslos; 194 Staaten ohne öffentlichen Streit über mehr als eine Woche zu führen, ist ein Meisterwerk.

Merz schafft es dagegen, in wenigen Sekunden diplomatische Beziehungen zu beschädigen - und seinen Social-Media-Algorithmus gleich mit. Denn die Kommentarspalten sind inzwischen komplett in brasilianischer Hand. Ein Nutzer schreibt: "Putz dir die Zähne und geh duschen, bevor du über Brasilien sprichst." (Von dieser Sorte gibt es einige Kommentare; ich hatte es schon angedeutet: Brasilianer müssen sich manchmal zurückhalten angesichts der Lässigkeit, mit der manche in Deutschland Körperhygiene interpretieren.)

Mein persönlicher Favorit unter den Kommentaren: "Entspann dich, Merz. Kein Wunder, dass dich Belém überfordert. Nach dem Amazonas wirkt jedes Land, in dem das emotionalste Gericht Kartoffeln mit Würstchen ist, automatisch gemütlicher."

Falls es bis hierhin noch nicht aufgefallen ist: Ich bin selbst Brasilianerin und in dieser Sache sicher nicht objektiv. Wie ein Großteil der rund 214 Millionen Brasilianer erwarte auch ich zumindest eine Richtigstellung. Immerhin, Umweltminister Carsten Schneider bemüht sich gerade um Schadensbegrenzung und lobt den Austragungsort geradezu überschwänglich.

Und ja, die ganze Empörungskultur ist furchtbar anstrengend. Aber: Brasiliens Empörung ist durchaus angebracht. Der Bundeskanzler war einfach unhöflich. Und unrecht hat er auch: Es ist sehr schön hier, fragen Sie gerne mal die vielen anwesenden Journalisten.

Quelle: ntv.de

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