Duell im Zeichen der Zeitenwende Der letzte Rettungsring für Bayern und den BVB
23.04.2022, 07:57 Uhr
Marco Reus und Joshua Kimmich bei einer liebevoll betreuten Unterhaltung im Jahr 2021.
(Foto: picture alliance / SVEN SIMON)
Im Spiel gegen den BVB steht der FC Bayern München vor einem unglaublichen Rekord. Der deutsche Spitzenklub kann am 31. Spieltag den zehnten Meistertitel in Folge festmachen. Den Zuschauer erwartet trotzdem ein außergewöhnliches Spitzenspiel voller Abschiede und Andeutungen.
Der FC Bayern wird in dieser Saison Deutscher Meister. Als Tabellenzweiter wird Borussia Dortmund in der Fußball-Bundesliga ins Ziel kommen. Man kennt das. Man hat sich dran gewöhnt. Schließlich gilt das Abo der Münchner nun bereits im zehnten Jahr in Folge. Erst in dieser Woche jährte sich der letzte Titelgewinn der Dortmunder. Nicht einmal der Klub aus dem Ruhrgebiet wollte das Jubiläum begehen.
Oft wurde der Titel-Zweikampf der beiden Giganten, der in Wahrheit natürlich keiner ist, im direkten Duell entschieden. Einmal, 2016, begnügte sich der damalige BVB-Trainer Thomas Tuchel mit einem 0:0 gegen seinen Rivalen Pep Guardiola. Es war nicht genug. Einmal, im Pandemiejahr 2020, zerstörte Joshua Kimmich die Dortmunder Ambitionen mit einem kaltherzigen Heber.
Andere Spiele wiederum waren dazu geeignet, die Moral der Borussia auf den Tiefpunkt zu bringen. Auswärts, in der Allianz-Arena, gab es ohnehin nichts zu holen. Dort demütigten die Münchner den BVB in jedem Spiel. In München ist der BVB der neue Hamburger SV. Der letzte Sieg in einem Ligaspiel liegt auch schon beinahe ein Jahrzehnt zurück. Wenn es nun an diesem Samstagabend (ab 18.30 Uhr im ntv.de-Liveticker) zum Duell kommt, dann ist in Sachen Meisterschaft bereits alles klar. Besondere Aufmerksamkeit verdient dieses Spiel dennoch.
Wer hat die BVB-Mentalität?
Denn dieses 132. Aufeinandertreffen der großen Rivalen erzählt nicht nur Geschichten von Abschied, von Vorfreude, von Hoffnung und Ängsten, sondern es ist auch die Zeugniskonferenz über Leistung und Erfolg der Vereine in diesem Jahr. Über die Erfolge der Münchner weiß man ja bereits das: Der Rekordmeister geht mit einem Titel in die Pause. Mit nur einem Titel. Uli Hoeneß, der sich bei seinem Herzensklub ja künftig kaum noch einmischen will, gefällt das nicht. Auf Dauer, so sagte er einst im Doppelpass, sei diese Ausbeute zu wenig. Das war vor Corona und die internationale Konkurrenz zwar schon stinkreich, aber noch nicht stabil und dominant. Ob Hoeneß und sein FC Bayern dieses Mantra nochmal durchbrechen können oder sich eine neue Realität ausbildet? Auch darum geht's an diesem Samstagabend irgendwie.
Zur Symbolfigur dieser Phase der Münchner ist ausgerechnet Joshua Kimmich geworden. Der Mann, der schon kraftvoll an der Tür der Weltfußballer-Elite geklopft hat, der seiner Mannschaft eine beeindruckende Dominanz geben kann, der aber nach einem langen Corona-Irrweg zwischen Impfweigerung, Quarantäne und Infektion irgendwie vom Weg der Konstanz abgekommen ist. Wie eben sein FC Bayern. Wie Trainer Julian Nagelsmann, der überragend in die Saison gestartet war, dann allerdings - auch wegen Personalsorgen (verletzt, infiziert) - in einen Experimenten-Rausch verlief, der seine Fußballer bisweilen verunsichert, vielleicht sogar überfordert hat. Auch das ist eine Geschichte hinter dieser Ein-Titel-Saison des Rekordmeisters.
Über die Leistungen von Borussia Dortmund weiß man dagegen Folgendes: Es ist die ewige Sams-Geschichte zwischen der niemals sterbenden Hoffnung, das gewaltige Potenzial des Kaders endlich mal wieder gewinnbringend zu heben und der regelmäßigen Enttäuschung, dass irgendwas in diesem Aufgebot nicht zusammenpassen will. Zu viele Talente, zu wenig Führung? Zu viele Egos, zu wenig Teamgeist? Zu viele Schön- und zu wenig Mentalitätsspieler? Schon jetzt ist diese Frage so überholt wie drängend. In dieser Saison ist alles egal, aber was geht in der nächsten Spielzeit? Dieser Abend soll Trainer Marco Rose und dem neuen Sportchef Sebastian Kehl wichtige Erkenntnisse liefern.
Die letzte Lewandowski-Show?
Auf Erling Haaland, das ist der großen Fußball-Welt bereits klar, wird der BVB künftig nicht mehr setzen können. Der Norweger wird mit einer bemerkenswerten Torquote, aber zuletzt auch eher rätselhaften Auftritten in Erinnerung bleiben und weiterziehen. Er wird seinen Platz im Kosmos der Superreichen finden. Vielleicht bei Manchester City? Der Klub soll ihm ein "obszönes" Angebot gemacht haben. Vielleicht aber auch beim FC Bayern? Zwar wiegeln die Münchner bei diesem Thema fröhlich-verzweifelt ab, zu teuer, heißt es, aber zum Transfer-Business gehört das Unmögliche möglich machen stets dazu. Und der Rekordmeister muss ja auch schauen, wie er das Vakuum in der vordersten Reihe hochwertig füllt. Denn Robert Lewandowski, das ahnt die große Fußball-Welt, will unbedingt weg. Wirklich.
Und so beginnt der Poker um die beiden Tor-Phänomene. Die Bundesliga weiß das für sich zu nutzen und inszeniert den Klassiker als Showdown der Giganten. Robert Lewandowski setzt sein Pokerface auf und warnt den Herausforderer streng: "Keine Dummheiten!" Doch Erling Haaland, die Augen von einer riesigen Sonnenbrille verdeckt, bleibt cool. "Ich werde nicht aussteigen", raunt er. Der junge Norweger hält zwei Asse - wie der Pole. Beide gehen "All-in".
Ob das doch auch noch für den FC Bayern gelten wird? Oliver Kahn wird das wissen, Trainer Julian Nagelsmann, der nicht als großer Freund und Förderer von Stoßstürmern gilt (was Lewandowski übrigens aufstoßen soll) und Sportdirektor Hasan Salihamidžić. Der steht nach eher durchwachsenen Transfererfolgen in den vergangenen beiden Jahren massiv unter Druck. Will er den Rekordmeister (kleiner Spoiler: er will und muss) national und international titelreif halten, muss er was liefern. Haaland wäre so etwas. Und vermutlich bietet dieser Sommer die letzte Chance auf die Sturm-Wucht, die bei nur annähernd gleichbleibender Entwicklung ab 2023 nie wieder zu bezahlen wäre.
Es geht auch um das Erbe von Zorc
Doch viel wahrscheinlicher ist: Beide Stars werden die Liga im Sommer verlassen und die Bundesliga noch ein Stück weit mehr in Richtung internationaler Bedeutungslosigkeit schrumpfen lassen. Genau darin liegt jedoch auch die Chance: Ohne den ewigen Torjäger Lewandowski, der das Bild der Liga seit nunmehr zwölf Jahren prägt wie sonst vor ihm wohl kaum ein anderer Spieler und ohne Haaland, diesem Jahrhunderttalent, das zuletzt vermehrt mit Verletzungen und auch der Unzufriedenheit des Publikums zu kämpfen hatte, ist der Weg frei für neue Protagonisten und vielleicht sogar für einen neuen Meister.
Das Spiel in der Allianz Arena wird auch das letzte für den scheidenden BVB-Sportdirektor Michael Zorc sein. Das 59-jährige Urgestein der Dortmunder wird den Klub im Sommer verlassen und damit auf der Führungsebene der Westfalen einen Umbruch einleiten. Bayern München hat den schon längst vollzogen. Die neue Klubführung unter dem Vorstandsvorsitzenden Oliver Kahn und seinem Sportvorstand Hasan Salihamidžić macht dabei noch lange nicht den gefestigten Eindruck, den die alten Recken Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge in ihrer Zeit an der Säbener Straße gemacht haben. Diese zementierten im vergangenen Jahrzehnt die Vormachtstellung der Bayern. Es war ihre große Dekade, die nicht einmal durch die Inhaftierung des Präsidenten Hoeneß Schaden nahm.
Bayern-Führung unter Druck
Ohne Hoeneß und Rummenigge aber mäandert der FC Bayern durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie, die auch dem deutschen Aushängeschild schweren finanziellen Schaden zugefügt hat. Es traf den Klub in einer Phase, in der immer höhere Gehälter gezahlt wurden und auch die Bayern sich langsam dem Druck der internationalen Topklubs beugen mussten. Dieser Tage reagiert die Unruhe an der Säbener Straße. Der Druck auf die neue Führung wächst. Die Bayern stehen vor einem Strategiewechsel. Ob der noch von Salihamidžić vollzogen werden wird? Erst in dieser Woche brachte Lothar Matthäus den ehemaligen Gladbacher Max Eberl als einen Nachfolger ins Gespräch. Salihamidžić stellt er dabei in die Ecke des als Sportvorstand ultimativ gescheiterten Christian Nerlinger. "Adeln" geht anders.
Sie werden im internationalen Geschäft eine neue Rolle finden müssen und in Zukunft auch darauf zielen, hohe Ablösesummen zu erzielen. Zu viele Spieler haben den Verein in den letzten Jahren ablösefrei oder gegen eine zu geringe Entschädigung verlassen. Die Abgänge von Thiago Alcântara, David Alaba, Jérôme Boateng und nun Niklas Süle haben dem Klub viel Qualität entzogen. Gerade der Abgang Süles schmerzt. Auf der Höhe seines Schaffens hat er sich für eine neue Aufgabe entschieden. Er soll ein Baustein für den wiederholten BVB-Neuanfang sein. Der Innenverteidiger der Nationalmannschaft wird dabei Teil einer runderneuerten Dortmunder Mannschaft sein. Erneut setzt man am Borsigplatz auf eine Welle von deutschen Nationalspielern: neben Süle sollen auch Freiburgs Nico Schlotterbeck und der Salzburger Karim Adeyemi kurz vor einem Transfer in Richtung Dortmund stehen.
Beide Klubs brauchen Stimmungsaufheller
Schon einmal hatte der BVB auf eine Erneuerung aus dem Kreis der Adlerträger gesetzt. Mit Nico Schulz, Emre Can und Julian Brandt jedoch wurde nur Mittelmaß und Wankelmütigkeit verpflichtet. Etwas, was auch an der Bilanz von Zorc nagt, der die sportstrategischen Geschicke des Vereins ab Sommer in die Hände des ehemaligen Kapitäns Sebastian Kehl legen wird. Trotzdem haben Zorc und Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke den Klub im letzten Jahrzehnt stabilisiert und die Erfolge des Übertrainers Jürgen Klopp in langfristige nationale Dominanz übersetzt. Nur an die Bayern reichen sie nicht ran. Egal, ob der Trainer Tuchel, Peter Bosz, Peter Stöger, Lucien Favre, Edin Terzic oder Marco Rose heißt.
"Wir haben im letzten Geschäftsjahr 285 Millionen Euro weniger Umsatz gemacht als der FC Bayern. Dieser Unterschied führt dazu, dass sich die Bayern, was die Gehälter angeht, circa zehn Gnabrys mehr leisten können als wir", sagte Zorc in dieser Woche in einem Interview mit Funke. "Für den zweiten Platz klopft dir keiner mehr auf dem Westenhellweg in Dortmund auf die Schulter", sagte Zorc: "Diese Stimmung ist eine Gefahr für den Klub und seine 800 Mitarbeiter. Wir müssen davon wegkommen, dass man als gescheitert gilt, wenn man nicht Meister wird. Letzteres wird der Normalfall sein, und wir müssen dennoch die Möglichkeit haben, Zufriedenheit zu erreichen."
In München erwartet den BVB heute nun also einen Stimmungstest. Die ersatzgeschwächten Gäste wollen nicht nur bei der Meisterfeier der Bayern Spalier stehen und daraus Selbstvertrauen für die neue Saison schöpfen. Die Bayern auf den anderen Seiten können mit einem Sieg gegen die am Boden liegende Stimmung nach dem Aus in der Champions League ankämpfen. Der Gewinn der Deutschen Meisterschaft, zumal gegen den direkten Rivalen, könnte die Bilanz der Saison ein wenig aufhellen.
Quelle: ntv.de