Lewandowski fehlt, Fans wüten Die fatalen Fehleinschätzungen des FC Bayern
20.04.2023, 05:30 Uhr
Oliver Kahn schaute grimmig drein beim Aus seines FC Bayern gegen Manchester City.
(Foto: IMAGO/Chai v.d. Laage)
Manchester City kegelt den FC Bayern aus der Champions League. Die Offensive von Thomas Tuchel versagt wieder so eklatant, dass Robert Lewandowski vermisst wird - und die Fans knüpfen sich die Münchner Bosse vor. Das Aus der Bayern fundiert auf gravierenden Fehlern.
Das Problem ist, dass man sie nicht planen kann. Diese Wunder. Sie machen einfach, was, wie und wann sie wollen. "Herbeireden" kann man sie ebenso wenig, wie Thomas Tuchel am Dienstag auf der Pressekonferenz richtig feststellt. Da muss schon der Fußball-Gott oder eine andere übernatürliche Macht Hand anlegen, nicht lediglich der Trainer des FC Bayern München.
Und so bleibt dem deutschen Rekordmeister vor dem Viertelfinal-Rückspiel in der Champions League hauptsächlich Hoffnung. Weil, da war ja mal was. Manchester und Bayern - mehr Wunder geht im Profifußball eigentlich kaum. Nur war es damals, 1999, United und nicht City. Und die zwei Siegtore für die Red Devils in der Nachspielzeit im Finale der Champions League war für die Münchner ein Albtraum - quasi ein blaues Wunder - statt positivem Zauber.
Tatsächlich ereignet sich an diesem Mittwochabend in der Allianz Arena in einem äußerst hitzigen Spiel sogar Sagenhaftes. Die Partie ist keine normale, sie bietet Spektakel, Drama und Erregtheit. Nur eben kein Wunder. Der FC Bayern scheidet mit dem 1:1 (0:0) wie erwartet gegen Manchester City aus der Champions League aus - weil sich der Klub gleich eine Reihe von Fehleinschätzungen leistet.
Bayern zu schwach und City zu stark
Doch von Anfang an: Selbst aus Bayern-Kreisen heißt es vor der Partie, dass intern kaum jemand wirklich an das Wunder glaubt. Schließlich haben die Münchner in ihrer 60-jährigen Europapokalgeschichte einen Rückstand von drei Toren im Rückspiel nie drehen können. Auch die Form spricht klar gegen ein Wundern: Bayern zu schwach und City zu stark. Die Skyblues reisen mit zehn Siegen in Serie nach Deutschland. Außerdem haben sie in der Champions League nur eins von ihren 20 letzten Spielen gegen deutsche Mannschaften verloren.
Vor dem lautstarken Publikum sind die Bayern direkt bemüht, Druck zu machen, aber zunächst passiert nicht viel. Kult-Kommentator Marcel Reif schält in Minute fünf am Nachbartisch gemächlich eine Banane. Das sagt alles zu den Erwartungen. "Wir woll'n Bayern siegen sehen", singen die Fans. Immerhin. Nach ein paar gefährlichen Läufen von Kingsley Coman über rechts, wird der Rekordmeister immer stärker. Und in der 17. Minute bietet sich die riesige Chance auf den Dosenöffner.
Jamal Musiala schickt Leroy Sané mit einem feinen Steckpass. Der Zehner läuft allein aufs Tor von City zu - schießt aber knapp an Keeper Ederson und am rechten Pfosten vorbei. Das war stark gespielt. Manch einer in der Allianz Arena mag auf einmal doch an das Wunder glauben. Aber das war auch wieder eine dieser leichtfertig vergebenen Chancen. Spoiler Alert: Es soll bei Weitem nicht die letzte an diesem Abend sein.
Das Problem mit dem Sturm
Damit zur Fehleinschätzung I: Der FC Bayern braucht Tore. Das ist schon klar vor dem Kracher in der Champions League. Viele Tore. Drei mindestens. Und das ist ein Problem für den FC Bayern. Denn die Offensive stottert jüngst ungemein. Sowohl im Pokal gegen den SC Freiburg als auch im Hinspiel gegen City ließ die Mannschaft beste Möglichkeiten aus. Die Treffer von Robert Lewandowski fehlen an allen Ecken und Enden. Besonders, wenn Stürmer Eric Maxim Choupo-Moting wie zuletzt verletzt ausfällt. Nur will das niemand im Verein so richtig anerkennen.
Die Krux liegt auch im von Hasan Salihamidžić zusammengestellten Kader, in dem kein Mittelstürmer auf Weltklasse-Niveau nachgekauft wurde nach Lewandowskis Abgang. Zunächst spricht der Sportvorstand nicht mit den TV-Teams, in der Mixed-Zone schließlich aber doch. "Den Kader haben wir ja alle zusammen geplant, auch das alte Trainerteam", sagt er und weicht leicht angefasst auf die Frage nach einer Nummer 9 von Weltformat aus: "Wir haben acht Offensivspieler, die Weltklasse sind, für vier Positionen." Anschließend fügt er aber an: "Im Sommer werden wir daran arbeiten."
Dieses spezielle Sturm-Gespenst spukt allerdings schon länger in München, die Bayern kennen es selbst aus der Zeit mit Ex-Weltfußballer Lewandowski: Fiel der Pole mal aus, war kein adäquater Backup vorhanden. Jetzt ist ein Choupo-Moting nicht genug, um auf dem absoluten Elite-Niveau mithalten zu können. Besonders, wenn man bedenkt, dass der klassische Mittelstürmer in den vergangenen Jahren ein Revival feierte und nicht erst heute, etwa dank Karim Benzema, als Garant für die großen Titel gilt. Der Transfer von Sadio Mané, für den Salihamidžić in den Himmel gelobt wurde, entpuppte sich als Flop. Der ehemalige Liverpooler soll möglicherweise im Sommer wieder abgegeben werden, der "Kicker" bezeichnete ihn gar als "Showtransfer".
Trotzdem sagt Vorstandschef Oliver Kahn am Rande der Partie bei DAZN, dass er "immer noch überzeugt von diesem Kader" sei. Trotz dem fehlenden Lewandowski-Ersatz will er nichts von einer verfehlten Kaderplanung wissen. Auch Salihamidžić hatte dieser Tage noch erklärt: "Wir haben Spieler, wenn die ein anderes Level haben und in Topform kommen, wissen wir, wie viele Tore sie machen können." Doch den Abschluss und die Coolness vor dem Kasten eines Lewandowskis hat keiner von ihnen.
Ein erster Jubelschrei im Stadion
Präsident Herbert Hainer reagiert nach dem Ausscheiden gegen Manchester deshalb in den Katakomben schon deutlicher: "Es war offensichtlich, dass wir derzeit zu wenig Tore machen. Dass wir nicht den Stürmer haben, der die Dinger vorne reinhaut." Hainer erklärt, sein Klub sei finanziell gut aufgestellt und kündigt prompt eine Neuverpflichtung im Sturm an: "Gehen Sie davon aus, dass wir die Mannschaft so verstärken, dass wir wieder um die Champions League mitspielen können."
Zurück zum Wunder. Zum nicht eintreten wollenden. Für drei Treffer benötigte der deutsche Rekordmeister zuletzt die vergangenen vier Spiele. Die Schützen waren allesamt Abwehrspieler. Auch heute will das Runde einfach nicht ins Eckige. Nach einer wegen Abseits zurückgenommenen Roten Karte für Dayot Upamecano zirkelt Sané in der 21. Minute einen Freistoß frech auf den ersten Pfosten, aber Ederson hält. Drei Minuten später setzt Musiala Coman auf links in Szene, der Flügelflitzer gibt auf rechts, wo Sané schießen könnte, aber zu lange zögert. Seine Ablage jagt Leon Goretzka in die Wolken. Da war weitaus mehr drin und in so einem wichtigen Spiel muss das cleverer ausgespielt werden. Konter nach abgefangenen Bällen enden immer wieder zu ungenau. Und natürlich: ohne Tor.
Da muss wohl das personifizierte Tormonster Erling Haaland (auch ihn konnten die Bayern im vergangenen Sommer nicht verpflichten) ran und zeigen, wie sowas geht. Aber nichts da, der Offensiv-Fluch greift selbst auf den Norweger über: Nach einem hauchzarten Handspiel von Upamecano gibt es in der 35. Minute Elfmeter, aber Haaland jagt den Ball weit über die Latte. Ein erster Jubelschrei im Stadion! Kurz darauf muss sich aber erneut der FC Bayern ärgern, dass er nicht 1:0 führt. Nach einem tollen Trick bei der Ballannahme verschafft sich Coman viel Raum im Mittelfeld und stürmt auf die Abwehr zu. Seinen Pass nimmt Musiala zu unsauber an, weil er ausrutscht. Der Youngster kann trotzdem noch in die Mitte geben, wo zunächst Choupo-Moting per Hacke scheitert und dann Coman mit einem Rechtsschuss. Marcel Reif am Nachbartisch rauft sich die Haare.
Fußball ist ein Ergebnissport
Damit zur Fehleinschätzung II: "Es war insgesamt eine starke Leistung, insbesondere in der ersten Halbzeit", sagt Kahn nach der Partie in der Mixed Zone. "Man kann der Mannschaft keinen Vorwurf machen." Salihamidžić sieht ein "sehr gutes Spiel". Und Trainer Thomas Tuchel meint bei DAZN: "City ist derzeit das Maß aller Dinge, aber wir hatten sie wieder am Haken." Er sei "sehr zufrieden" mit seinem Team. Doch sie liegen falsch. Erzielt eine Mannschaft in zwei K.o.-Spielen nur ein Tor und kassiert vier, ist das keine gute Leistung. Denn Fußball ist ein Ergebnissport - in der heißen Phase der Königsklasse mehr denn je.
"Tormöglichkeiten reichen ja aber nicht, man braucht auch Tore, um weiterzukommen", hakt DAZN-Moderatorin Laura Wontorra richtigerweise nach. "Ja ok, dann brauchen Sie auch nicht mich, um zu analysieren", reagiert Tuchel darauf ein wenig patzig. "Das ist nichts Neues." Seine anschließende Analyse ist zu billig anhand der vielen Fehler der Bayern vorne wie hinten: "Zwei konnten das Niveau nicht halten - das waren der Platz und der Schiedsrichter. Ansonsten war es top."
In der zweiten Hälfte fallen - doch noch ein kleines Wunder - dann schließlich sogar Tore. Erst kontert City die Bayern eiskalt aus (57.). Nach einem starken Dribbling von Coman verpasst Choupo-Moting die Kugel 30 Zentimeter vor der Torlinie. Den direkten Gegenzug spielt Kevin De Bruyne perfekt aus. Seinen genauen Pass in den Lauf vollendet Haaland eiskalt vor Yann Sommer. Besonders bitter: Upamecano will zuvor noch dazwischen gehen, aber rutscht aus. Wieder macht der Verteidiger keine gute Figur. Game Over. 25 Minuten später darf Joshua Kimmich mit dem nächsten Handelfmeter den Ehrentreffer erzielen. Dann ist Schluss. Marcel Reif hat da schon seinen Platz verlassen.
"Helden von einst, Pfeifen von heute"
Zeit für Fehleinschätzung III. Darauf machen die Fans aufmerksam. Schon im Spiel hatten Zuschauer ein Plakat aufgehangen mit den Worten "Brazzo (Spitzname von Salihamidžić; d. Red.) + Kahn: Helden von einst, Pfeifen von heute". Zum Schlusspfiff gesellt sich ein riesiges Banner vor der Münchner Kurve dazu: "Ziele dürfen verfehlt werden - Werte des Vereins nicht! Führungspolitik hinterfragen!" Die Fans fühlen sich mehr und mehr von den Verantwortlichen vorgeführt. Ständig werden Bayern-Werte gepredigt, in den Handlungen des Klubs kommen sie immer wieder zu kurz: der riskante Trainerwechsel zur Unzeit etwa (unmittelbar vor der entscheidenden Saisonphase), oder aber auch die Millionen-Deals mit Katar.
Es brodelt in der Anhängerschaft, die Bayern-Verantwortlichen haben das unterschätzt. "Gehen Sie davon aus, dass wir uns ständig hinterfragen", sagt Kahn zu den Plakaten. "Wir werden nach der Saison alles analysieren." Plattitüden statt klarer Worte. Das wird die Fans nicht glücklich machen. Das ausbleibende Wunder in der Champions League samt des dritten Ausscheidens im Viertelfinale in Serie tut sein Übriges. Und ein neuer Robert Lewandowski ist auch nicht in Sicht.
Quelle: ntv.de