Fußball

Ein Jahr Superstar-Saudi-Liga Selbst der Fußball entkommt "Manifest der Repression" nicht

Posen im Nichts: Wenn Cristiano Ronaldo in Saudi-Arabien jubelt, schauen oftmals nicht viele zu.

Posen im Nichts: Wenn Cristiano Ronaldo in Saudi-Arabien jubelt, schauen oftmals nicht viele zu.

(Foto: IMAGO/MB Media Solutions)

Unterdrückung, Inhaftierung, leere Stadien: Die Saudi Pro League hat nach einem Jahr voller Superstars nicht nur viel Arbeit vor sich, wenn am Abend die Saison endet. Die Herrscher im Golf-Königreich nehmen Fußballfans fest und lassen Böses ahnen für die WM 2034.

"Das gesamte System in Saudi-Arabien ist zu einem reinen Polizeistaat geworden". Mit diesen Worten fasst die bekannte saudische Menschenrechtsaktivistin Lina Al-Hathloul während der Konferenz "Play the Game 2024" in Norwegen die Situation im Golf-Königreich zusammen. Trotz angeblicher Liberalisierung und neu gewonnener gesellschaftlicher Freiheiten sind saudische Bürgerinnen und Bürger einer zunehmenden Verfolgung, harschen Gesetzen und Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt.

Und wenn am heutigen Abend die Saison Saudi Pro League endet, die erste gespickt mit internationalen Superstars wie Cristiano Ronaldo, Karim Benzema oder Neymar, wird deutlich: Der Sport wird genutzt, um ein System der Gewalt zu verschleiern und der Fußball selbst ist von der repressiven Politik der Herrscher nicht ausgenommen.

Im Januar verhafteten saudische Behörden mindestens 10 Fußballfans vom Erstligisten Al-Safa FC und laden 150 weitere zum Verhör vor. Der Grund: Sie riefen und sangen während eines Spiels gegen den Al Bukayriyah FC in der Stadt Safwa in der mehrheitlich schiitischen Ostprovinz des Königreichs schiitische muslimische Slogans und Lieder. Die Behörden erklärten, die Gesänge der Fans seien "sektiererisch".

Fünf Jahre Haft für falsche Gesänge?

Bei einer Verurteilung drohen den Fans bis zu fünf Jahre Gefängnis, teilt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International mit. Das saudische Sportministerium löste den Vorstand von Al-Safa unmittelbar nach dem Vorfall auf, weil er sich nicht an die Gesetze und Vorschriften des Königreichs gehalten habe, gab die Information aber ausschließlich auf dem arabischen Teil seiner Website bekannt.

Ferner verurteilte die Disziplinar- und Ethikkommission des saudischen Fußballverbands Al-Safa zur Zahlung einer Geldstrafe in Höhe von 53.300 US-Dollar. Außerdem wurde den Fans des Klubs untersagt, die nächsten fünf Ligaspiele des Teams zu besuchen. In den sozialen Medien veröffentlichte Aufnahmen des Vorfalls zeigten laut Experten, wie die Menge bekannte religiöse schiitische Lieder skandierte, die nichts Sektiererisches oder Gewalttätiges enthalten.

Saudi-Arabien betrachtet die Schiiten seit Langem als religiöse Ketzer, die schiitische Minderheit ist zu Bürgern zweiter Klasse degradiert worden und die saudischen Behörden schränken ihre Möglichkeiten zur Ausübung ihrer Religion ein. "Saudi-Arabien bewirbt sich für die Fußball-WM 2034, und im März haben die Behörden zwölf Fußballfans inhaftiert, nur weil sie bei einem Fußballspiel im Januar einen volkstümlichen Gesang angestimmt haben zum Gedenken an eine von schiitischen Muslimen verehrten Figur und ein Video davon in den sozialen Medien veröffentlicht haben", kritisiert Ellen Wesemüller, Sprecherin der Menschenrechtsorganisation Amnesty International Deutschland, die Aktion der saudischen Behörden gegenüber ntv.de.

Sonst macht sich die FIFA "mitschuldig"

Die Festnahmen erzählen einerseits eine Geschichte der verstärkten Unterdrückung von Menschen- und Minderheitenrechten sowie der Religionsfreiheit im Golf-Königreich. Andererseits verdeutlicht der Fall die ernsten Risiken, denen Fußballfans bei einer WM in Saudi-Arabien ausgesetzt wären, da sie aufgrund vager und missbräuchlicher strafrechtlicher Vorschriften kriminalisiert werden können, nur weil sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen. Die beunruhigende Realität ist, dass in Saudi-Arabien kein Bereich der Gesellschaft, nicht einmal die Welt des Fußballs, vor der Unterdrückung durch die Herrscher geschützt ist.

"In einer Zeit, in der die saudischen Behörden Milliarden für Sportwashing ausgeben und ihr Image weltweit aufpolieren, ist die Verhaftung dieser Fußballfans das jüngste Beispiel für ihr massives Vorgehen gegen die Meinungsfreiheit", sagte Heba Morayef, Direktorin von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika. "Saudische Behörden versuchen, den Spitzensport zu nutzen, um von ihrer katastrophalen Menschenrechtsbilanz abzulenken und sich mit Sportswashing reinzuwaschen", erklärt Wesemüller.

Das größte Sportswashing-Ziel der Saudis lautet: Fußball-Weltmeisterschaft. Auch wenn die WM offiziell erst Ende des Jahres vergeben wird, das Königreich hat das Turnier quasi eingetütet und in FIFA-Boss Gianni Infantino seinen größten Fan an der Seite. Deshalb müssten "dringend Maßnahmen ergriffen werden, um die grausame Menschenrechtslage in dem Land zu verbessern", sagt Wesemüller: "Amnesty International fordert die FIFA auf, verbindliche Vereinbarungen mit Saudi-Arabien zu treffen, um die Menschen vor Ausbeutung, Diskriminierung und Unterdrückung zu schützen, bevor sie die Zusage zur Ausrichtung des Turniers vergibt - denn danach ist es bekanntlich ungleich schwerer, das Gastgeberland zu etwas zu bewegen." Wenn dies nicht geschehe, so die Expertin, mache die FIFA sich "mitschuldig".

Strafgesetzbuch als "Manifest der Repression"

Dabei rückt wie bei der WM 2022 in Katar das Thema der Arbeiter in den Fokus. Die saudischen Behörden wenden weiterhin das missbräuchliche Kafala-System für Arbeitsmigrantinnen und -migranten an. Trotz jüngster Reformen ist das Kafala-System nach wie vor der Grund dafür, dass die Arbeitnehmer für Missbräuche, einschließlich Zwangsarbeit, anfällig sind.

Passenderweise arbeitet Saudi-Arabien derzeit zum ersten Mal ein schriftliches Strafgesetzbuch aus, das Wesemüller von Amnesty ein "Manifest der Repression" nennt. Ein Entwurf war durchgesickert, der "in keiner Weise den universellen Menschenrechtsstandards" entspräche. Wesemüller sieht es zwar positiv, dass es bald ein Strafgesetzbuch gebe und damit die Menschen vor Ort nicht mehr den oft willkürlichen und ungerechten "Einzelentscheidungen der Richter ausgeliefert" wären.

Der Entwurf jedoch "entlarvt die Heuchelei hinter den Versprechungen von Kronprinz Mohammed bin Salman, seine Regierung als fortschrittlich und integrativ darzustellen", sagt Wesemüller. Eine Analyse habe ergeben, dass das neue Strafgesetzbuch in der aktuellen Form "gegen internationales Recht verstößt und bestehende repressive Praktiken in schriftlichem Recht festschreibt". So kriminalisiere der Entwurf das Recht auf Meinungs-, Gedanken- und Religionsfreiheit, baue auf die Todesstrafe und lasse weiterhin das Auspeitschen zu. "Er kriminalisiert auch 'uneheliche' einvernehmliche sexuelle Beziehungen, Homosexualität und Abtreibung und schützt Frauen und Mädchen nicht vor geschlechtsspezifischer Gewalt", sagt die Expertin.

Hype um Saudi-Liga verblasst

Das derzeitig größte Sportswashing-Projekt im Land - und Teil der Version 2030 von Mohammed bin Salman, Kronprinz und faktischer Herrscher des Landes - ist die nationale Fußball-Liga. Die Saudi Pro League. Gesponsort vom staatlichen, Öl-finanzierten und prall gefüllten Public Investment Fund (um die 600 Milliarden Euro), soll die Liga im Weltfußball mit den Größten konkurrieren, mit der Bundesliga und der englischen Premier League etwa, um dem eurozentrischen Fußball-System einen Strich durch die Rechnung zu machen.

Doch der Schwung und die globale Aufmerksamkeit des vergangenen Sommers, als eine Armada (für knapp 900 Millionen Euro) von Top-Spielern und denen, die es mal waren, sich auf den Weg in die Wüste machte, ist erstmal verschwunden. Ein Hype hat sich nicht manifestiert. Obwohl im vergangenen Jahr Superstars wie Ronaldo, Neymar und Benzema mit Pyro-Shows vorgestellt wurden, bietet die neu gestaltete saudische Liga seither nur wenig Feuerwerk. Wenig Zuschauer und späte Anstoßzeiten machten auch den Stars zu schaffen.

Manch einer, wie der ehemalige Liverpool-Kapitän Jordan Henderson flüchtete schon nach wenigen Monaten zurück gen Europa. Im europäischen Raum sorgten nur Eklats aus der Liga für Aufmerksamkeit, etwa wenn Ronaldo des Feldes verwiesen wurde oder sich in die Weichteile griff, oder als ein Zuschauer eine Peitsche zum Spiel brachte und damit einen Spieler schlug. Dennoch: Mit Mohamed Salah vom FC Liverpool soll der nächste Mega-Transfer schon bald eingetütet werden.

WM 2034 nicht mehr zu nehmen

Wenn die Saison am heutigen Abend endet, steht der Meister längst fest. Al-Hilal holte sich drei Spiele vor Schluss den vierten Titel in fünf Jahre - auch ohne den seit Oktober verletzten Neymar. Die Kluft zwischen den vier Vereinen, die seit dem vergangenen Jahr unter der Herrschaft des PIF stehen, und den übrigen Vereinen ist groß. Al-Hilal, Ronaldos Al-Nassr, Benzemas Al-Ittihad und Al-Ahli belegen vier der ersten fünf Plätze in der Tabelle. Wenn der Wettbewerb quasi ausgeschaltet ist, stirbt die Spannung.

Simon Chadwick, Professor für Sport und geopolitische Ökonomie an der französischen SKEMA Business School, erklärte jüngst gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP: "Der saudi-arabische Fußball muss sich an die Tatsache gewöhnen, dass Geld und Spieler allein nicht ausreichen, um dauerhaften Erfolg zu garantieren." Der Saudi-Fußball sei in dieser Spielzeit "immer mehr unter dem Radar verschwunden", so Chadwick weiter und er habe "noch eine Menge Arbeit vor sich".

Aber der Blick der Herrscher aus Riad geht ohnehin schon in Richtung WM 2034. Die weltgrößte Bühne wird Saudi-Arabien niemand mehr nehmen können. Auf dem Weg dorthin werden nicht nur Fußballfans inhaftiert.

Quelle: ntv.de

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