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Die ungarischen Fußballer stellen die deutsche Nationalmannschaft vor die Aufgabe, die Bundestrainer Hansi Flick erwartet hat. Trotzdem findet die DFB-Elf keine Lösung. Zwei Monate vor der Weltmeisterschaft zeigt die Nations-League-Partie auf, welches Problem vor allem offensiv besteht.
Was ist in der Arena im einstigen Leipziger Zentralstadion passiert?
Das letzte Heimspiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft vor der Weltmeisterschaft. Ja, Ende September und nicht wie sonst irgendwann Anfang Juni. Die Winter-WM in Katar überschattet die beiden Nations-League-Auftritte gegen Ungarn an diesem Freitagabend in Leipzig und am Montag in London gegen England. Besonders in diesem Wettbewerb, dessen sportlicher Wert selbst in der interessierten Öffentlichkeit die Schwelle der Bedeutungslosigkeit gerade so übersteigt. Oder hätten Sie noch gewusst, dass das Finalturnier im Oktober 2021 in Mailand und Turin mit den Auswahlen Italiens, Spaniens, Belgiens und Frankreichs ausgespielt wurde? Eben.
Stattdessen bemüht sich der Deutsche Fußball-Bund, seine vorsichtige Kritik an den Zuständen in Katar glaubhaft zu formulieren, vor dem Anpfiff gegen Ungarn etwa mit einer neuen Kapitänsbinde. Die zeigt zwar die Farben des Regenbogens und soll für den wenig greifbaren Slogan "One Love" stehen - die Reaktion darauf war jedoch eher verwundert als anerkennend, auch wenn insgesamt zehn europäische Verbände sich darin vereinen. Warum denn nicht die international anerkannte und vor allem weltweit eindeutig zu interpretierende Regenbogenflagge genutzt worden sei, wollte ZDF-Moderator Jochen Breyer von DFB-Präsident Bernd Neuendorf wissen.
"Weil dieses Zeichen darüber hinausgeht", antwortete Neuendorf, ehe er leicht floskelhaft aufzählte, warum die Streifen in Orange, Schwarz, Grün, Pink, Gelb und Blau die bessere Wahl seien. Diese stünden "insgesamt für das, wofür auch der DFB steht" - nur bringt das vermutlich wenig, wenn kaum jemand diese Farbkombination kennt. Wobei Neuendorf zugute zu halten ist, dass er gerade ein halbes Jahr im Amt ist und für den viel zu oft in Menschenrechtsfragen stummen Verband zumindest sagte, dieser würde "überlegen, ob weitere Aktionen möglich sind". Wobei es vermutlich am meisten sagt, dass diese vagen Worte schon eine Verbesserung darstellen.
So war es am und im Stadion
Stephan Uersfeld reportiert aus Leipzig: Die fliegenden Händler brachten auf den Straßen Dosenbier und Deutschlandschals an die Anreisenden. Auf dem Festplatz vor dem Stadion hatte der "Fan Club Nationalmannschaft" seinen Bus vorgefahren. Mitarbeiter verteilten Deutschland-Fahnen an Menschen in Deutschland-Jacken und in der Leipziger Arena wurden weit vor Anpfiff letzte Vorbereitungen für eine Choreo zu Ehren des im Sommer verstorbenen Uwe Seeler getroffen.
Ein wenig überrascht waren hingegen die Ungarn. Sie sangen und tranken sich in der Stadt warm und sahen dort plötzlich die "Fridays For Future"-Demo an sich vorbeiziehen. Sie tranken weiter Bier und sahen sich im Stadion noch mit der einen oder anderen Regenbogenfahne konfrontiert. Die Regenbogenfahnen verdeckten immerhin die berühmten Bullen des Konzerns, der den Profifußball zurück nach Leipzig brachte.
Auch Viktor Orban, der Ministerpräsident Ungarns, hatte es sich nehmen lassen, nach Leipzig zu reisen. Seine Regierung hat im vergangenen Jahrzehnt mehr als zwei Milliarden Euro Staatsgeld in die Entwicklungen des ungarischen Fußballs gesteckt. Die Kultur wurde dabei vergessen. Die berüchtigte "Carpathians Brigade" war an diesem Abend nur ein schwarzer Block.
Der klatschte, als auf den Stadionleinwänden das Leben von Uwe Seeler noch einmal vorbeizog. Seeler traf mit dem Hinterkopf, er lachte als alter Mann und schüttelte Queen Elizabeth II die Hand. Beide leben nicht mehr. Im Stadion wurde Seeler mit Schweigeminute gedacht. Am Ende rief das Stadion "Uwe, Uwe, Uwe" und dann ging das Spiel los. Nach 12 Minuten rief das Stadion "Auf geht's Deutschland, schieß ein Tor", Antonio Rüdiger köpfte eine Flanke weg. Beim Stand von 1:0 für die Ungarn flogen gegen Ende der ersten Halbzeit einige Choreo-Schnipsel aufs Feld. Die Ungarn fühlten sich bei einer Ecke sich gestört, das Spiel wurde kurz unterbrochen. Der Stadionsprecher beließ es bei einer Ermahnung, die ungarischen Fans johlten vor Freude. Es ging nicht um sie.
Teams und Tore
Deutschland: ter Stegen/Barcelona (30 Jahre/29 Länderspiele) - Hofmann/Gladbach (30/15), Süle/Dortmund (27/41), Rüdiger/Real Madrid (29/54), Raum/Leipzig (24/10) - Kimmich/FC Bayern (27/69), Gündoğan/Manchester City (31/61) ab 69. Musiala/FC Bayern (19/16) - Gnabry/FC Bayern (27/35) ab 46. Kehrer/West Ham (26/21), Müller/FC Bayern (33/117) ab 86. Lukas Nmecha/Wolfsburg (23/7), Sané/FC Bayern (26/46) - Werner/Leipzig (26/54) ab 69. Havertz/Chelsea (23/29). - Trainer: Flick
Ungarn: Gulacsi/Leipzig (32 Jahre/50 Länderspiele) - Lang/Nikosia (29/52), Orban/Leipzig (29/34), Attila Szalai/Fenerbahçe (24/28) - Fiola/Fehervar (32/49), Nagy/Pisa (27/64) ab 78. Styles/Millwall (22/7), Schäfer/Union Berlin (23/21), Kerkez/Alkmaar (18/1) - Gazdag/Philadelphia (26/16) ab 67. Kleinheisler/Osijek (28/43), Szoboszlai/Leipzig (21/25) ab 86. Nego/Fehervar (31/25) - Adam Szalai/Basel (34/85) ab 67. Adam/Ulsan (27/7). - Trainer: Rossi
Schiedsrichter: Slavko Vincic (Slowenien)
Tor: 0:1 Adam Szalai (17.)
Zuschauer: 39.513 (ausverkauft in Leipzig)
Gelbe Karten: Kimmich, Rüdiger - Adam Szalai
Die Neuauflage des WM-Finals von 1954 im Spielfilm
Vor Anpfiff: Eine Schweigeminute für "Uns Uwe", für den unverwechselbaren Uwe Seeler, den am 21. Juli verstorbenen Ehrenspielführer der deutschen Nationalmannschaft. Wobei aus dem Schweigen schnell Applaus wird, um die Lebensleistung des 85-Jährigen zu würdigen, dessen Bodenständigkeit dem modernen Fußball nahezu vollständig abgeht.
17. Minute, TOOOOR FÜR UNGARN: Der Tabellenführer geht mit einem Traumtor in Führung. Eine Ecke von Dominik Szoboszlai findet am kurzen Pfosten Adam Szalai, der mit diesem Zuspiel Großartiges anzufangen weiß. Mit der rechten Hacke ist der Kapitän der Ungarn vor Thomas Müller, dem deutschen Kapitän, am Ball - und streichelt ihn wunderschön ins lange Eck. Marc-André ter Stegen ist machtlos.
25. Minute: Das 0:2 ist näher als das 1:1. Bei einem Freistoß nahe der Mittellinie schläft die deutsche Abwehr, Attila Fiola legt im Strafraum quer und plötzlich muss ter Stegen in höchster Not am Fünfmeterraum gegen Daniel Gazdag retten. Vermutlich war es vorher zwar Abseits, besser macht das die Unaufmerksamkeit aber nicht. Die DFB-Elf ist bisher noch ohne Abschluss.
39. Minute: Der erste ernstzunehmende Versuch der deutschen Mannschaft, selbst ein Tor zu schießen. Thomas Müller steigt aus kurzer Distanz in den Leipziger Abendhimmel auf, köpft eine Flanke von David Raum wuchtig, aber unplatziert. Peter Gulacsi hat wenig Mühe.
Halbzeit: Viel Ballbesitz, kein Ertrag, stattdessen begleiten Pfiffe die DFB-Elf in die Katakomben. Das war offensiv erschreckend einfallslos und defensiv unaufmerksam genug, um durchaus verdient in Rückstand geraten zu sein.
51. Minute: Antonio Rüdiger erobert tief in der eigenen Hälfte den Ball, am Ende diverser Pässe hebt İlkay Gündoğan von halblinks in den Lauf von Leroy Sané. Der Stürmer zieht erst in Richtung Grundlinie und dann ab - doch Gulacsi hält den Versuch aus spitzem Winkel.
53. Minute: Gündoğan chippt über die Abwehr in den abseitigen Lauf von Jonas Hofmann, der seit dem Seitenwechsel nicht mehr deutlich offensiver agiert. Abseitig ist sein Lauf, weil unmittelbar danach die Fahne des Assistenten nach oben schnellt. Der Treffer zählt nicht, aber zumindest wirkt die DFB-Elf jetzt etwas gefährlicher.
57. Minute: Wieder durch die Mitte, schnelle Pässe, diesmal mit Timo Werner als Empfänger. Der kommt auch zum Abschluss, allerdings unplatziert und ohne Druck. Gulacsi wird schon bessere Versuche seines Leipziger Mannschaftskollegen abgewehrt haben und hat mit diesem so gar keine Mühe.
60. Minute: Die nächste Annäherung an den Ausgleich, diesmal aus der Distanz von Joshua Kimmich. Knapp am linken Pfosten streicht der Schuss vorbei, das wackelnde Außennetz löst einen Moment der Verwirrung aus, weil der Ball scheinbar im Tor gelandet ist.
72. Minute: Beim Gegentor kann ter Stegen nicht viel ausrichten, bei einem ungarischen Konter erfüllt er jetzt seine Aufgabe und verhindert das 0:2. Über links rollt der Angriff aufs deutsche Tor zu, Martin Adam kommt bis in den Strafraum, seinen Schuss aber wehrt ter Stegen ohne große Mühe souverän ab.
86. Minute: Kleinheisler überläuft den eingewechselten Thilo Kehrer, und zum Glück steht im deutschen Tor Marc-André ter Stegen. Dessen Präsenz verunsichert Kleinheisler offenbar, zumindest verpufft die Chance zur Entscheidung.
87. Minute: Kimmich versucht es nochmal aus dem Rückraum, diesmal zentrale Position, aber wieder streicht sein Schuss am Tor vorbei.
90+5. Minute: Das war's. Ungarn gewinnt in Leipzig und, ehrlich gesagt, gar nicht mal unverdient.
Den ausführlichen Spielbericht finden Sie hier.
Gab es denn etwas Positives in der Niederlage?
Wenig, zumindest auf deutscher Seite. Sicher, bis zur Weltmeisterschaft sind es noch knapp acht Wochen, aber ein Mutmacher sieht anders aus. Nach drei 1:1-Unentschieden zum Nations-League-Start und dem berauschenden 5:2 gegen Italien muss Hansi Flick in seinem 14. Länderspiel als Bundestrainer erstmals eine Niederlage nachbereiten. Marc-André ter Stegen beweist zwar mit guten Reflexen, dass Deutschland auf der Torhüterposition ein Luxusproblem hat, auf vielen anderen Positionen sieht es aktuell deutlich schlechter aus.
Ungarn dagegen spielt genauso, wie es Trainer Marco Rossi sich vorgestellt haben dürfte. Der Italiener in rot-weiß-grünen Diensten "hat es geschafft, eine Mannschaft hinzustellen, die dem Gegner kaum Raum lässt", hatte Flick im Vorfeld der Partie gesagt - und dennoch wirkte seine Mannschaft damit überfordert, gegen diese gut organisierte Defensive ein Durchkommen zu finden. Im Umkehrschluss war es also ein starker Auftritt der Ungarn, gekrönt von einem herausragenden Treffer von Adam Szalai.
Was war schlecht?
Die deutsche Offensive. Von den Außen kommen keine Impulse, sinnbildlich dafür ist ein Dribbling von Serge Gnabry früh in der ersten Hälfte. Freigespielt auf dem rechten Flügel misslingt ihm die augenscheinlich gar nicht so komplizierte Ballannahme und beendet den Angriff vorzeitig. Thomas Müller sagt anschließend am ZDF-Mikrofon, dass viele Profis der DFB-Elf in ihren Vereinen gerade schwierige Phase durchleben würden. Allen voran natürlich die Münchner Achse - Kimmich, Müller, Gnabry, Sané -, die auch im neuen Heimtrikot der deutschen Auswahl die Formkrise beim Rekordmeister nicht abschütteln können.
Vor allem die erste Halbzeit ist eine Offenbarung im schlechtestmöglichen Sinne. Denn die deutsche Not im vor dem gegnerischen Tor offenbart sich vor allem darin, dass schlicht ein solcher Typ fehlt, der sich als Abschluss- und Zielspieler beschreiben lässt. Einer vom Typ Miroslav Klose, vielleicht auch ein Mario Gomez. Timo Werner bemüht sich zwar redlich, wirklich eingebunden jedoch scheint er in die Angriffsbemühungen kaum einmal. Der für ihn eingewechselte Kai Havertz fällt ebenfalls nicht in diese Kategorie. Lukas Nmecha fehlt die Klasse für die Startelf - und vielleicht beschreibt diese klaffende Lücke am besten, dass die Diskussion für die Besetzung dieser im internationlen Fußball unerlässlichen Position sich mittlerweile bis zu Niclas Füllkrug von Bundesliga-Aufsteiger Werder Bremen ausgedehnt hat.
"Wir haben sehr gute Torhüter, Innenverteidiger, Mittelfeldspieler", hatte Flick in dieser Woche gesagt, dazu "eine große Auswahl an Außenspielern. Aber die Mitte? Da haben wir nicht so eine hohe Qualität." Eine Schlussfolgerung, die sich mit diesem schwachen Auftritt einmal mehr bestätigt hat. Zumal dadurch eben auch dieser Typ Stürmer, der an einem solchen Abend einfach mal eines dieser viel zitierten "Tore aus dem Nichts" erzielt.
Das sagen die Beteiligten
Hansi Flick: "Die Niederlage wirft uns nicht um. Wir wissen jetzt, worum es geht, das hat uns die Augen geöffnet. Wir haben eine sehr schlechte erste Halbzeit gespielt, hatten wenig Mut, haben die Räume nicht besetzt, wie wir es uns vorgenommen haben, waren nicht aktiv. Die zweite Halbzeit war gut, aber wir haben uns nie Chancen erspielt. Besser ärgern wir uns jetzt als bei der WM."
Nochmal Bundestrainer Hansi Flick: "Die Niederlage wirft uns nicht um, wir wissen, worum es geht" und "das hat uns die Augen geöffnet." Seine Mannschaft habe eine "sehr schlechte erste Halbzeit" und "ohne Selbstvertrauen" gespielt. Durch die Niederlage kann Deutschland die Nations-League-Gruppe nicht mehr gewinnen. "Wir haben alles probiert in der zweiten Halbzeit, es hat leider nicht geklappt", sagte Flick zwei Monate vor dem ersten Spiel bei der WM in Katar gegen Japan. "Es ist einfach so, dass solche Spiele auch mal vorkommen - lieber jetzt als dann im November. Die Mannschaft ist wach gemacht worden, und ich glaube, dass tut ihr dann auch gut."
Thomas Müller: "Die erste Halbzeit war wirklich enttäuschend. Wir haben extrem viele Fehler gemacht. Man hat gemerkt, dass bei vielen die Phase im Verein nicht die leichteste ist. Wir haben nicht die Power auf den Platz bekommen. In der zweiten Halbzeit war vieles besser, aber das 1:0 steht jetzt in den Büchern, da müssen wir uns Kritik gefallen lassen. Aber da müssen wir drüber stehen und das Konzept des Trainers weiter verfolgen."
Joshua Kimmich: "Gerade in der ersten Halbzeit haben wir gar nicht stattgefunden und alles vermissen lassen. Wir waren im Passspiel viel zu langsam, haben viel zu viele Fehler gemacht. Der Gruppensieg in der Nations League war das klare Ziel, auch wenn man es in der ersten Halbzeit nicht gemerkt hat."
Jonas Hofmann: "Die erste Halbzeit war einfach richtig scheiße. Wir haben viel verschlafen. In der zweiten waren wir dominant, aber haben wenige hundertprozentige Chancen herausgespielt. Das muss uns eine Lehre sein. Das war in großen Teilen zu wenig. Das nervt, das tut weh, aber die Niederlage haut uns nicht um, wir gehen unseren Weg weiter."
Quelle: ntv.de