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Katastrophe im Gazastreifen Das passiert, wenn ein Mensch verhungert

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Palästinenser am Freitag in Gaza-Stadt.

Palästinenser am Freitag in Gaza-Stadt.

(Foto: picture alliance / Anadolu)

Im Gazastreifen herrscht eine Hungerkrise. Aber was passiert, wenn ein Mensch nichts zu essen bekommt? Ein Arzt beschreibt einen langen Weg aus stechenden Schmerzen, Stimmen im Kopf und Organversagen.

"Seit einem Monat ernähre ich mich von einer Mahlzeit pro Tag. Seit kurzem gibt es nur eine Mahlzeit alle zwei Tage, nicht weil ich mir kein Essen leisten kann, sondern weil es nichts mehr zu kaufen gibt, die Märkte sind leer. Ich versuche, den Schmerz in meinem Magen mit allem zu stillen, was ich finden kann." Das schreibt Mohamed Abu Mughaisib in einem Beitrag für "Ärzte ohne Grenzen".

Der Arzt arbeitet im Gazastreifen für die Hilfsorganisation als stellvertretender medizinischer Koordinator. Und er verhungert. Ganz langsam. Genau wie die Menschen, die er behandelt. Zwei Millionen Menschen in Gaza verlieren ihre Existenz, ihr Leben, ihre Menschlichkeit, ihre Würde, schreibt der Arzt und sagt: "Ich möchte kein Mensch mehr sein."

Es gibt Nahrung im Gazastreifen, berichten Beobachter. Alle paar Tage, für eine Viertelstunde. Dann sind die Transporte aus Israel oder von den Vereinten Nationen leer. Geplündert. Vor den Verteilzentren warten die Menschen Stunden bis Tage, stets bedroht von der israelischen Armee, heißt es. Immer wieder wird auf die wartenden Menschen geschossen.

Mohammed, 20, hungert

Hunger. In Deutschland heutzutage unvorstellbar, für viele Menschen im Gazastreifen bittere Realität. Doch was passiert, wenn ein Mensch verhungert? Stellen wir ihn uns vor. Der Mensch ist mittelgroß, 20 Jahre alt. Nennen wir ihn Mohammed. Ein sportlicher junger Mann, der gerne Fußball spielt. Und der seit 22 Monaten im Krieg lebt.

Verhungern ist ein langsamer und schmerzhafter Prozess, weiß Nicolas Aschoff. Auch er arbeitet für "Ärzte ohne Grenzen". Aktuell ist er in Nigeria im Einsatz. Der Mediziner erklärt: Ein Mensch verhungere in drei Phasen. Zuerst baut der Körper Glykogen ab. Der Körper verbrennt den Speicherzucker Glykogen aus Leber- und Muskelzellen. Davon kann ein erwachsener Mensch etwa einen Tag lang leben. Ein Kind viel kürzer.

Glykogen entsteht so: Wenn wir beim Essen Kohlenhydrate zu uns nehmen, die zum Beispiel in Brot oder Nudeln enthalten sind, werden diese vom Körper in Glukose umgewandelt, also Zucker. Dadurch tankt der Körper Energie. Aber nicht alles wird sofort verbraucht. Was übrig bleibt, speichert der Körper in der Leber und in den Muskeln. Daraus schöpft der Körper Energie, wenn er nichts zu essen hat. Mohammed fühlt sich also in dieser Phase noch ganz gut.

Der Körper ist unterzuckert

"Es folgt die Gluconeogenese unter Ketogenese", sagt Aschoff. Klingt kompliziert, ist es aber eigentlich nicht. Der Körper will weiter Zucker haben. Also baut er Aminosäuren ab. "Das geschieht vornehmlich durch den Abbau von Muskeln", erklärt Aschoff. Mohammed wird langsam schwächer, bekommt beim Laufen weiter Strecken schnell Muskelkater in den Beinen.

Doch auch das Gehirn braucht Zucker. Seine Energie speist den Körper. Damit das funktioniert, verbrennt die Leber Fett und bildet daraus Ketonkörper. Die bilden einen "Ersatztreibstoff" für Muskeln und Gehirn. "Man spricht von kataboler Stoffwechsellage. Ziel ist es, den hohen Energiebedarf des Gehirns decken zu können. Es erfolgt die Umstellung auf einen 'Ketonstoffwechsel'", sagt Aschoff.

"Ein gesunder Erwachsener kann in diesem Zustand bis zu zwei Wochen verharren." Ketonkörper sind also kein Zucker. Ähnlich wie bei einem Auto, das statt mit Benzin mit Ethanol betankt wird, läuft er nicht mehr wirklich gut. Mohammed kann inzwischen nicht mehr Fußball spielen.

Wahnsinnige Schmerzen

"Nach spätestens drei Wochen geht es buchstäblich an die Substanz", so Aschoff. Denn der Körper hat ein Ziel: Überleben. Dazu braucht er körpereigenes Eiweiß. Das holt er sich aus seinen Muskeln und Organen. "Starker Gewichtsverlust, Kachexie (körperlicher Verfall), manchmal Ödeme, Infektanfälligkeit, Anämie und weitere Ausfallerscheinungen treten zutage."

Hunger ist stechend, beschreibt Aschoff das Gefühl. Mohammed hat wahnsinnige Schmerzen, in den Knochen und im Kopf. Irgendwann kann er nicht mehr laufen, nur noch torkeln. Und er friert. Das macht der Hunger, auch bei den 34 Grad, die aktuell im Gazastreifen herrschen. Mohammed hat Todesangst, die signalisiert ihm sein Gehirn. Vielleicht ist er zwischendurch aggressiv, immer wieder traurig. Und er hört Stimmen in seinem Kopf. Das alles passiert bei niedrigem Blutzucker.

"Schreitet die Mangelernährung weiter voran, fangen lebenswichtige Organe an zu versagen", erklärt der Arzt. Er bekommt Krämpfe. Sein Herz schlägt unregelmäßig. Sein Körper kann Krankheiten nicht mehr abwehren. Seine Nieren versagen. Seine Leber auch. Sein Blut wird vergiftet. Sein Herz setzt aus. Mohammed ist tot.

Säuglinge sterben nach wenigen Tagen

Mohammed war ein erwachsener Mann. Sein Körper hatte Kraftreserven. Ein Erwachsener könne ohne Nahrung bis zu drei Monate überleben, so Aschoff. Das sind 85 Tage. Bei Kindern tritt der Hungertod schneller ein. Bei Säuglingen bereits nach fünf Tagen.

Auch wenn im Gazastreifen viele Menschen vor dem Hungertod gerettet werden sollten, dürfte es bei vielen Betroffenen Spätfolgen geben: Wachstumsprobleme bei Kindern, Menstruationsstörungen bei Frauen, Nieren- und Herzprobleme. Aber Lebensmittel und eine deutlich bessere medizinische Versorgung könnte vielen Menschen das Leben retten, sagt Aschoff: "Erfolgt eine leitliniengerechte medizinische Versorgung, wie wir sie bei Ärzte ohne Grenzen anbieten, können Menschen auch im fortgeschrittenen Stadium der Mangelernährung noch gerettet werden. Wenn man uns lässt."

Quelle: ntv.de

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