Wissen

Weniger müde und gelangweilt Natur macht Kinder glücklicher - aber nicht schlauer

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Der Waldkindergarten in Düsseldorf ist einer der ältesten dieser Art in Deutschland.

Der Waldkindergarten in Düsseldorf ist einer der ältesten dieser Art in Deutschland.

(Foto: imago / Lars Fröhlich / Funke Foto Services)

Kinder verbringen heute mehr Zeit in Innenräumen als früher. Waldkindergärten haben deshalb regen Zulauf. Doch wie wirkt sich ein naturnahes Bildungskonzept auf die Heranwachsenden und deren Entwicklung aus? Studienergebnisse geben Hinweise.

Ein Baumstamm liegt quer über einem kleinen Bach im Spessartwald. Eine Gruppe Kinder unterschiedlichen Alters balanciert hinüber. Zwei ältere Kinder und zwei Erwachsene haben ein Seil gespannt, an dem sich die Kinder beim Balancieren festhalten. Die Großen helfen den Kleinen. Der Bach ist nicht tief. Eigentlich könnten die meisten durchwaten. Aber die Kinder sollen lernen: Ich bin nicht alleine - Hürden können wir gemeinsam meistern.

Bei dem Utopiecamp genannten Zeltlager in Schollbrunn (Landkreis Main-Spessart) nördlich von Würzburg erlebt eine Kindergruppe im Sommer eine Woche lang die Natur. Die Kinder erfahren, dass sie nicht alle Lebensmittel im Supermarkt kaufen müssen. Sie sammeln Wildkräuter und Beeren und machen daraus gemeinsam Eis und Kräutersalz. Außerdem gestalten sie freie Zeit selbst aktiv. Beim Stromern im Wald finden sie einen Tierschädel, bauen Tipis aus Ästen, planschen im Wasser und erkunden, wie sie sich verhalten müssen, um nicht von Insekten oder Zecken gepiesackt zu werden.

"Der Maßstab einer gelungenen Bildung sollte sein, wie viel Begeisterung und Lernlust entstanden sind", meint der Initiator und Pädagoge Thomas Müller-Schöll. Wenn dies da sei, könne jeder Mensch ein Leben lang alles, das ihn interessiert, schnell erlernen. Naturerleben und Gemeinschaft sollen dabei helfen.

Naturbildung kann vieles sein

Kinder verbringen heute mehr Zeit in Innenräumen als früher. Manche Eltern überlegen daher, ob sie ihren Nachwuchs in einem Wald- oder Naturkindergarten oder einer alternativen Schule anmelden sollen. Lernen im Grünen kann es auch an herkömmlichen Schulen und Kitas geben: durch einen Schulgarten, Unterricht draußen oder Ausflüge in die Natur.

"Lernen in der Natur hat messbare Vorteile und sollte bei jedem Kind in das Schulerleben eingebaut werden", meinen die Autorinnen und Autoren eines im Magazin "Frontiers in Public Health" erschienenen Reviews von 2022 über Naturbildung für Kinder. Die Überblicksarbeit wertete Studien aus 20 Ländern aus. Schülerinnen und Schüler seien engagierter, und es gebe Anzeichen für Verbesserungen der akademischen Leistungen, der sozialen Fähigkeiten und des Wohlbefindens, lautet ein Fazit.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen australische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 2020 in einer anderen Überblicksarbeit über Angebote für Kinder im Grundschulalter: "Insgesamt zeigt Naturbildung positive Wirkung verschiedenen Ausmaßes auf unterschiedliche Lebensbereiche."

Glücklicher und motivierter

Das klingt zunächst eindeutig. Doch wer hofft, dass Kinder in klassischen Schulfächern wie Mathematik und Sprachen deutlich besser werden, wird vermutlich enttäuscht. Viele Projekte fokussieren - wie das Utopiecamp im Spessart - auf soziale Fähigkeiten und Wohlbefinden oder auf naturnahe Themen wie Wissen über Umweltschutz, Pflanzen, Tiere und Ernährung statt auf allgemeine kognitive Fähigkeiten oder Schulnoten.

Fast einhellig finden Studien positive Wirkungen auf Motivation, Wohlbefinden, soziale Fähigkeiten und Kreativität. Zu akademischen Leistungen sind die Ergebnisse wesentlich gemischter. Ein Review zum freien Spielen in der Natur ergab zwar positive Effekte auf die kognitive Entwicklung von Zwei- bis Zwölfjährigen.

Doch eine der im Review in "Frontiers in Public Health" zitierten Studien fand keinen Unterschied im Lernerfolg in klassischen Schulfächern verglichen mit einer Kontrollgruppe im Klassenraum. "Das lässt vermuten, dass Draußen-Unterricht die akademischen Leistungen weder behindert noch beschleunigt, aber das Wohlbefinden und Engagement der Schüler beeinflussen kann", schreibt das Team.

Ähnlich ist das Ergebnis einer Studie über ein dreimonatiges Waldschul-Projekt in Großbritannien: Die Waldkinder waren weniger müde und gelangweilt, ruhiger und glücklicher und kooperierten mehr. Aber das räumliche Denken war weder besser noch schlechter als bei einer Kontrollgruppe, die im Klassenraum geblieben war.

Datenlage ist eingeschränkt

Viele Studien zum Lernen in der Natur stehen methodisch auf schwachen Füßen. Etliche stellen zwar Verbesserungen fest - haben aber nicht gleichzeitig eine Kontrollgruppe von Kindern untersucht, die drinnen lernt, um beide Lernerfolge zu vergleichen. Außerdem werden oft nur Gruppen von wenigen Kindern beobachtet und manchmal Eltern oder Lehrpersonal befragt, statt die Fähigkeiten der Kinder tatsächlich zu messen.

Vor allem fehlt es an Studien, die Kinder über einen langen Zeitraum begleiten. Hinzu kommt, dass die Angebote und Formate der Naturbildung sehr unterschiedlich sind und sich oft nicht gut gemeinsam auswerten lassen. "Es bräuchte mehr Forschung, um die Bedingungen herauszufinden, unter denen Draußenlernen am effektivsten für verschiedene Lebensbereiche ist", heißt es in dem Review in "Frontiers in Public Health".

Waldkindergarten macht auch kreativer

Zu Waldkindergärten gibt es noch weniger Forschung als zum naturnahen Lernen unter Schulkindern. Doch tendenziell sind die Ergebnisse gleich. Bei drei- bis sechsjährigen Kindern zeigten sich laut einem Review positive Effekte auf Wohlbefinden, Bewegung, Schlaf, Neugierde und Kreativität - aber gemischte Ergebnisse, was die kognitive Entwicklung angeht.

Wobei das nur heißt, dass Natur nicht unbedingt besser für die kognitiven Fähigkeiten ist als Aktivitäten drinnen oder in Städten. Keine Studie stellte schlechtere Ergebnisse für die Naturkinder fest. Kinder aus Waldkindergärten scheinen demnach genauso gut auf die Grundschule vorbereitet zu sein wie Kinder aus Regelkindergärten.

Wichtige Fähigkeiten für das 21. Jahrhundert

Auf Bildungserfolg im klassischen Sinne wie bei PISA-Studien hat Lernen in der Natur vermutlich höchstens einen geringen Effekt. Dennoch sollten die "weichen" Fähigkeiten nicht unterschätzt werden, meinen manche Wissenschaftler. Kinder, die mithilfe der Natur gelernt haben, psychisch widerstandsfähiger zu sein, kreativer zu denken, motivierter zu arbeiten und besser mit anderen zu kooperieren, dürften für ihr späteres Leben inklusive ihres Arbeitslebens besser gewappnet sein.

"Draußen Lernen hat großes Potenzial, persönliche und soziale Kompetenzen zu entwickeln, die im 21. Jahrhundert als entscheidende Fähigkeiten in den meisten Berufs- und Lebensbereichen gelten", schreiben australische Forscher in einem Buch über das Draußenlernen.

Auch bei den Kindern des Utopiecamps im Spessart weiß niemand, ob die Naturwoche eine langfristige Wirkung hat. Die Kinder haben Spaß, kommen auf neue Spielideen, haben gelernt, mit Kindern verschiedenen Alters klarzukommen und unterstützen sich gegenseitig. Ob sie dadurch besser in der Schule werden oder später einen besseren Job bekommen, dürfte ihnen egal sein. Doch die meisten möchten im kommenden Jahr wieder beim Camp dabei sein.

Quelle: ntv.de, Vanessa Köneke, dpa

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen