UBA: "Kulturfolger des Menschen" Ratten sind viel besser als ihr Ruf
01.02.2025, 06:29 Uhr Artikel anhören
Eine Wanderratte (Rattus norvegicus).
(Foto: picture alliance / imageBROKER / Wilfried Martin)
Ratten sind in der Forschung weit verbreitet, doch ihr Wohlergehen wird oft vernachlässigt. In Deutschland werden 2023 mehr als 100.000 Ratten für Versuche getötet. Fachleute und Tierschützer fordern deshalb eine stärkere Berücksichtigung der Bedürfnisse der Nager.
Viele Menschen finden sie abstoßend, haben Angst vor ihnen oder vor Krankheiten, die sie übertragen könnten: Ratten stehen auf der Beliebtheitsskala des Tierreichs eher auf den hinteren Plätzen. Viele Forscherinnen und Forscher sind jedoch beeindruckt von den vielen Fähigkeiten der Nager und mahnen, ihre Bedürfnisse bei Tierversuchen stärker zu berücksichtigen.
Zunächst ein paar grundsätzliche Fakten: Stammform der als Haus- oder Labortiere gehaltenen Ratten ist die Wanderratte (Rattus norvegicus). Das Umweltbundesamt (UBA) bezeichnet die Tiere als Kulturfolger des Menschen, die sich weltweit verbreitet haben. Die Art sei kaum noch in naturbelassenen Räumen zu finden, selbst wenn der Mensch welche übrig gelassen habe.
Stattdessen halten sie sich demnach hauptsächlich in der Nähe menschlicher Siedlungen auf - etwa in der Kanalisation, Tierställen, Kellern, Parkanlagen, Schlachthöfen, auf Müllkippen, in Getreidespeichern, aber auch in Büro- und Wohngebäuden. Dabei leben sie in Rudeln, denn Ratten sind sehr soziale Tiere.
Ihre Lebensdauer ist überschaubar: "In der Regel wird eine wildlebende Wanderratte nicht älter als ein Jahr, unter sehr günstigen Bedingungen oder in Gefangenschaft können Ratten bis zu drei Jahre alt werden", teilt das UBA mit.
Die Ausbreitung der Ratten
Kürzlich veröffentlichte das Fachmagazin "Science" mehrere Artikel über Ratten. Schon die Einführung trägt den Titel "Unsere ständigen Nagetier-Begleiter". Denn im Gegensatz zu unzähligen anderen Tierarten ist die Wanderratte durch den Aufstieg des modernen Menschen weder verdrängt worden noch ausgestorben.
Ganz im Gegenteil: Stattdessen hat sie sich vermehrt und verbreitet, wie eine Gruppe um den Ökologen Jason Munshi-South von der Drexel University in Philadelphia in einem Überblicksartikel schreibt. Populationen von Wanderratten seien selbst innerhalb einzelner Städte zu groß für genaue Schätzungen.
Grundsätzlich stammt die Gattung Ratte (Rattus) demnach vermutlich aus Südostasien, von wo aus sie sich im Laufe der Jahrtausende ausbreitete. Domestiziert waren die Tiere nachweislich bereits um die Mitte des 17. Jahrhunderts in Japan, Rattenzucht ist in England und Frankreich seit dem frühen 19. Jahrhundert bekannt.
Für wissenschaftliche Versuche wurden Ratten in Nordamerika schon in den 1890er Jahren gezüchtet. Lange Zeit waren sie das meistgenutzte Versuchstier der Forschung, inzwischen liegen sie zahlenmäßig weit hinter der Hausmaus (Mus musculus domesticus) auf Platz 2.
Versuchsratten in Deutschland
Gleichwohl wurden allein im Jahr 2023 mehr als 100.000 Ratten nur in Deutschland als Versuchstiere verwendet. Das geht aus Zahlen des Deutschen Zentrums zum Schutz von Versuchstieren (Bf3R) hervor, das zum Bundesinstitut für Risikobewertung gehört. Demnach wurden in jenem Jahr mehr als 47.000 Ratten für wissenschaftliche Zwecke getötet. Mehr als 15.000 weitere seien getötet, aber nicht zu Versuchszwecken verwendet worden.
Tierversuche sind gesellschaftlich umstritten - und können im Detail sehr unterschiedlich ablaufen. So werden laut einer Sprecherin des Deutschen Tierschutzbundes beispielsweise Risiken von Chemikalien getestet, indem diese den Tieren - teils über längere Zeiträume - verabreicht werden. Solche Versuche seien mit am grausamsten, da die Tiere gezielt Stoffen ausgesetzt würden, die mitunter gefährlich oder giftig seien. Dabei könne es zu Verätzungen, Atemnot, Lähmungserscheinungen, Organversagen oder Blutungen kommen.
Tierschutzbund für tierversuchsfreie Methoden
Als sogenannte Krankheitsmodelle werden Tiere laut der Sprecherin etwa künstlich infiziert oder verletzt, um Symptome zu erzeugen, die denen der jeweiligen Erkrankung beim Menschen ähneln. Auch Therapien werden - bevor man sie an Menschen erprobt - an Tieren getestet.
Zwar hätten Tierversuche in der Vergangenheit zu Fortschritten in Medizin und Biologie beigetragen, heute gibt es laut Tierschutzbund aber auch aussagekräftigere tierversuchsfreie Methoden. Diese könnten Verbraucher- und Umweltschutz sicherstellen und Tierleid vermeiden, etwa durch im Labor nachgezüchtete Organe.
Ein wirtschaftlich günstiges Versuchstier
Dass die Wanderratte in Massen als Versuchstier genutzt wird, liege unter anderem an ihrer schnellen Vermehrungsfähigkeit, schreibt eine Gruppe um Gail Davies von der englischen Universität Exeter in "Science". Ein Weibchen kann laut UBA bis zu sechsmal im Jahr durchschnittlich jeweils acht Junge zur Welt bringen, die nach zwei Monaten geschlechtsreif werden und sich dann selbst fortpflanzen können. Dies - in Verbindung mit ihrer geringen Größe und guten Anpassungsfähigkeit - mache die Tiere ökonomisch zu einem günstigen Versuchstier, schreibt das Team um Davies.
Zudem spiele der schlechte Ruf der Ratte eine Rolle: Bisher würden die Nager von der Gesellschaft vorwiegend als Schädlinge angesehen. Daher stehe ihr Wohlergehen an deutlich niedrigerer Stelle als das der als viel charismatischer geltenden Katzen und Hunden, heißt es weiter. Das belege eine 2018 in Großbritannien durchgeführte Umfrage: Demnach hielten 47 Prozent der Befragten Experimente an Ratten für akzeptabel, bei Hunden und Katzen waren es nur 13 Prozent.
Auch politisch seien Ratten benachteiligt worden, beispielsweise durch ihren Ausschluss aus dem Tierschutzgesetz in den USA 1966. Überdies hätten sich Tierschützer in ihren Aktivitäten eher auf Primaten und Haustiere fokussiert, weniger auf Ratten, so Davies und Kollegen.
Sie plädieren in ihrem Artikel für eine "Kultur der Fürsorge" rund um das Wohlergehen von Labortieren. In der Praxis - so räumen sie ein - sei das Tierwohl in der Forschung weniger abhängig von einzelnen Forschenden, sondern vielmehr von institutionellen Strukturen und Organisationen. "Kurz gesagt ist es die allgemeine Regel, dass wissenschaftliche Erfordernisse oft Vorrang vor dem Wohlergehen der Tiere haben", schreibt die Gruppe.
Ratten gelten als intelligent und sozial
Für ein verstärktes Augenmerk auf das Wohl der Tiere plädiert auch die Neurowissenschaftlerin Inbal Ben-Ami Bartal von der Universität Tel Aviv. Demnach sind Ratten nicht nur intelligent, sondern auch zu ausgesprochen sozialem Verhalten fähig. Sie seien etwa empathisch, könnten sich also in andere hineinversetzen. So zeigen Studien, dass die Tiere Artgenossen in Not gezielt helfen können.
Doch was folgt aus dem Wissen über die großen kognitiven und emotionalen Fähigkeiten der kleinen Tiere? Bisher seien bei Ratten vermehrt Schmerz, Angst und Aggression untersucht worden, nicht aber positive Emotionen wie Verspieltheit, Beharrlichkeit, Hilfsbereitschaft oder Mut - obwohl diese durchaus mit derartigen Eigenschaften bei Menschen vergleichbar seien.
"Als hochgradig soziale Tiere erleben Ratten negative und positive Gemütszustände, die direkt mit ihrer sozialen Umgebung zusammenhängen", schreibt Bartal. Generell solle man ethische Betrachtungen stärker berücksichtigen als bisher, mahnt die Forscherin. Davon profitiere auch die medizinische Forschung. Denn die Umstände der Rattenhaltung könnten die Ergebnisse von Versuchen beeinflussen und verfälschen. Es werde zunehmend anerkannt, dass auch bei Ratten die psychische Gesundheit den Organismus beeinflusse.
Daher solle man etwa soziale Isolation und unangenehme Gerüche vermeiden und mehr Rücksicht auf die Bedürfnisse der Tiere nehmen - etwa durch größere Käfige und eine anregende Umgebung. "Die Ratte ist ein unbesungener Held wissenschaftlicher Entdeckungen und ein komplexes Tier", schreibt die Hirnforscherin. "Dies wirft die Frage auf, ob wir - obwohl Ratten zweifellos viel für die Menschheit tun - genug für Ratten tun?"
Quelle: ntv.de, Marco Rauch, dpa