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Kein Medikament ohne Tierversuch "Die Alternative wären Menschenversuche"

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Vor allem Mäuse werden als Versuchstiere genutzt, sie machen etwa 72 Prozent aus.

Vor allem Mäuse werden als Versuchstiere genutzt, sie machen etwa 72 Prozent aus.

(Foto: picture alliance/KEYSTONE)

Tierversuche sind umstritten. Das Leid der Tiere steht der wissenschaftlichen Erkenntnis gegenüber: Alle Medikamente basieren auf Experimenten mit Tieren. Zwar gibt es schon Alternativen - kurzfristig können sie Tierversuche aber nicht ersetzen.

Tierversuche sind so alt wie unsere westliche Medizin. Experimente gab es schon im antiken Griechenland. Nahezu alle Medikamente, die es heute gibt, wurden mithilfe von Tierversuchen entwickelt. Durch sie wurden Antibiotika, Insulin und Impfstoffe erarbeitet - und auch Therapien oder chirurgische Eingriffe.

Corona-Impfstoffe zum Beispiel würde es heutzutage ohne Tierversuche nicht geben: "Die Entwicklung dieses Impfstoffs und dass der so schnell zur Verfügung stand, basiert auf Tierversuchen, die schon vor vielen Jahren stattgefunden haben, aus grundlagenwissenschaftlichen Fragestellungen. Dieses Grundlagenwissen war notwendig, um so schnell einen Impfstoff zu entwickeln", sagt Christa Thöne-Reineke, Professorin für Tierschutz, Tierverhalten und Versuchstierkunde an der Freien Universität Berlin, im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".

In Deutschland werden Tierversuche hauptsächlich in der Grundlagenforschung durchgeführt, der Anteil liegt laut den aktuellsten Zahlen des Deutschen Zentrums zum Schutz von Versuchstieren (Bf3R) bei 56 Prozent. In der Grundlagenforschung gehe es darum, "Organismen und die Entstehung von bestimmten Erkrankungen besser zu verstehen, um dann gute Ansätze für neue Therapien zu entwickeln", erklärt Thöne-Reineke.

Tierversuche für Kosmetik verboten

Tierversuche werden zudem genutzt, um Krankheiten wie Krebs zu erforschen. An Tieren wird auch getestet, wie giftig Chemikalien sind. Genversuche mit Tieren, wie das Klonen, fallen darunter, genauso die Tiermedizin.

Tierexperimente sind auch ein wichtiger Bestandteil in der Ausbildung von Tierärzten: An lebenden Tieren üben die Studierenden Untersuchungen und Eingriffe. Zusätzlich werde in der Veterinärmedizin an der Freien Universität Berlin aber auch an Videomaterial, Fallbeispielen und künstlichen Plastikmodellen geübt, macht die Professorin deutlich.

In anderen Bereichen sind Tierversuche in der EU dagegen verboten. Zum Beispiel bei der Entwicklung von Kosmetik- und Hygieneprodukten oder in der Rüstungsforschung. Es gibt aber Schlupflöcher: Das Verbot von Tierversuchen in Make-up, Shampoo und Co. gilt nur für Inhaltsstoffe, die ausschließlich in Kosmetik verwendet werden. Stoffe, die für einen anderen Zweck entwickelt wurden, fallen unter das Chemikaliengesetz und dürfen an Tieren getestet werden.

Medikamente immer an Tieren getestet

Wer neue Medikamente entwickelt, kommt um Experimente mit Tieren aber nicht herum, sie sind gesetzlich vorgeschrieben. Es wird Nebenwirkungen erforscht und ob die Präparate wirken. Tierversuchsfreie Medikamente gibt es nicht. "Da jeder medizinische Fortschritt und fast alle Nobelpreise, die im Bereich Physiologie und Medizin vergeben wurden, auf Tierexperimenten beruhen, wird in absehbarer Zeit nicht komplett darauf verzichtet werden können", sagt Thöne-Reineke im Podcast.

Wer in Deutschland Tierversuche durchführen möchte, muss diese sie bei den zuständigen Behörden der Bundesländer beantragen und genehmigen lassen. Die Wissenschaftler müssten dann unter anderem die wissenschaftliche Notwendigkeit und die ethische Vertretbarkeit darlegen. "Wenn es eine Alternativmethode gibt, dann darf der Versuch gar nicht durchgeführt werden", so die Tierversuchs-Expertin.

Nach Recherchen des NDR gab es in den vergangenen zwei Jahren auch vereinzelt illegale Tierversuche in deutschen Laboren, in 9 von 16 Bundesländern. Die meisten in Niedersachsen. Illegal bedeutet in diesem Fall, dass die Versuche teils ohne Genehmigung durchgeführt wurden. Und, dass sie oft anders abliefen, als genehmigt. Die Tiere wurden zum Beispiel in zu kleinen Käfigen gehalten, oder es wurden mehr Tiere getötet als erlaubt.

Nagetiere und Fische an der Spitze

Die Zahl der Versuchstiere sind in den vergangenen Jahren gesunken: 2021 wurden laut den Zahlen des Bf3R 1,8 Millionen Tiere für Versuche eingesetzt. Das sind weniger als noch in den Jahren davor. 80 Prozent davon waren Nagetiere, vorwiegend Mäuse und Ratten, aber auch Fische machen immerhin etwas mehr als 12 Prozent aus. Selbst Hunde werden vereinzelt für Versuche benutzt. Rund 644.000 Tiere wurden getötet, um ihre Organe und Gewebe zu untersuchen, 2 Prozent mehr als 2020.

Ein Argument, das immer wieder von Tierversuchs-Kritikern kommt: Die Ergebnisse seien kaum auf den Menschen übertragbar. Die Tierschutzorganisation Peta zum Beispiel argumentiert, dass 95 Prozent der neuen Medikamente, die im Tierversuch für wirksam und sicher befunden wurden, niemals auf den Markt kommen. Für sie ist das ein Beweis, dass Tierversuche aus wissenschaftlichen Gründen nicht sinnvoll sind.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) dagegen schreibt, 70 Prozent der unerwarteten Nebenwirkungen von Medikamenten könnten in Tiermodellen herausgefunden werden. "Diese kommen erst gar nicht zum klinischen Einsatz am Menschen", erläutert Thöne-Reineke. Klar sei, dass eine winzige Maus oder eine Ratte nicht mit einem 75 Kilogramm schweren Mensch vergleichbar sei. "Aber es gibt eine große genetische Übereinstimmung, mehr als 95 Prozent."

Weniger Tierversuche angestrebt

"Wieder was gelernt"-Podcast

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Die DFG umschreibt es als ein Dilemma: Der Erkenntnisgewinn für die Menschen sei mit der Belastung von Tieren verbunden. Auch Thöne-Reineke sieht im "Wieder was gelernt"-Podcast keinen Ausweg: "Wenn wir jetzt sagen würden, wir verzichten darauf, wollen aber weiterhin die gleiche Sicherheit, dann bedeutet das, dass wir Tierversuche nicht mehr selbst machen, sondern dass sie woanders gemacht werden. Wenn wir jetzt komplett auf Tierversuche verzichten, dann machen wir letztlich Menschenversuche."

Tierversuche sind in Europa schon seit den 1980er-Jahren in einer EU-Richtlinie geregelt. Darin steht, dass die Mitgliedstaaten von Tierexperimenten wegkommen wollen. Es gelten die drei Grundsätze Replacement, Reduction und Refinement: Tierversuche ersetzen und Methoden nutzen, in denen Tiere weniger leiden oder in denen weniger Tiere benötigt werden. Die EU-Mitgliedsstaaten müssen demnach Alternativmethoden fördern.

Solche gibt es bereits: Wissenschaftler forschen mit gezüchteten Zellen, an künstlicher menschlicher Haut oder Computersimulationen. Forscher können auch schon einzelne Organe wie Nieren oder Leber in Miniaturform nachbauen - Organoide in der Fachsprache. Ein Forscherteam aus Südkorea und Großbritannien hat an Mini-Lungen aus menschlichem Lungengewebe erforscht, wie das Coronavirus die Lunge infiziert.

"Man braucht eine Batterie von Alternativmethoden"

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Die eine spezielle Alternativmethode, welche einen gesamten Tierversuch ersetzen kann, gibt es nicht, weiß die FU-Professorin. "Man braucht immer eine ganze Batterie von verschiedenen Alternativmethoden, weil diese Modelle nur Teilaspekte abdecken." Seit einigen Jahren werde sehr viel Geld in die Hand genommen, um Alternativmethoden voranzubringen, bisher vorwiegend in der Toxikologie, jetzt auch in der Grundlagenforschung.

Bis diese Alternativen zu Tierversuchen etabliert sind, kann es Jahrzehnte dauern. Die Zulassung der Methoden ist langwierig, kritisiert auch Thöne-Reineke.

Wenn Wissenschaftler eines Tages das Zusammenspiel von mehreren Organen im Blutkreislauf und dem Immunsystem nachbauen können, wie in echten Lebewesen, könnte das Tierexperimente ersetzen. Versuchstiere werden also noch lange ein wichtiger Baustein der Wissenschaft bleiben.

Quelle: ntv.de

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